Johannes Huber

Die Anatomie des Schicksals


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Perspektive sind die Moiren, drei Frauen, fürs Schicksal zuständig. Obwohl die wirklichen Götter allesamt Männer waren, waren die Schicksalsgöttinnen immer Frauen. Sie vereinen Geburt und Tod.

      Es wird in diesem Buch noch viel von der Geburt, von der Schwangerschaft, von der Zeit vor der Schwangerschaft und von der Schicksalhaftigkeit dieser Lebensphase die Rede sein. In den Moiren ist sie schon vorweggenommen.

      Die drei Moiren bestimmen über unser aller Leben. Klotho, die Spinnerin. Sie ist es, die unseren Lebensfaden spinnt. Lachesis, die Zuteilerin, misst diesen Lebensfaden und teilt das Lebenslos zu. Atropos, die Unerbittliche, schneidet den Lebensfaden ab.

      Die ihnen zugeteilten Attribute sind die Spindel, das goldene Messer und eine Wasserschale, aus der die Zukunft gelesen werden kann. Spannend, die weibliche Weitsicht. Klotho als Jungfrau, Lachesis als Mutter, Atropos als alte Frau. Man hat das Schicksal damals schon gegendert.

      Das ewig Weibliche zieht uns nicht zuletzt deswegen an, weil es mit der Entstehung des Lebens und daher mit der Entstehung des Schicksals verbunden ist. Leben und Schicksal sind Synonyme.

      Die Götter sind in der griechischen Mythologie dem Wirken der Moiren unterworfen, sie haben keine Gewalt über die Schicksalsfrauen. Selbst Zeus, der Göttervater, kann nicht hineinpfuschen und keine ihrer Entscheidungen widerrufen.

      Die Kernaussage ist: Die Moiren sind immer lebenswegzeichnend. Sie bestimmen das Schicksal. Aber – es ist nicht unausweichlich. Kommt ein Mensch dem Tod vor seiner ihm bestimmten Zeit sehr nahe oder plant er Dinge, die mit seinem oder dem Schicksal anderer nicht übereinstimmen, können ihm die Moiren warnende Gedanken schicken.

      Wir hören dieses: Obacht! Wir sagen »innere Stimme« dazu oder Gewissen. Der Stimme des Herzens zu folgen, ist in diesem Sinne existenziell wichtig. Wer dagegen handelt, verschuldet möglicherweise sein weiteres Schicksal selbst.

      Mit dem Segen der Moiren können Menschen ihr Schicksal beeinflussen. Und zum Guten wenden. Darum arbeiten die drei eng mit Nemesis, der Göttin des gerechten Zorns, der Vergeltung, zusammen. Und mit Aidos, der Göttin des Gewissens.

      Auch die Mutter schickt warnende Gedanken, das ist ebenfalls nicht uninteressant. Und mit diesen Gedanken, hat man sich vorgestellt, kann man möglicherweise in das Schicksal eingreifen. Die Warnung mag nicht direkt in den Geist fahren wie eine Erleuchtung oder ein Download aufs Handy. Es genügt ein leises Gefühl, dass da etwas nicht richtig ist. Irgendetwas stimmt nicht.

      Zwei Aspekte ziehen sich bildhaft bis in die Moderne: die Nemesis, der Zorn, und Aidos, das Gewissen. Mit beiden agiert der Mensch. Er schneidet sich möglicherweise selber den Lebensfaden ab, im Zorn. Einhalt gebietet nur das Gewissen, das empfiehlt, nicht blind loszupreschen, sondern ein paar Schritte zurückzutreten oder innezuhalten.

      Das Schicksal bereitet sich vor, es ist ein longitudinaler Prozess, und die Gedanken spielen eine enorm wichtige Rolle dabei, denn aus den Gedanken kommen die Taten, im schlimmsten Fall sogar die Schicksalsschläge und Katastrophen. Unsere Gedanken, um die es in diesem Buch auch noch ausführlich gehen wird, können der rote Teppich sein, auf dem das Schicksal in unser Leben stolziert. Sein Beginn ist oft nichts anderes als etwas Gedachtes, nichts als Energie.

      Die Botschaft ans Universum, könnte man sagen. Sie kommt an wie eine E-Mail an den lieben Gott.

      Gute Politik, schlechte Politik

      Schicksalhaft ist es aber zum Beispiel auch, in welchem Staatsgefüge wir leben. Ist es ein guter, sozialer, gerechter, ein lebenswerter Staat oder das Gegenteil davon? Ein höchst moderner Aspekt, aber bereits das älteste Epos der Welt widmete sich ihm. Ein 4.000 Jahre alter Text, geschrieben auf Sumerisch. Entdeckt wurden die Tafeln im heutigen Irak. Das älteste Epos der Menschheitsgeschichte. Das Gilgamesch-Epos.

      Im Gilgamesch-Epos, das übrigens bereits etwas thematisiert, was derzeit in Silicon Valley Hochkonjunktur hat, nämlich die Relativierung der Todesangst und des Sterbens, war es schicksalhaft, ob man einen guten oder einen schlechten König hatte. Die Politik schwingt immer mit. Das war schon in der Odyssee so und wurde im Rathaus von Siena im zwölften Jahrhundert noch einmal wunderschön als Fresko verewigt: die gute Regierung und die schlechte Regierung. Welche man bekommt, ist auch Frage des Schicksals. Das hat sogar einen gewissen Zeitgeist.

      Es ist schicksalhaft, welchem politischen System wir angehören oder ausgeliefert sind. Zu Platons Zeit war schon die Demokratie in Griechenland eingezogen, vor allem in Athen, die Kultur wurde hochgehalten und über all dem stand sein berühmter Satz: »Jeden Tag danke ich den Göttern, dass ich als Mensch, als Mann, als Grieche und als Bürger Athens geboren wurde.«

      Es hat nach wie vor eine große Bedeutung, in welchem politischen System wir aufwachsen. Nordkorea? Tibet? Berlin? Meidling?

      Im Gilgamesch-Epos, in der Unterwelt, gibt es übrigens auch einen bösen Geist namens Namtaru, der mehr oder weniger alles durcheinanderbringt und auch den guten Herrscher zum bösen macht. Namtaru wirft üble Schicksale auf die Menschen: Sie haben Wasser, aber er bewirkt, dass es nicht trinkbar ist. Sie haben etwas zu essen, aber er bewirkt, dass die Nahrungsmittel ungenießbar werden und alle daran sterben.

      Dazu gibt es eine Analogie in der Gegenwart, in der Wasser kaum mehr trinkbar ist ohne Filter und in der uns viele Nahrungsmittel krank machen, weil sie mit zu viel Salz und Zucker versetzt und geschmacksverstärkt sind. Namtaru wäre heute Lebensmittelchemiker.

      Die Entzauberung des Schicksals

      Die Moderne nimmt nun das Schicksal mehr und mehr in die eigene Hand. Um beim Beispiel Krankheiten zu bleiben, bei denen der Mensch früher dem Tod geweiht war – sie folgen heute einer simplen Gleichung: Diagnose plus Therapie ist gleich Heilung.

      Der Fortschritt nimmt dem Schicksal das Geheimnisvolle. Jede Entdeckung, jede Erfindung lüftet vor allem in der Medizin den Vorhang der Unkenntnis und nimmt die Angst vor kosmisch gesteuerter Unbill. Was die Moderne allerdings nicht in den Griff bekommt, sind die sich anbahnenden Schicksalsschläge, die von der Umwelt ausgehen.

      Unser größter Schatz in dieser Hinsicht ist der Sozialstaat. Er ist eine Art kollektive Versicherung gegenüber allem Versicherbarem, mit dem das Schicksal die Gesellschaft und ihre Individuen behelligen kann.

      Der Sozialstaat hat eigentlich nicht unbedingt mit »roter« Politik zu tun, vielmehr lebt er nach einem größeren Sinn und höheren Zielen. Gerechtigkeit. Sicherheit. Gemeinsamkeit. Vor allem aber lebt er auch von jenem Wohlstand, der mitunter die Umwelt belastet. Er lebt von den Steuern der Ökonomie und letztlich von einigen Paradoxien, die der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk so formuliert: »Es werden in den Menschenkörpern der wohlhabenden Hemisphären ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme und Diäten abzubauen sind. Es werden weltweit mehr Abfälle aus Konsum, Freizeit, Reisen und gesellschaftlichen Lebensformen generiert, als sich in absehbarer Zeit im Recycling-Prozess resorbieren lassen. Es werden im Gang der Liberalisierung mehr Hemmungen fallen gelassen, als durch Hinweise auf frühere Zurückhaltung und neue Fairnessregeln domestiziert werden könnten.«

      Krankheit, Umweltverschmutzung und hemmungsloser Egoismus also. Der Sozialstaat lebt somit auch von Gedanken, denen Gier zugrunde liegt, und Gedanken werden zu Schicksal. Es ist die gedankliche Gier, die die Welt schicksalhaft in den Abgrund stürzt, autofrei und klassenlos wird da nichts ändern. Wir müssen die Gedanken ändern, um aus dieser Falle zu entkommen, den Sozialstaat auf ein neues Fundament stellen. Sonst bringt uns unsere Versicherung vor schweren Schicksalsschlägen ebensolche.

      Zudem bleibt da immer ein Aspekt des Schicksals, gegen den wir uns mit nichts versichern können: die schicksalhafte Veränderung der Zeit.

      Den höheren Rhythmus der Geschichte, die Neuformierung der Welt kann niemand aufhalten. Alles geht in diesem Zyklus seinen logischen, vorhergesehenen Gang. Wie beim Kreislauf von Werden und Vergehen. »Ob einer Persönlichkeit Raum gelassen wird, entscheidet allein das Zeitalter, in das sie geboren wird. Man kann zu früh, aber auch zu spät zur Welt kommen. Die Epoche, in die wir hineingeworfen sind, hämmert und meißelt uns«, formulierte der