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Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen


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von seinem Vater, wie schön es früher mit ihm war und wie schwierig es jetzt sei. Er stellte Vergleiche an zwischen mir und seinem Vater: »Der ist älter als du, hat auch ältere Zähne, aber er kennt sich viel besser aus mit handwerklichen Dingen, der hätte schon längst deinen Holzboden repariert.« Zur nächsten Sitzung drängte sich die Mutter wieder in die Stunde, sie wolle dabei sein, Anatol sei in der Schule wieder so auffällig. Anatol wollte aber nicht in ihrer Gegenwart sprechen. Wir vereinbarten wieder ein Elterngespräch. Anatol war erleichtert. Er weinte viel in der Stunde. »Ich weiß auch nicht, warum ich so viel weinen muss«, sagte er. Lange sprachen wir darüber, was ihn alles zum Weinen brachte. Wir gaben seinen Tränen gemeinsam eine Sprache. Inzwischen wurde das Setting nicht mehr infrage gestellt, zusätzlich zu den regelmäßigen Einzelsitzungen kamen in dieser Phase verstärkt Muttergespräche, vereinzelt auch gemeinsame Elterngespräche hinzu. Die familiäre Situation schien sich wieder einmal entspannt zu haben.

      Zu einem gemeinsamen Elterngespräch kam die Mutter chic angezogen, der Vater im Arbeitsgewand. Der Vater sei derzeit trocken, erzählten beide stolz. Anatol habe weniger Angst, in der Schule gebe es auch weniger Klagen.

      Wieder verletzte sich Anatol, diesmal am Fuß. Er könne sich nur mühsam fortbewegen, sagte er. In der gleichen Stunde erzählte er mir, dass seine Mutter gesagt habe, die Stunden bei mir könnten nicht ewig dauern.

      In einem weiteren Elterngespräch vereinbarten wir, nach dem Sommer ein verändertes Setting zu erproben. Anatol solle nur noch alle zwei Wochen kommen. Er war damit einverstanden. Als wir kurz vor Weihnachten eine neuerliche Stundenreduzierung und ein Therapieende überlegten, verletzte er sich bei einem Sturz auf dem Eislaufplatz. Er wurde an der Lippe genäht, war beim Sprechen eingeschränkt, sein Gesicht war geschwollen und er hatte wieder einen Gips, dieses Mal an der linken Hand. Die Verletzungsdichte während der letzten Monate war auffallend hoch. Nach Weihnachten stellte sich die familiäre Situation wie folgt dar: Anatols Mutter hatte die Scheidung eingereicht, Anatols Vater suchte eine neue Wohnung, die groß genug sein sollte, dass auch Anatol ein Zimmer bei ihm bekäme. Anatols Vater hatte eine medikamentöse Therapie begonnen, von der er sich dauerhafte Abstinenz versprach. Im März war es dann so weit: Der Vater zog in seine neue Wohnung. Die Mutter und Anatol lebten weiter in der alten Wohnung. Die Einzeltherapie wurde bis zu den Sommerferien durchgeführt. Anatol verletzte sich in dieser Zeit nicht mehr. Das Therapieende wurde vereinbart. Zu einem abschließenden Elterngespräch kam die Mutter alleine. Ich zitierte den früheren Satz der Mutter: »Anatol ist komisch, aber die Situation zuhause ist komisch.« Die Mutter erinnerte sich und veränderte den Satz: »Anatol ist nicht mehr komisch, aber die Situation war wirklich komisch, nun ist einiges klarer!« Die Angst sei weniger stark bei Anatol, insgesamt sei er viel selbstbewusster geworden, er störe nicht mehr den Unterricht, insgesamt gäbe es deutliche Verbesserungen, meinte sie. Auch die Bauchschmerzen seien verschwunden, ferner die Kopfschmerzen. Was sei wichtig gewesen, fragte ich nach. Wichtig sei die dringende Empfehlung der Kollegin zur Psychotherapie gewesen. »So haben wir uns überhaupt erst kennengelernt.« »Und natürlich die eigene Psychotherapie«, ergänzte sie. »Dies war wie eine Kette von Personen, die hilfreich waren.« Auch bei ihr habe sich einiges verändert. Sie habe Anatol früher öfters geschlagen, gestand sie nun, das habe sie schon länger nicht mehr gemacht. Sie verstünde ihn nun besser und habe mehr Geduld mit ihm. Die Trennung vom Vater Anatols sei auch erst jetzt möglich gewesen. Zu viel Angst hatte sie, alleine zu leben mit ihrem Sohn. Die Mutter saß mir gegenüber mit einem T-Shirt, auf dem gedruckt stand: Love, honor and respect. Am Ende des Gesprächs sprach ich sie auf dieses T-Shirt an und sagte ihr, dass ich viel Respekt vor ihr und ihrem Mut hätte, ihr Leben und das ihres Sohnes zu verändern. Am nächsten Tag kam Anatol zu seiner letzten Therapiestunde. »Hallo Anatol, dies ist heute unsere letzte Therapiestunde.« »Ja, ich bin traurig«, sagte er und tatsächlich hatte er Tränen in den Augen. Er erzählte mir vom Therapiebeginn, als er mich kennenlernte, er sprach nochmals von seiner Angst. »Weißt du, damals hatte ich sogar Angst hierher zu kommen, obwohl es hier so gut ist bei dir. Ich hatte sogar Angst vor mir selbst, vor allem Angst vor meinen eigenen Gedanken.« Wir saßen gemeinsam auf dem Sofa, er erzählte von seinen Urlaubsplänen. Er wolle mit seinem Vater auf eine Fahrradtour gehen. Er gewöhne sich auch langsam daran, dass er jetzt zwei Zimmer mit zwei Betten und zwei Kleiderschränken habe. »Weißt du, das hat auch Vorteile, die Mama ist immer so pingelig und beim Papa kann ich auch mal was liegenlassen, der hält das gut aus.« Sein Vater sei seit längerer Zeit wieder abstinent, aber inzwischen fühle er sich nicht mehr verantwortlich, das sei wirklich Sache seines Vaters. »Wenn mein Vater das Trinken aufhören will, dann soll er das tun, aber nicht für mich, sondern für sich«, sagte Anatol selbstbewusst. Als nun der endgültige Abschied gekommen war, fragte er mich, ob er mir schreiben dürfe oder sogar später einmal wiederkommen, wenn es ihm mal nicht so gut gehe. »Werden wir uns wiedersehen?«, fragt er mit Tränen in den Augen. Dann lächelte er plötzlich und sagte: »Vielleicht rufe ich dich ja mal später an, wenn ich erwachsen bin und Krach mit meiner Frau habe, dann kannst du mir sicher einen Rat geben, oder?« »Du darfst mich gerne wieder anrufen, auch wenn du keinen Krach mit deiner Frau hast, ich freue mich, von dir zu hören.«

      Die Suchterkrankung des Vaters hatte starken Einfluss auf das Familiensystem und auf das psychische Wohlbefinden des Kindes, was in der Fallbeschreibung schnell deutlich wird. Die Abhängigkeit Anatols von den guten und schlechten Phasen des Vaters einerseits und denen der Eltern in ihrer Paarbeziehung andererseits wurde spürbar und wirkte unmittelbar in den Therapieprozess hinein. Hört der Vater nun auf zu trinken oder nicht? Bleiben die Eltern zusammen oder trennen sie sich? Auf diese beiden Fragen gab es keine klaren Antworten. Diese Ambivalenzen der Erwachsenen auszuhalten, war Teil der Therapie. Oftmals blieb ich wie Anatol mit einem Gefühl der Verwirrung, Orientierungslosigkeit und Erschöpfung zurück. Schließlich gab er mir die Rolle des Anwalts, somit brauchte er selbst nicht mehr Anwalt des Vaters und der schwierigen Beziehung seiner Eltern zu sein. Er konnte sich allmählich distanzieren, seine Überforderung und seine Ängste wurden weniger.

      Das Thema Alkoholismus war von Anfang an benannt. »Mein Vater säuft« – mit diesen Worten begann Anatol unsere erste gemeinsame Sitzung. Seiner Mutter kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zu. Laut einer Untersuchung von Kösten4 verleugnet meist der nicht-trinkende Elternteil das Alkoholismusproblem des anderen Elternteils, Alkoholismus wird somit zur Krankheit namens Verleugnung. Dabei haben die Kinder von Alkoholikern wesentlich bessere Prognosen, selbst nicht Alkoholiker zu werden, wenn die Krankheit benannt wird und im Idealfall durch erfolgreiche Psychotherapie behandelt wird. Wie schwierig dies allerdings ist, zeigt sich beim Vater von Anatol. Er war anfangs sehr bemüht, konnte jedoch sein Engagement nicht konsequent durchhalten. Er kam im Gegensatz zu seiner Frau nicht regelmäßig zur Elternarbeit. Gründe dafür waren zum einen, dass er es nicht immer wollte, zum anderen, dass seine Frau es nicht wollte und auch, dass ich es als Therapeut nicht immer wollte. Ich muss mich selbst aus heutiger Sicht kritisch fragen, ob ich den Kontakt mit ihm phasenweise vermied, etwa in den Zeiten seiner Rückfälle. Und trotzdem: Es gab innerhalb der Therapie mit Anatol immer wieder Momente, in denen es gelang, den Vater positiv zu besetzen. So war unser Bemühen, ein realistischeres Bild des Vaters zu zeichnen, das neben den problematischen Seiten auch die guten Seiten zulassen konnte, gelungen. In Kindertherapien wirkt das Vaterthema viel unmittelbarer und direkter als später in Erwachsenentherapien. Wenn es nicht gelingt, unmittelbar mit dem Vater zu arbeiten, so ist es doch entlastend, diese Interaktion zwischen Vater und Sohn innerhalb der Therapie zu thematisieren. Dem Therapeuten kommt dabei die Rolle des Übersetzers, oder in Anatols Worten, die Rolle des Anwalts zu. In all den Therapiephasen, in denen der Vater thematisch auftaucht, in den Spielen, in Nebensätzen, in Übungen und Imaginationen, versuche ich den Vater positiv zu konnotieren, ihn dem Kind verständlicher zu machen. So gehen wir den Weg gemeinsam mit dem Kind und sprechen die Sprache, die das Kind versteht. Im Sinne Oaklanders geht es um eine Stärkung des Selbst. Anatol sollte lernen, sich selbst besser zu verstehen, vor allem seine Ängste besser in Sprache zu übersetzen, was ihm auch gut gelang. Er war sehr früh gezwungen, Verantwortung für seine Eltern, vor allem den Vater zu übernehmen, in diesem schwierigen Umweltfeld war er überfordert. Indem er diese Überforderung erkannte und sich davon distanzierte (»Wenn mein Vater das Trinken aufhören will, dann soll er das tun, aber nicht für mich, sondern für sich.«), hatte er wieder die Chance, sich altersadäquat zu entwickeln.

      Nachtrag: