nie ein Thema in der Organisation eines Gymnasiums. Warum auch, schließlich findet das Lernen ja, genau besehen, gar nicht in der Schule statt. »Gelernt« wird aus gymnasialer Sicht vor allem beim Erledigen von Hausaufgaben und bei der Vorbereitung auf Prüfungen, also außerhalb der Schule. Innerhalb wird gelehrt. So der Alltag. Ich plädiere mit meinen Überlegungen für einen Blickwechsel, zu dem mich die Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler in den letzten sieben Jahren bewegt haben:
»Sie nehmen mit ihrer Unterrichtsform stärker Bezug auf das eigenständige Arbeiten der Schüler. Das finde ich natürlich gut, muss aber sagen, dass diese Unterrichtsart an dieser Schule, als einziger Lehrer, leider nicht umsetzbar ist. Zu stark befinden wir uns in der gewöhnlichen Unterrichtsform.« (Klassenstufe 12)
»Für mich war es anfangs schwierig, mich an den neuen Unterrichtsstil zu gewöhnen. In den meisten anderen Fächern diskutiert man relativ selten, und auch die Selbstständigkeit wird wenig gefördert, was bei ihnen ganz anders war.« (Klassenstufe 12)
»Weil die ganze Klasse den Unterricht gestaltete, war es sehr abwechslungsreich. Durch diese Vielfalt konnte ich sehr viel schon im Moment lernen und aufnehmen.« (Klassenstufe 9)
»Ich habe gelernt, dass ich sehr gut in der Gruppe lernen kann. Ich fand es sehr gut, sich in der Gruppe auszutauschen. Auch die Ideen für eine Präsentation herauszuarbeiten. […] Auch habe ich gelernt, dass ich nicht jeder Internetquelle vertrauen soll, weil ich manchmal differenzierte Aussagen gefunden habe. Und dass ich vor allem nicht Wikipedia vertrauen soll. Das habe ich daran gemerkt, dass ich zuerst Wikipedia gelesen habe, was wahrscheinlich jeder machen würde, und dass ich dann den Artikel zum Thema las, und ich es einfach nicht kapierte, weil immer drum rum geredet wurde. Dann habe ich aber auf mehreren Seiten Übereinstimmendes gefunden, sodass ich mir sicher war, dass es stimmt, was ich dann vortrage. […] Ich fand diese Präsentationen [gemeint sind Unterrichtslektionen, die von Schülerinnen und Schülern in eigener Verantwortung vorbereitet und durchgeführt werden, d. Verf.] sehr gut, denn ich finde es manchmal etwas schwer, wenn ein Lehrer etwas sagt und denkt, dass alle es sofort verstehen. Dadurch, dass wir, also die Schüler, den Lehrer spielten, war es einfacher, es zu verstehen, denn ich denke, dass die Schüler auch das präsentieren, was sie wissen, und Schüler erklären es auch so, dass die Lernenden die Sachen auch leicht verstehen können. Deshalb finde ich diese Methode sehr gut.« (Klassenstufe 9)
»Insgesamt finde ich, dass diese ›Lernform‹, die wir mit diesem Projekt angewendet haben, extrem hilft, das wirklich Relevante an der ganzen Lernerei herauszufiltern und man auch alleine Stärken entwickeln kann.« (Klassenstufe 9)
»Ich habe gemerkt, dass es von der Idee zur Umsetzung ein sehr langer und schwerer Weg ist, welchen man ohne eine gute Planung und exakte Ausführung nicht erfolgreich meistern kann.« (Klassenstufe 9)
»Es war allgemein sehr interessant, es wurde auch immer so vermittelt, dass man zuerst selbst nachdenken muss, um überhaupt an die ›wirklichen‹ Infos heranzukommen. So habe ich es eigentlich auch verstanden. […] Ich habe mich auch selbst irgendwie besser kennengelernt. […] Dieses Fach bzw. diese Lektionen sind so gemacht, dass man nur durch eigenständiges Nachdenken zu zum Beispiel Lösungen kommt. Indem man alles nur über eigenständiges Nachdenken kriegt, versteht man dies danach auch gut.« (Klassenstufe 7)
Eine Schlussfolgerung aus diesen und unzähligen ähnlichen Rückmeldungen lautet: Der Fokus gymnasialer Bildung muss in Zukunft auf dem Lernen und seinen Bedingungen liegen. Lehrpersonen müssen sich zu Fachleuten bezüglich des Lernens weiterbilden. Wobei im Verlauf meiner Ausführungen klar wird, welche Vorstellungen mich im Zusammenhang mit dem Begriff des »Lernens« leiten. Ganz grundsätzlich weiß ich mich dem subjektwissenschaftlichen Verständnis des Lernbegriffes bei Klaus Holzkamp verpflichtet, das für mich eine hohe Plausibilität hat und mein Professionsverständnis nachhaltig prägt (vgl. Holzkamp 1995).
In der fachlichen und der didaktischen Ausbildung von Lehrpersonen liegt der Schwerpunkt nach wie vor auf der Lehre – in formaler ebenso wie in inhaltlicher Hinsicht. Der Stoff entscheidet. Vor allem seine Menge. Je mehr, umso besser. Auch in Prüfungssituationen, sei es im Zusammenhang mit der Zulassung zum Lehrberuf oder im Klassenzimmer, orientiert sich die Qualität von Lern- und Bildungsprozessen nahezu ausschließlich an dem, was gelehrt wird – manchmal gerade noch daran, wie gelehrt wird. Es wird darauf geachtet, ob und wieweit das Lernen der Lernenden dem Lehren der Lehrenden entspricht oder nicht, aber selten umgekehrt. Klaus Holzkamp spricht in diesem Zusammenhang vom Lehrlernkurzschluss, der der Organisation schulischen Lernens zugrunde liege. Gemeint ist die Annahme, »dass man mit einem bestimmten Lehraufwand (abzüglich ›natürlicher‹ Begabungsunterschiede) einen bestimmten Lerneffekt zwangsläufig erzeugen kann« (Holzkamp 1992, S. 97). Die Folge dieses Kurzschlusses ist, dass man »offiziell immer nur von Lehrplänen, Unterrichtszielen, Erziehungsaufgaben« spricht und dem Irrtum erliegt, man hätte »den dadurch bedingten Lerneffekt stets zwangsläufig mitgemeint« (ebd.). Vor diesem Hintergrund bringt die Lehrerausbildung noch immer mehrheitlich Lehrpersonen hervor, die in der Unterrichtspraxis vor allem darauf achten, was »man« lehrt (und was nicht) und wie »man« lehrt (und wie nicht). Wie und was Lernende dabei lernen (und was nicht), das kommt viel zu wenig in den Blick und orientiert sich in jedem Fall an der Lehre und ihren Zielen. Es gilt noch immer unangefochten eine der dienstältesten Bildungslügen, dass Lernen eine zwangsläufige Folge des Lehrens sei. Das unausrottbare Gerücht lautet: Wenn eine Lehrperson mit dem Lehren beginnt, dann beginnen Lernende zu lernen. Dieses Gerücht basiert auf einer Lüge, die sich deswegen so hartnäckig hält, weil sich das gymnasiale System damit selbst anlügt. Und wenn es eine Art der Lüge gibt, der man besonders schwer auf die Schliche kommt, dann ist es die Selbstlüge. Eine Forderung an dieser Stelle lautet also: Das Gymnasium als Bildungssystem muss dringend eine alternative Vorstellung davon entwickeln, was Lernen ist. Es muss die Funktionen seiner Lehrpersonen und Lernprozesse neu denken und das Phänomen »Unterricht« radikal umbauen. Ebenso muss sich in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen und Schulleitungen und in der Beurteilung der Schul- und Unterrichtsqualität Grundlegendes ändern, immer mit dem Ziel, den Fokus schulischen Handelns auf das Lernen zu richten.
Quantität vor Qualität, oder Nur viel Wissen ist gutes Wissen
Im herkömmlichen gymnasialen Unterrichtsmodell müssen Jugendliche vor allem darauf achten, dass sie den Anschluss nicht verlieren an das, was der Lehrer oder die Lehrerin »vermittelt«. Es geht darum, möglichst viel von diesem »Wissen« mit nach Hause zu nehmen, um es dort zu »lernen«. Zu diesem Zweck müssen sich die Jugendlichen geschickte Packstrategien ausdenken, durch die sie möglichst viel von dem, was ihnen in den unterschiedlichen Fächern »vermittelt« wird, in ihren kleinen Koffer kriegen. Lernen ist hier Logistik: Wie bekomme ich in möglichst wenig Zeit möglichst viel in meinen Kopf, und wie sorge ich dafür, dass es bis zur entsprechenden Prüfung drin bleibt, ohne in der Zwischenzeit von anderen Wissensinhalten verdrängt zu werden? Dieses völlig verkürzte Wissensmodell prägt noch immer in hohem Maße die Vorstellungen auf allen Ebenen des Gymnasialwesens, und es ist ein nach wie vor (un-)heimliches Leitziel des gesamten Bildungshandelns bis in die Universitäten hinein. Wissen ist in diesen Vorstellungswelten ein »Was«, es ist eine Art Substanz, die auf geheimnisvolle Weise »gelernt«, also transportiert werden kann. »Lernen« meint in diesem Kontext das Entwickeln mehr oder weniger effektiver Techniken, mit deren Hilfe das Anhäufen solcher Wissensberge besser gelingen soll. An dieser Problematik ändert auch das Modell des »selbst organisierten Lernens« (»SOL«) so lange nichts, als es den Lernenden lediglich erklärt, dass und wie sie ihr Lernen ab jetzt selbst zu organisieren hätten, ohne zuerst einmal geklärt zu haben, dass sich Lernen nicht in Informationslogistik erschöpft.
Das Gymnasium implantiert in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler ein Vorstellungsmodell von Lernen, in dem Wissen als Inhalt und Stoff verstanden wird, den man sich aneignet. In diesem Modell ist die Frage »Hast du für die Prüfung genug gelernt?« rein quantitativ gemeint. »Man« lernt viel oder wenig für eine Prüfung, und das »viel« und das »wenig« bezieht sich nicht auf das Lernen selbst, sondern auf die Mengen, um die es bei diesem Lernen geht. Lernen ist Logistik. Das erlebe ich zum Beispiel im Schulbus, wenn die Schülerinnen und Schüler über ihren Notizen