Группа авторов

Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen


Скачать книгу

Fallbeispiele illustriert wird.

      Dieser Überblick verdeutlicht den breiten Rahmen, innerhalb dessen Gestalttherapeutinnen sich mit Kindern und Jugendlichen befassen und eine eigenständige Spezialisierung entwickelt haben. Diese Spezialistinnen entlasten Eltern und Pädagoginnen und arbeiten oft in Helferteams zur Unterstützung der Entwicklungs- und Genesungsprozesse betroffener Familien und größerer Systeme.

      Gerade in Zeiten, in denen der Individualismus (Wheeler 2006) und die Vereinzelung von Kindern und Jugendlichen kritisiert werden, liegt eine wichtige gesellschaftspolitische Antwort in der Förderung von Verbundenheit und Zugehörigkeit (Polster 2009). Diese muss erlernt und geübt werden. Gerade wenn Eltern und Lehrerinnen an ihre Grenzen stoßen, brauchen wir noch mehr Psychotherapeutinnen für die Kinder und Jugendlichen.

      Die Gestalttherapie war ursprünglich vor allem eine Gruppentherapie, somit liegt es nahe, an diese Tradition anzuknüpfen und auch für Kinder und Jugendliche mehr entsprechende Angebote zu schaffen. Die flächen- und bedarfsdeckende psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen wie auch die Erwachsener lässt jedoch noch zu wünschen übrig.

      Wir wünschen uns, dass die vorliegenden Texte orientieren, inspirieren und motivieren mögen, die Theorieentwicklung in der Gestalttherapie weiter voran zu treiben. Und auch, dass möglichst viele Kolleginnen die eine gestalttherapeutische Weiterbildung absolvieren,2 sich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu widmen und so dazu beitragen, die benötigte Grundversorgung mit zu sichern.

      Mit Bedauern mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass wir zum Thema Sexualität und zu Gender keine Texte bekommen konnten.

      Wir danken allen Autorinnen von ganzem Herzen.

      Heide Anger / Thomas Schön

1. Teil Die Entwicklungsperspektive der Gestalttherapie

      Wolfgang Wirth

      Entwicklungsbewegungen der Gestalttherapie

      1. Implizite Entwicklungstheorien der Gestalttherapie

      Menschliche Entwicklung ist ein vielschichtiger Prozess. Dieser Prozess kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Dieser Artikel ist eine subjektive Auswahl von Einflussthemen für eine gestalttherapeutische Entwicklungstheorie, die in einer Überblicksarbeit nur kursorisch betrachtet werden können. Innerhalb der Gestalttherapie sind unterschiedliche Entwicklungsvorstellungen in impliziter Form wirksam. Sie sollen im Folgenden exemplarisch herausgearbeitet und explizit gemacht werden. Im Anschluss wird ein an der aktuellen Entwicklungsforschung orientiertes Modell von Entwicklung vorgestellt. Darüber hinaus wird es jedoch notwendig sein, die Vielzahl an Entwicklungssträngen zu bündeln, um zu einer aktuellen gestalttherapeutischen Perspektive von Entwicklung zu gelangen.

      1.1 Lore Perls

      Entwicklung ist bei Lore Perls besonders durch das Kontakt-Support Modell geprägt (Votsmeier 2005, Amendt-Lyon 2005). »Kontakt ist nur möglich, wenn genug Stütze vorhanden ist und wir lernen uns selbst zu stützen (Amendt-Lyon 2005, S. 6)«. Laura Perls steht für ein eher auf Bindung und Verbindung (»Commitment«, Perls 1989) sowie ein sensibles Wechselspiel zwischen Kontakt und Stützung ausgerichtetes therapeutisches Vorgehen. Dieser Ansatz erscheint sehr vielversprechend innerhalb der Gestalttherapie, besonders für die Therapie mit Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Menschen, die Entwicklungstraumata erfahren haben. Ein weiteres Element entwicklungspsychologischen Denkens ist Lore Perls Betonung der »respons-ability«, der Fähigkeit, eine Reaktion oder Antwortbereitschaft auf spezifische Feldbedingungen herzustellen. Dieses Prinzip findet sich in Teilen im Konzept der Feinfühligkeit von Ainsworth wieder als wechselseitiges Antwortverhalten (Reziprozität). Wichtig ist auch Laura Perls Commitmentkonzept, das im Deutschen mit Bejahung, Verbindlichkeit, Verbundenheit und Gemeinschaftlichkeit beschrieben werden kann. Das Praktizieren von Commitment, von Gemeinsamkeit und Verbundenheit, ist das dialektische Gegenstück zu Fritz Perls’ Superautonomie, welches sich auch im realen Leben der Perls abbildete.

      1.2 Fritz Perls

      Perls veröffentlichte 1947 »Das Ich, der Hunger und die Aggression«. Es ist problematisch, dieses Werk Fritz Perls alleine zuzuschreiben, da Lore Perls in dem Film »Leben an der Grenze« (2005) ihren Anspruch auf Mitautorschaft deutlich gemacht hatte und äußerte, dass Fritz einige der von ihr ausgearbeiteten Kapitel und aufgezeichneten Kinderbeobachtungen verfertigte, ohne sie als Mitautorin zu nennen. Daher werden zumindest die Beobachtungen zur dentalen Aggression Lore Perls mit zugeschrieben. Die Perls (1947) betonen die gleichwertige Bedeutung des Hungertriebes für die Ich-Entwicklung des Kindes im Gegensatz zu der von Freud postulierten Dominanz des Genitaltriebes und der Libidotheorie. Die Perls (1947, S. 92) sind vor allem mit der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse beschäftigt und stellen in Abgrenzung zu Freud folgende Entwicklungsabfolge auf: Bereits im Fötus entwickle sich ein alimentäres und ein urogenitales System. Assimilation und Entleerung werden als normale, lustvolle Aktivitäten angesehen, die keiner weiteren sexuellen Aufladung bedürfen. Darüber hinaus stellen die Perls fest: »Eine Neurose (…) ist eine Störung der Entwicklung und der Anpassung. Neurosen sind das Ergebnis eines Konfliktes zwischen Organismus und Umwelt. Sie kritisieren die Verwendung des Libidobegriffs als aufgebläht, ungenau, vieldeutig in verschiedensten Kontexten.« (1947, S. 89) Die Perls schließen sich Rank (1924) an, wenn sie schreiben: »Die Geburt ist die ursprüngliche Trennung, die das Kind erleiden muss.« (1947, S. 94) Sie sehen das Kind z.B. im Spiel immer in einem Feldkontext: Ein Kind, das einen Löwen spielt, ist ein Löwe, und es kann von seinem Spiel so in Anspruch genommen sein, dass es wütend wird, wenn man es ins Alltagsleben zurückruft.

      1.3 Paul Goodman

      Paul Goodman haben wir vielleicht den wichtigsten Entwicklungsgedanken zu verdanken, nämlich das Streben nach dem Eigenen im Gegensatz zum Entfremdeten in einer entfremdeten Welt. »Das Heranwachsen erfordert wie jede andauernde Funktion angemessene Ziele in der Umwelt, die den Bedürfnissen und Fähigkeiten des heranwachsenden Kindes, des Buben, des Jugendlichen und des jungen Mannes entsprechen, bis er selbst wählen und seine eigene Umwelt gestalten kann.« (Goodman 1960, S. 44) Bei der Suche nach dem Eigenen ist die kreative Selbstverwirklichung im Vordergrund und Hintergrund das treibende Motiv. Es sind das Herausfinden der inneren Wirklichkeit und die Entwicklung im ureigensten Sinne, die als ein Ausrollen des noch nicht geschriebenen Urtextes unserer Selbst, unserer Seele, der erst durch diesen Akt festgelegt wird, begriffen werden. Entwicklung ist in diesem Sinne der suchende und durch eine hohe emotionale Übereinstimmung gefundene Schritt in die eigene Gegenwart, Zukunft und Selbstbestimmung. Diese innere Stimmigkeit mit dem äußeren Tun kennzeichnet das Eigene. Es ist auch das Programm der Selbstverwirklichung, das hier inkorporiert ist, allerdings mehr in dem konzentrierten In-sich-Hineinspüren und Aus-sichheraus-Handeln. Dieses Handeln besteht bei Goodman in äußeren Aktivitäten, im Einfordern von gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welche die jeweilige Entwicklung des Eigenen ermöglichen und fördern. Dies wird auch in zahlreichen politischen Schriften Goodmans deutlich. In dem Konzept des Eigenen, der Selbstverwirklichung, dem Überwinden von Entfremdung und Selbstbestimmung ist allerdings immer auch der oder die andere/n mitgedacht. Dies sind die Gesellschaft oder die Familie, welche ihr Anderes wollen und dem Eigenen in die Quere kommen, bis hin zur weitgehenden Fremdbestimmung, bei der das Eigene gar nicht mehr gespürt, sondern vergessen wurde, und dieser Verlust nur noch in einer unterschwelligen stumpfen Unzufriedenheit wahrnehmbar bleibt. Das Eigene hat zwei Seiten. Introspektiv betrachtet ist es die Stimmigkeit mit den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Zielen. Je höher diese Übereinstimmung, desto befriedigender ist für uns unsere Selbstverwirklichung. Von Außen betrachtet kann das Eigene – um einen Anschluss an die aktuelle akademische Entwicklungsforschung zu leisten – als eine stärkere Gewichtung der angeborenen, genetischen Faktoren angesehen werden. Je mehr wir, soweit dies aufgrund der gesellschaftlichen Bedingungen möglich ist, das wählen, was uns entspricht, desto stärker schaffen wir wiederum eine Entwicklungsumgebung für das, was uns entspricht. In gegenseitigem Wechselspiel differenzieren und entwickeln wir zunehmend das Eigene durch das Mitentwickeln