Elena Makarova

Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl (E-Book)


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Bildungswege können mit einer Maturität abgeschlossen werden, welche – je nach Weg spezifisch – den formalen Zugang zu drei Typen von Hochschulen (Fachhochschule, Pädagogische Hochschule, Universität), teilweise auch zu Höheren Fachschulen eröffnet. Rund 5 Prozent der Schulabgängerinnen und -abgänger wählen innerhalb von zwei Jahren eine Ausbildung an einer FMS[2] (Laganà & Gaillard, 2016, S. 18). Als allgemeinbildende Schule ist sie nicht berufsbefähigend, bereitet jedoch auf Berufsausbildungen auf Tertiärstufe insbesondere im Bereich Gesundheit, Soziale Arbeit und Erziehung vor. Die Schülerinnen und Schüler wechseln nach Abschluss der Schule mit der Fachmaturität beispielsweise an eine pädagogische Hochschule für das Studium zur Primarlehrkraft, an eine Fachhochschule für Gesundheit für das Studium zur Pflegefachperson oder an eine Fachhochschule für Soziale Arbeit. Bezüglich der Steuerung und Aufsicht handelt es sich um eine kantonale Schule. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK regelt und akkreditiert jedoch den Rahmenlehrplan und die Anerkennung der Abschlüsse.

      Die Wurzeln der Schule liegen in den sogenannten Höheren Töchterschulen, welche im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in größeren Städten entstanden sind (Joris & Witzig, 1987, S. 338). Sie boten damals für junge Frauen die fast einzige Möglichkeit, zu höherer Bildung zu gelangen (EKFF, 2009). In diesen Schulen wurden die weiblichen Jugendlichen des oberen Mittelstandes auf ihre zukünftige standesgemäße Rolle als Hausfrau und Mutter hin sozialisiert. Im ausgehenden 19. Jahrhundert übernahmen die Schulen zunehmend eine Brückenfunktion, um die jungen Frauen für Berufsausbildungen im Bereich von Erziehung, Pflege und Sozialer Arbeit vorzubereiten, die erst mit 18 bis 20 Jahren begonnen werden konnten (Joris & Witzig, 1987, S. 335 ff.). Die Schulen boten jedoch keine formal gesicherten Anschlussmöglichkeiten für diese weiteren Bildungswege und wurden auch als Sackgasse empfunden. Ab den 1970er-Jahren hat sich die Schule in einem drei Jahrzehnte laufenden Prozess (Criblez, 2002; Leemann & Imdorf, 2019) von diesen sehr heterogenen städtischen Schulen für junge Frauen zu einem auch den jungen Männern zugänglichen Bildungsweg auf Sekundarstufe II mit Hochschulzugang transformiert. Dabei hat sie auch den Namen gewechselt, in einem ersten Schritt zur Diplommittelschule (DMS), später zur Fachmittelschule (FMS). Neu wurden Berufsfelder eingeführt, die meist zu Beginn des zweiten Ausbildungsjahrs gewählt werden. Die Kantone haben die Möglichkeit, Gesundheit, Soziales, Pädagogik, Information/Kommunikation, Gestaltung/Kunst, Musik/Theater sowie ab 2019 Gesundheit in Kombination mit Naturwissenschaften anzubieten.

      Das Geschlechterverhältnis beim Schulbesuch betrug im Schuljahr 2016/17 72 Prozent Frauen und 28 Prozent Männer.[3] In Abbildung 1 ist der Frauenanteil beim Abschluss der Schule mit der Fachmaturität abgebildet. Gegenüber 83 Prozent im Jahre 2012 ist er im Jahre 2017 leicht gesunken und beträgt 80 Prozent. Dargestellt ist auch der Frauenanteil in den einzelnen Berufsfeldern. In Pädagogik und Soziale Arbeit liegt er über dem Durchschnitt, in Gesundheit entspricht er in etwa dem Durchschnitt. In den Berufsfeldern Information/Kommunikation, Gestaltung/Kunst und Musik/Theater (zusammengefasst) sowie Naturwissenschaften und Gesundheit/Naturwissenschaften (zusammengefasst) ist er dagegen – mit einer Ausnahme im Jahre 2017 für die letztgenannte Fachrichtung – geringer.[4] Diese Berufsfelder scheinen für junge Männer attraktiver zu sein und führen dazu, dass sie vermehrt eine Ausbildung an der Schule besuchen.

      Abbildung 1: Frauenanteil in verschiedenen Berufsfeldern der Fachmaturität, Entwicklung 2012–2017 (Daten: Bundesamt für Statistik. Eigene Darstellung)

      3 Theoretische Rahmung

      Mit der Frage, wie es zur Beharrungskraft der Geschlechtsspezifität kommt, schließen wir an Überlegungen und Forschungen der deutschen Soziologin Helga Krüger an. Sie hat schon in den 1990er-Jahren darauf hingewiesen, dass sich die seit Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft vorangetriebene Polarisierung der Geschlechter (Hausen, 1976) nicht nur in Interessen, Orientierungen und Entscheidungen der Subjekte verfestigt hat. Geschlechtsspezifische Muster haben sich ebenso als «geronnene Gewalt» (Krüger, 1991, S. 141) in die gesellschaftlichen Institutionen – Familie, Arbeitsmarkt, Bildung, Wohlfahrtsstaat – niedergeschlagen und entfalten historische sowie lebenszeitliche Langzeitwirkungen (Krüger, 1991, S. 140).

      Hier anschließend stellt sich die Frage, welche sozialen Mechanismen zur Reproduktion und pfadabhängigen Entwicklung der Geschlechtstypik von Bildungsinstitutionen führen, aber auch, wie institutioneller Wandel möglich ist. James Mahoney (2000) hat hierzu einen konzeptionellen Vorschlag gemacht, der auch in anderen Studien mit vergleichbaren Fragestellungen fruchtbare Antworten ermöglichte (z. B. Blanck, Edelstein & Powell, 2013) und für die Analyse der FMS ebenfalls hilfreich sein kann (Fischer, Leemann, Imdorf, Esposito & Hafner, 2017). Er unterscheidet analytisch zwischen utilitaristischen, funktionalen, machtbasierten und legitimatorischen Mechanismen, welche realiter aber miteinander verflochten sind und sich gegenseitig unterstützen oder behindern. Utilitaristische Mechanismen basieren auf Kosten-Nutzen-Einschätzungen der Akteure, welche keinen Anlass zu Veränderungen sehen, solange dieses Verhältnis stimmig ist. Erst wenn der gesellschaftliche Druck auf die Kosten oder den Nutzen sich erhöht (z. B. durch erhöhte Anforderungen an Effizienz), kann es zu Veränderungen kommen. Stabilität durch funktionale Mechanismen ist so lange wahrscheinlich, wie die FMS ihre Funktion der Vorbereitung auf Gesundheits- und Pflegeberufe, die für ein größeres System, den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft elementar sind, erfüllt. Funktionale Kräfte, welche Wandel in der Geschlechtstypik initiieren, könnten bei sich ändernden und neuen Berufsfeldern ins Spiel kommen, wodurch die Einschränkung auf bisherige Berufsfelder dysfunktional wird. Bei den machtbasierten Mechanismen kommt die Definitionsmacht von Akteuren ins Spiel. Die Institution wird reproduziert, weil mächtige Akteure dies durchsetzen. Erst wenn sich im Machtgefüge Änderungen ergeben, ist Reform möglich. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der FMS können wir annehmen, dass die Vertreter der Schule nicht zu den mächtigen Akteuren im Feld der Bildungspolitik gehören und deshalb geringen Einfluss haben und wenig Unterstützung erhalten, um einen Wandel einzuleiten. Der Bildungsweg der FMS ist für die gesellschaftliche Elite kaum von Bedeutung, die Schule hat als «Mädchenschule» wenig Prestige und die mächtigen Akteure der Berufsbildung haben, wie wir noch sehen werden, eine starke Positionierung der Schule immer zu verhindern versucht. Basis von legitimatorischen Mechanismen sind gesellschaftliche Werte und Normen, auf die sich Akteure stützen, um entweder die Weiterführung einer Institution oder deren Reform zu rechtfertigen. Da in den Jahrzehnten der Transformation der Schule die neue Frauenbewegung erstarkte, können wir annehmen, dass auch moralische Forderungen nach Geschlechtergleichheit und Gleichstellung ins Spiel gebracht wurden.

      4 Institutionelle Reproduktion der Geschlechtertypik

      Obwohl die FMS sich in den 1970er-Jahren zu einer koedukativen Institution gewandelt hat, ist der Anteil an jungen Frauen nach wie vor hoch. Nachfolgend stellen wir drei Situationen dar, welche diese institutionelle Persistenz der FMS als «Mädchenschule» erklären können, und rekonstruieren die dabei zugrunde liegenden sozialen Mechanismen.

      Die erste Situation bezieht sich auf die Anfänge der Institutionalisierung der Schule in den 1970er-Jahren. Damals übertrug die EDK einer Kommission den Auftrag, Leitideen und Zielvorstellungen für ein interkantonales Modell dieses Schultyps auszuarbeiten. In Abbildung 2 hat diese Kommission die mögliche zukünftige Position und Funktion der damaligen DMS – im Vergleich und in Abgrenzung zur Berufsbildung, welche direkt nach der obligatorischen Schulzeit begonnen werden konnte (links) und zum Gymnasium (rechts) – dargestellt.

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      Abbildung 2: Die Position der Fachmittelschule (damals: Diplommittelschule) im nachobligatorischen Bildungssystem (Quelle: EDK, 1977, S. 13)

      Gemäß den damaligen Planungen sollte die Schule zum einen vorwiegend auf