Johannes Huber

Die Anatomie des Schicksals


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und überfährt ein Kind.

      Jemand wünscht sich, dass jemand anderer stirbt.

      Alles Gedanken, die etwas auslösen. Die ein Schicksal ändern.

      Es ist, während ich das hier schreibe, noch gar nicht lange her, dass US-Präsident Donald Trump den Befehl zum Angriff auf den Iran gab. Kurz darauf, vielleicht zehn Minuten später, war da der Gedanke: Nein, wir machen es nicht. Ein Gedanke hat die Rakete gestoppt. Oder der Gedanke, der John F. Kennedy bewogen hat: Jetzt greifen wir Kuba an. Und dann, im letzten Moment, der andere Gedanke: Nein, wir machen es nicht. Ein Gedanke hat den Dritten Weltkrieg gestoppt.

      Doch Gedanken, das haben wir gelernt, sind gelenkt durch Kräfte, die wir selbst manipulieren.

      Der Nahe Osten findet keinen Frieden, weil den Menschen dort der Gedanke fehlt, der die Schicksalhaftigkeit der Situation sofort ändern würde. Denn den beiden dortigen abrahamitischen Religionen, dem Islam und dem Judentum, fehlt jener Zugang, den die dritte abrahamitische Religion, das Christentum, sehr wohl hat. Der Gedanke der Bergpredigt. Wenn du auf die Rechte eine kriegst, dann handle nicht Auge um Auge und Zahn um Zahn, sondern dann halte auch die Linke hin. Dieser Gedanke war für die Schicksalhaftigkeit Europas und die gesamte Entwicklung fundamental, selbst wenn da immer wieder Fehler gemacht wurden. Aber dieser Gedanke bewirkte, dass es nach dem Dreißigjährigen Krieg letzten Endes einen Westfälischen Frieden gab. Den gibt es im Nahen Osten vielleicht nie. Der Gedanke der Bergpredigt ist ein wahrer Goldschatz von einem Gedanken, was Schicksal und schicksalhafte Katastrophen betrifft und deren Abwehr oder Abwendung.

      Der Gedanke heißt Vergebung.

      Und er geht auf das holistische Prinzip zurück. Das Schicksal ist ein Prozess. Ein Werdeprozess, der sich erst entwickelt und über den Menschen seit Jahrtausenden nachgedacht haben.

      Wir sehen das bei den drei Nornen.

      Sie sind nicht zu verwechseln mit den drei Moiren. Die drei Nornen sind ihr Pendant im Germanischen, eigentlich die Raunenden. Sie raunen vor sich hin, und im Raunen definieren sie das Schicksal.

      Urd ist die weiße Norne, das Gewordene, die Vergangenheit, das, was aus der Urzeit hinüberwirkt. Unsere Väter und die Sünden unserer Väter, aber auch das, was sich im Kosmos, im Universum und auf der Erde ereignet hat, wir kommen später darauf zurück.

      Die zweite Norne heißt Verdandi, die rote Norne, die Werdende, die Gegenwart. Und die dritte ist die schwarze Norne, Skuld, das Werden-Sollende, die Zukunft, das, was uns künftig erwartet.

      Urd, Verdandi und Skuld klingen nach Figuren aus Herr der Ringe oder Game of Thrones. Sie wohnen an der Wurzel der Weltenesche Yggdrasil. Ein Brunnen, ein Schicksalsquell. Aus ihm heraus begießen sie den heiligen Weltenbaum. Auch sie spinnen die Fäden des Schicksals, die sie von Frigg erhalten, der Allmutter und Frau von Allvater Odin. Erstmals erscheinen sie, als das glückliche Leben der Götter sein Ende findet. Götterdämmerung. Älter als die Götter selbst sind nur die Riesen.

      Nornen weben nicht nur das Schicksal, sie werfen auch Los-Stäbchen, wie beim Mikado. Damit orakeln sie über das Leben der Menschen. Schon bei der Geburt sind sie anwesend. Sie sehen jedes Schicksal voraus. Sie schauen Karma-Fernsehen, sozusagen. Nur: Wir können dabei aktiver mitspielen, als man das früher gedacht hat.

      Die Anatomie des Karmas

      Apropos. Das wird gerne verwechselt: Karma ist nicht gleich Schicksal. Das Wort stammt aus dem Sanskrit und bedeutet Arbeit, Aktion. Und würde auch für dieses Leben, unabhängig von einer Wiedergeburt, gelten.

      Der Dalai Lama sagt: »Karma ist das Gesetz von Ursache und Wirkung, das den Kreislauf der Wiedergeburten beherrscht. Doch dieser Begriff ist schwer zu verstehen, wenn man nicht an das Phänomen der Wiedergeburt glaubt. Alles, was wir in der Abfolge unserer Lebenszeiten je gedacht oder getan haben, zeitigt – in Verbindung mit der dahinterstehenden Absicht – positive oder negative Auswirkungen. Dieses grundlegende Prinzip gilt im größeren Maßstab auch für Völker oder Länder.«

      Jedes Handeln erzeugt Karma. Ziel ist es paradoxerweise, kein Karma aufzubauen. Es kommt also nicht drauf an, viele Katzenbabys zu retten oder alten Frauen über die Straße zu helfen und damit das Karmakonto auf der Habenseite aufzufüllen. Im Gegenteil, am besten ist, eben kein Karma mehr zu haben. Erst dann kann der Kreislauf der Wiedergeburten durchbrochen werden. Nur wer frei ist von allen Wünschen und Begierden, die ihn ans irdische Dasein binden, kann den Kreislauf kappen. Erst dann ist ein Mensch zur Gänze erwacht, sein moralisches Handeln vollendet und die höchste Form von Tugendhaftigkeit erreicht. Kein Hass, keine Gier, keine Verblendung. Es gibt nur noch heilsames Tun. In unseren Breiten und im Rest der Welt wird das schwer werden, aber bitte.

      Der Buddhismus verwendet für Karma auch den Begriff Prägung. Entscheidend ist die karmische Prägung einer Tat, eines Gedankens. Die Absicht, die dahintersteckt. Denken als Handlungsform steht über körperlichem Handeln oder der Rede. Es gibt drei verschiedene Arten von Karma: Karma, das zu Lebzeiten reift. Karma, das im nächsten Leben reift. Karma, das in späteren Leben, also nach dem nächsten, reift. Deswegen versucht der Buddhist, sich von all seinen Gedanken freizumachen, damit er nicht in diesen komplizierten Kreislauf hineingerät, der dann Böses auslöst.

      Im Rahmen des Buddhismus könnten wir das Karma so definieren: Der Mensch nimmt sein Schicksal in die Hand.

      Das Karma, das zu Lebzeiten reift, das Karma, das in vergangenen Leben war, und das Karma, das kommen wird. Die drei Formen, die mehr oder weniger den drei Nornen entsprechen.

      Der Hinduismus, aus dem der Buddhismus wie eine Reformation hervorgegangen ist, erklärt das Prinzip anders: Der Mensch ist in seinen Taten frei und für sein Karma selbst verantwortlich. Karma ist ein kosmisches Gesetz, das jeden überall betrifft. Unabhängig vom Zeitrahmen, dem Dharma.

      Jeder Mensch hat so einen Dharma. Das hat nichts mit Verdauung zu tun, es geht darum, dass sich der Mensch persönlich gut entwickelt. Tut er das, ist der Dharma erfüllt. Und diese Erfüllung ist ausschlaggebend, ob Taten gutes oder schlechtes Karma bewirken. Hinduistische Pflichten des Einzelnen sind: Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Geduld, Selbstkontrolle, Mildtätigkeit und Gastfreundschaft. Einen einheitlichen Kodex gibt es aber nicht. Es hängt davon ab, welcher Gesellschaftsschicht man angehört. Nicht unähnlich dem Gebaren in unseren Breiten.

      Friedrich Schiller hat die Essenz der Triade in vier Zeilen gegossen.

      Dreifach ist der Schritt der Zeit:

      Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,

      Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,

      Ewig still steht die Vergangenheit.

      Damit spannen wir den Bogen wieder zum Heute. Unser Schicksal besteht aus vielen Dingen, die der Mensch nicht weiß. Oder scheinbar nicht weiß. Oder nur bisher nicht wusste.

      Jetzt hat die Wissenschaft bewiesen, dass wir sehr wohl eingreifen können. Forschungen. Erkenntnisse. Wunder sind machbar. Sie verändern den globalen Drall. Das ist die gute Nachricht.

      Wir können das Schicksal besser verstehen. Und durch dieses Verständnis können wir es auch beeinflussen.

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