verständliche Kompendien und kurze Wiedergaben alles Wissenswerten und schließlich die wahren Wohltäter des Zeitalters, die die spirituelle Existenz dank ihrer Gedanken in systematischer Weise immer leichter werden lassen.12
Seine Zigarre erlosch. Der junge Däne, Sören Kierkegaard, zündete sich eine neue an und sinnierte weiter. Plötzlich blitzte in seinem Kopf dieser Gedanke auf:
Du musst etwas tun, aber da es mit deinen begrenzten Fähigkeiten unmöglich sein wird, etwas leichter zu machen, als es schon geworden ist, musst du dich mit dem gleichen humanitären Enthusiasmus wie die anderen daran begeben, etwas schwerer zu machen.13
Er räsonierte, dass, wenn sich alle zusammenfinden, um alles leichter zu machen, die Gefahr besteht, dass die Leichtigkeit überhand nimmt. Vielleicht braucht es jemanden, der die Dinge wieder schwierig macht. Es schien ihm so, als hätte er seine Bestimmung entdeckt: Er sollte auf die Suche nach Schwierigkeiten gehen – wie ein neuer Sokrates.14 Und welche Schwierigkeiten? Sie waren nicht schwer zu finden. Er brauchte nur seine eigene Situation in der Existenz zu betrachten, seine eigene Furcht, seine Entscheidungen, seine Möglichkeiten und Begrenzungen.
Kierkegaard widmete den Rest seines kurzen Lebens der Erforschung dieser existenziellen Situation und veröffentlichte in den Jahren nach 1840 mehrere wichtige existenzialistische Abhandlungen. Sein Werk blieb viele Jahre lang unübersetzt und übte bis nach dem ersten Weltkrieg wenig Einfluss aus, bis es fruchtbaren Boden fand und von Martin Heidegger und Karl Jaspers aufgegriffen wurde.
Die Beziehung der existenziellen Therapie und der existenzialistischen Schule der Philosophie ist ganz ähnlich wie die der klinischen Pharmakotherapie zur biochemischen Grundlagenforschung. Ich werde mich oft auf philosophische Arbeiten beziehen, um einige der klinischen Fragen zu erklären, zu untermauern oder zu illustrieren; aber es ist nicht meine Absicht (und liegt auch nicht in der Reichweite meiner Gelehrsamkeit), die Arbeiten irgendeines Philosophen oder die wichtigeren Glaubenssätze existenzialistischer Philosophie in umfassender Weise zu besprechen. Dies ist ein Buch für Kliniker, und ich möchte, dass es klinisch nützlich ist. Meine Ausflüge in die Philosophie werden kurz und pragmatisch sein; ich werde mich selbst auf jene Gebiete beschränken, die eine Hebelwirkung für die klinische Arbeit anbieten. Ich kann es dem professionellen Philosophen nicht anlasten, wenn er mich mit einem raubenden Wikinger vergleicht, der Edelsteine ergattert, während er die feinen und wertvollen Fassungen zurücklässt.
Da die Ausbildung der großen Mehrheit der Psychotherapeuten wenig oder keine Betonung auf Philosophie legt, werde ich bei meinen Lesern keinen philosophischen Hintergrund voraussetzen. Wenn ich mich auf philosophische Texte beziehe, werde ich versuchen, dies in einer direkten, jargonfreien Art zu tun – was, nebenbei gesagt, keine leichte Aufgabe ist, da sich professionelle existenzialistische Philosophen und sogar die psychoanalytischen Theoretiker im Gebrauch einer verworrenen und gewundenen Sprache gegenseitig übertreffen. Der eine höchst bedeutsame Text in diesem Bereich, Heideggers Sein und Zeit, steht einsam da als der unangefochtene Champion linguistischer Verwirrung. Ich habe den Grund für die undurchdringliche, tiefgründig klingende Sprache niemals verstanden. Die grundlegenden existenziellen Konzepte selbst sind nicht komplex, sie brauchen nicht so sehr entschlüsselt und peinlich genau analysiert zu werden, sondern müssen enthüllt werden. Jeder tritt zu irgendeinem Zeitpunkt in seinem Leben in ein »dunkles Studium« ein und beschäftigt sich irgendwie mit letzten existenziellen Dingen. Nicht formale Explikation ist erforderlich: Die Aufgabe des Philosophen ebenso wie die des Therapeuten ist es, die Verdrängung wieder rückgängig zu machen und das Individuum wieder mit etwas vertraut zu machen, was er oder sie schon immer gewusst hat. Das ist genau der Grund, weshalb viele der führenden existenzialistischen Denker (zum Beispiel Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Miguel de Unamuno, Martin Buber) die literarische Ausdrucksweise der formal-philosophischen Argumentation gegenüber vorziehen. Darüber hinaus müssen der Philosoph und der Therapeut das Individuum dazu ermutigen, seine existenzielle Situation anzuschauen und sich ihr zu widmen.
Die existenziellen Analytiker: Alte Vettern vom Lande
Eine Anzahl europäischer Psychiater beschäftigte sich mit vielen der grundlegenden Annahmen von Freuds psychoanalytischem Ansatz. Sie wandten sich gegen Freuds Modell der psychischen Funktionsweise, seine Bemühungen, das menschliche Wesen mit Hilfe eines Energieerhaltungsschemas zu verstehen, das den Naturwissenschaften entliehen war, und machten geltend, dass solch ein Ansatz zu einer unangemessenen Sichtweise des menschlichen Wesens führt. Wenn man ein Schema verwendet, um alle Individuen zu erklären, so argumentierten sie, verfehlt man die einzigartige Erfahrung der besonderen Person. Sie hatten etwas gegen Freuds Reduktionismus (das heißt, dass er das gesamte menschliche Verhalten auf einige wenige, grundlegende Triebe zurückführte), seinen Materialismus (das heißt, dass er das Höhere in Begriffen des Niederen erklärte) und seinen Determinismus (das heißt den Glauben, dass alles geistige Funktionieren durch identifizierbare Faktoren, die bereits bestehen, verursacht wird).
Die verschiedenen existenziellen Analytiker stimmten in einer grundlegenden Verfahrensfrage überein: Der Analytiker muss sich dem Patienten auf phänomenologische Weise nähern; das heißt, er oder sie muss in die Erfahrungswelt des Patienten eintreten und auf die Phänomene in dieser Welt achten ohne die Vorannahmen, die das Verständnis verzerren. Wie Ludwig Binswanger, einer der bekanntesten existenziellen Analytiker, sagte: »Es gibt nicht nur einen Raum und eine Zeit, sondern ebenso viele Räume und Zeiten wie es Subjekte gibt.«15
Abgesehen von ihrer Reaktion auf Freuds mechanistisches, deterministisches Modell des Geistes und ihrer Annahme von einer phänomenologischen Vorgehensweise in der Therapie, haben die existenziellen Analytiker wenig Gemeinsames und wurden nie als eine zusammenhängende ideologische Schule betrachtet. Diese Denker – u. a. Ludwig Binswanger, Medard Boss, Eugene Minkowsky, Victor Emil von Gebsattel, Roland Kuhn, Igor Alexander Caruso, Frederik Jacobus Johannes Buytendijk, Gustav Bally und Viktor Frankl – waren fast vollständig unbekannt in der amerikanischen psychotherapeutischen Gemeinschaft, bis Rollo Mays sehr einflussreiches Buch Existence aus dem Jahr 1958 (und darin besonders die Einleitung16) – deren Werk in den USA einführte.17
Heute jedoch, mehr als zwanzig Jahre nach Mays Buch, ist es erstaunlich, dass diese Persönlichkeiten wenig Einfluss auf die amerikanische psychotherapeutische Praxis ausüben. Sie bedeuten kaum mehr als die unbekannten Gesichter auf einer vergilbten Daguerreotypie im Familienalbum. Teilweise geht diese Vernachlässigung auf eine Sprachbarriere zurück: Abgesehen von einigen Schriften von Binswanger und Frankl wurden diese Philosophen selten übersetzt. Größtenteils liegt es jedoch an der abstrakten Natur ihrer Schriften: Sie sind durchdrungen von der philosophischen Weltanschauung [im Original deutsch] der alten Welt, die überhaupt nicht synchron mit der amerikanischen pragmatischen Tradition in der Therapie verläuft. Deshalb bleiben die existenziellen Analytiker aus der Alten Welt verstreute und größtenteils außerhalb Europas aus den Augen verlorene Vettern des existenziellen Therapieansatzes, den ich zu beschreiben beabsichtige. Ich beziehe mich nicht sehr eingehend auf sie mit Ausnahme von Viktor Frankl, einem hervorragenden pragmatischen Denker, dessen Werk größtenteils übersetzt wurde.
Humanistische Psychologen: Auffällige amerikanische Vettern
Der europäische existenzielle analytische Trend entstand sowohl aus dem Wunsch heraus, philosophische Konzepte auf ein klinisches Studium der Person anzuwenden als auch als Reaktion auf Freuds Modell des Menschen. In den Vereinigten Staaten begann eine analoge Bewegung in den späten Fünfziger-Jahren zu brodeln, sie tauchte in den Sechziger-Jahren auf und vereinigte sich und schoss plötzlich in den siebziger Jahren nach allen Richtungen hin los.
Die amerikanische Psychologie war in den Fünfziger-Jahren lange von zwei führenden ideologischen Schulen beherrscht. Die erste – und bei weitem die am längsten vorherrschende – war ein wissenschaftlicher positivistischer Behaviorismus; die zweite war die Freudsche Psychoanalyse. Eine schwache Stimme, von der man zuerst in den späten Dreißiger- und Vierziger-Jahren hörte, stammte von abweichenden sozialen Psychologen, die unbehaglich in der Bastion experimenteller Psychologen nebeneinander existierten. All mählich wurde es jenen Persönlichkeitstheoretikern (zum Beispiel Gordon Allport, Henry Murray und