Rolf Arnold

Es ist später, als du denkst


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zutreffen; dergleichen wirklich zu wissen ist durch den Zuschnitt dieser Konzeption ausgeschlossen.« (ebd., S. 53 f.)

      Unsere galaktische Einsamkeit ist somit eine doppelte: Wir wissen nicht, weshalb uns die Evolution hervorgebracht hat und welchem Zweck sie dient, gleichzeitig können wir uns über diese Fragen auch nur im Binnenraum unserer Sprach-, Erfahrungs- und Lebenswelt austauschen – ohne die Sicherheit, dass wir mit unseren Erkenntnissen tatsächlich über diesen Binnenraum hinaus reichen. Diese Selbstwidersprüchlichkeit, dass in konstruktivistischen Konzepten »mehr als sichere Erkenntnis vorgestellt wird, als man plausibel im Kontext konstruktivistischer Positionen belegen kann« (de Haan/Rülcker 2009, S. 61), kann jedoch nur demjenigen als »Problem« aufstoßen, der mit der Dezentralisierung des Menschseins seine Schwierigkeiten hat. Er verfolgt selbst eine grenzüberschreitende Intention und glaubt an die Möglichkeit universalisierbarer sowie objektiv gültiger Aussagen über das Sein oder über das, was man über das Sein zu erkennen vermag, ohne diese privilegierte Möglichkeit allerdings überzeugend herleiten und glaubwürdig letztbegründen zu können. Auch er hofft ohne Glaubwürdigkeit.

      Wir bleiben in unserer galaktischen Einsamkeit – erklärenden Sprachspielen lauschend, die uns jedoch nicht wirklich durchdringen und die die Grenzen unserer Lebenswelt und unseres Planeten nicht zu überschreiten vermögen.

      Zu letztbegründenden Fragen gibt es zahlreiche Vorarbeiten und Anregungen aus der Philosophie, kann diese doch geradezu als die Gesamtheit aller systematischen Bemühungen um Letztbegründungen angesehen werden. Einige dieser Positionen kennenzulernen, ist das Ziel der vor uns liegenden Suchbewegung. Es geht dabei um die nüchterne Fokussierung des Lebenszieles, auf das wir uns alle zubewegen – meist ohne Begriffe, Erklärungen und Konzepte, die uns das Erwartbare und (noch) Mögliche in den Blick zu nehmen helfen. Ontologische Ernüchterung kann uns dabei helfen, unsere restbiografische Orientierung »ohne Geländer« zu denken und zu gestalten, um eine Formulierung von Hannah Arendt aufzugreifen, welche auch diese Aufgabe, vor die sich jeder Mensch gestellt sieht, treffend zu charakterisieren scheint (vgl. Ahrendt 2006). Dabei entstehen Begriffe, Konzepte sowie auch zahlreiche »grenzunterschreitende« Vorschläge (vgl. Wolandt 1971, S. 171). Diese geben nicht vor, Gewissheiten zu stiften, wo diese nicht zu haben sind. Und sie trösten nicht, indem sie das Menschsein einer Seinslogik einordnen, die mit den menschlichen »Bestecken« nicht erschließbar ist. »Ohne Geländer« heißt: nüchtern und mit großem Mut, zwar ungetröstet und untröstbar, aber gleichwohl kreativ.

      Meist gehen wir erschrocken und sprachlos mit den Zusammenbrüchen und Todesfällen in unserer näheren Umgebung um und versinken nicht selten in Ratlosigkeit, wenn uns selbst erste Schwächungen und Einschränkungen erreichen, ohne das Bewusstsein, dass es gerade diese Begrenzung des Lebens ist, die ihm seinen tieferen Sinn zu stiften vermag. Und gleichzeitig belächeln wir die späten Aufbruchsversuche, die wir ebenfalls beobachten können: die verspäteten Bemühungen, nochmals von vorne zu beginnen, oft mit einer späten Elternschaft einhergehend, oder die mehr oder weniger erfolgreichen Bemühungen, sich selbst und anderen mithilfe von Kosmetik oder gar Schönheitschirurgie einen anderen restbiografischen Verfügungsrahmen vorzutäuschen.

      Solche Bemühungen mögen lächerlich anmuten. Sie mögen auch Ausdruck einer Vorstellung von Leben und Menschsein sein, die die Gewissheit ihres eigenen Verfallsdatums ausblendet. Wir sind offensichtlich kaum in der Lage, aus dem Blick auf das eigene Ende unserem Leben einen Sinn und eine Orientierung zu stiften. Aber haben wir etwas Substanzvolleres anzubieten als eine mehr oder weniger fatalistische Untergangsgeschichte? Könnten diese Inszenierungen einer andauernden Lebendigkeit nicht auch Ausdruck eines »trotzigen Dennoch« sein? Dies zumindest ist die Grundhaltung des Existenzialismus, für den dieses Dennoch sogar zu einer »Versteifung« wird, wie der Lebensphilosoph Otto Friedrich Bollnow (1903–1991) sie charakterisierte. Für ihn war diese Haltung jedoch ungeeignet, das Ganze der menschlichen Existenz zu erfassen, sie »entartet zu einer Haltung trotziger Versteifung, die weltlos in sich selber kreist, unfähig, die Realität außer dem Menschen zu begreifen und seine Aufgabe in ihr zu erfüllen« (Bollnow 2009, S. 269).

      Doch was ist dieses Ganze der menschlichen Existenz? Ist es in seiner biografischen Figur ausreichend erfasst, wenn wir mit ihm das Sein des Menschen in einer Lebenszeit in den Blick nehmen und danach fragen, welche Deutungen ihn sicherer zu einem absehbaren Endpunkt zu tragen vermögen? Dieser Blick lässt vieles offen, wie z. B. das eigene Sein im Raum. Weder seine galaktische Einsamkeit wird ihm erträglicher noch die Zufälligkeit seiner historischen und regionalen Existenz. Diese herauszunehmen aus den denkbaren Erklärungsversuchen mag verkürzend anmuten, aber haben wir bei nüchterner Abwägung unserer Möglichkeiten eine andere Wahl, als die, das Transzendente aus unserer Positionsbestimmung vollständig auszuklammern, um uns im Hier und Jetzt zu versteifen?

      »Im Kern geht es doch um die Frage, wie wir uns in unserer Zufälligkeit selbst bewusst werden können« – so der Zwischenruf eines Teilnehmers in dem erwähnten Seminar. »Mir gelingt dies – ehrlich gesagt – nicht. Ich weiß, dass ich mich zu jemand ganz anderem entwickelt hätte, wenn ich auf einem anderen Kontinent oder in einem anderen Zeitalter geboren worden wäre, und das macht mich nervös. Und ich kann auch nicht wirklich umgehen mit der Einsicht, dass dieser Planet, auf dem wir leben, in acht Milliarden Jahren von der Sonne verschlungen werden wird. Zu der Frage ›Wozu dann das Ganze?‹ habe ich keine Antwort, ich bin aber verwundert darüber, dass ich diese Frage aufwerfe. Irgendetwas in mir möchte nicht, dass das Menschliche untergeht: Wahrscheinlich das Gefühl, nicht umsonst gelebt zu haben! Wenn alles dereinst vergeht, frage ich mich, wozu wir dann noch hier einige Jahre zubringen sollen, wenn es nicht dieses verdammt schöne Leben zu leben gäbe! Gleichzeitig ist mir bewusst, dass dieses Leben nicht für alle Menschen schön ist. Es gibt Krieg, Hunger und Leid!«

Zweite Etüde: Der spirituelle Selbstreflektor
Versuchen Sie, die folgenden Fragen des spirituellen Reflektors auf sich wirken zu lassen, und spüren Sie, welche Haltung Sie zu ihnen haben! Malen Sie dann ein Bild, in welchem Sie dieser Haltung Ausdruck verleihen.
»Wachheit für letzte Fragen« (von Hentig 2004, S. 77) •Gibt es Gott – d. h. einen Schöpfer des Universums und Herrn der Geschichte? •Hat die Welt einen Sinn, einen Plan? •Was ist dieser Sinn, worin offenbart er sich? •Was ist meine Bestimmung in ihm? Warum bin ich? •Warum bin ich ich? •Bin ich frei, von jenem Plan abzuweichen? •Wohin führt das? •Was kommt danach?
»Schattenakzeptanz« (sensu Verena Kast) •Was ist es, was mich am Gegenüber stört?Was genau löst dieses Stören aus?Wie reagiere ich normalerweise auf solche Störungen?Welche »alten Bekannten« melden sich dabei zu Wort?Wie begrüße ich diese?Wo trage ich das Störende selbst in mir?Was wäre, wenn ich es auch bei mir zulasse? Im Einklang mit den unklärbaren Fragen leben (im Sinne eines durchspürenden Sokrates: »Ich weiß – und ich spüre –, dass ich nicht weiß!«) Zugewandtheit leben und in Beziehung stehenWas suche ich in den anderen?Wie gehe ich auf sie zu?Wie wirke ich (wenn sie offen reden würden)?Was vermag ich zu geben?Nehme ich sie zu ihren Bedingungen wahr?Sind die anderen Teil meiner Inszenierung oder widme ich mich ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen?Welche Rollen besetze ich dabei immer wieder (in unterschiedlichen Lebenssituationen und Lebensphasen)?
Schweigen, nachdem alles gefragt ist (sensu Wittgenstein) •Aus welchem Stoff ist das, was mir gewiss erscheint?