Ich habe schon von Menschen gehört, die unbedingt einmal mit dem Hubschrauber fliegen wollten. Mit dem Rettungshubschrauber natürlich. Überhaupt, ich habe zunehmend das Gefühl, dass der Notarzt der neue Hausarzt ist. Schon das Wort Notarzt klingt einfach besser. Fernsehserien tun da sicherlich ihr Übriges. Nicht nur meine Patienten wissen, welche Worte man am Telefon benutzen muss, um von einem Notarzt begutachtet zu werden. Dazu gehören: »…leblos, bewusstlos, reagiert nicht, …auf die Brust gegriffen, … nicht ansprechbar, zusammengebrochen.«
Ich weiß, dass es Patienten gibt, für die im Optimalfall der Hubschrauber kommt. Denn, so der Tenor aller Angehörigen, lieber einmal zu oft, als einmal zu wenig. In der Ordination höre ich am Montag dann Sätze wie: »Jetzt hat unsere Oma auch einmal mit dem Hubschrauber fliegen dürfen.« Das Ganze wird natürlich dramatisch vorgetragen. Denn es ist den Angehörigen klar, dass ich mehr oder weniger entsetzt die Frage stellen werde: »Ja, was ist denn mit der Oma passiert?« Dann bekomme ich zum Beispiel zu hören: »Es war am Samstag, und wir wollten Sie nicht stören, aber wir waren uns nicht ganz sicher, ob sie nicht vielleicht einen Herzinfarkt hat, weil ihr nach dem Essen so schlecht geworden ist, und da haben wir uns gedacht, wir rufen zur Sicherheit halt die Rettung. Wir haben ja nicht gewusst, dass die uns gleich den Hubschrauber schicken werden. Aber vielleicht war es eh gut so, so ist die Oma gleich gründlich untersucht worden.« Und nach einer dramatischen Pause höre ich dann in den allermeisten Fällen: »Aber es war Gott sei Dank eh nichts, sie hat nur den Magen zu voll gehabt.«
Das scheinen auch die Leitgedanken des modernen Alarmierungssystems zu sein. Sicherheit und Gründlichkeit. Vordergründig für die Patienten, in Wahrheit aber um des Geschäftes willen.
Und es ist ein gutes Geschäft.
Natürlich fragen mich Patienten andauernd, wie viel denn ein Hausbesuch als Wahlarzt kosten würde. Meine lapidare Antwort darauf: »Rechnen Sie mit dem Preis, den Sie auch für einen Elektriker oder Installateur zu zahlen bereit sind.«
Vom Standpunkt der öffentlichen Hand aus gesehen bewegen wir uns dabei immer noch im Bereich von Bruchteilen der Kosten, wie sie im geschilderten Fall entstanden sind.
Seit aber eine Visite für den Patienten nicht mehr gratis ist und nicht mehr jederzeit gefordert werden kann, sind die Frequenzen von angeforderten Hausbesuchen dramatisch eingebrochen.
Dafür kann man die gelben Hubschrauber wesentlich öfter über unserem Ort sehen. Auch der Notarztwagen braust mit Blaulicht und überhöhter Geschwindigkeit regelmäßig durch die engen Gassen unseres Ortes. Zu Husten, Fieber und Schüttelfrost.
Denn der Zweck heiligt die Mittel.
Das kranke Gesundheitssystem
Wie die Gesundheit zum großen Geschäft wurde und warum wir trotzdem alle kränker und kränker werden
Diese Episode ist leider kein Einzelfall. Sie ist ein Mosaikstein im Bild eines teuren, aber wenig effizienten Gesundheitssystems. In diesem Buch blicke ich auf 38 Jahre Tätigkeit als Arzt im österreichischen Gesundheitssystem zurück. Den größten Teil davon habe ich als Landarzt erleben wollen, manchmal müssen, vor allem aber dürfen.
Ich bin weder Marktschreier noch Revolutionär, sondern ärztlicher Beobachter. Die Episoden in diesem Text bilden eine Anamnese des österreichischen Gesundheitssystems ab. Manche sind absurd, manche erheiternd und andere sehr ernst. In der Medizin sollte dem Patienten erst nach einer gründlichen Anamnese die Therapie empfohlen werden. Das gilt auch für das Gesundheitssystem selbst und geschieht im letzten Kapitel.
Es erfüllt mich mit Genugtuung, dass meine Beobachtungen und Erkenntnisse im »Länderprofil Gesundheit 2017«, herausgegeben von der OECD und dem European Observatory on Health Systems and Policies, ähnlich gesehen werden1. Die angestellten Überlegungen sollen beweisen, dass die derzeitigen Eckdaten des österreichischen Gesundheitssystems ein Einsparungspotenzial von mindestens sieben Milliarden Euro zulassen.
Ohne dass ein einziger Bürger unter schlechterer medizinischer Versorgung leiden müsste.
Tag und Nacht, Woche für Woche und Jahr für Jahr lassen sich im ganzen Land mit ein wenig Beobachtungsgabe und Geduld mehr oder weniger skurrile, bisweilen aber auch absurde medizinische Fälle ausfindig machen. Alleine die unnötig ausgegeben Summen im Bereich Erste Hilfe, Akutlabor, CT- und MRT-Untersuchungen, nicht notwendige Operationen wie zum Beispiel ein künstlicher Hüftgelenksersatz bei bettlägerigen Patienten und unzählige weitere medizinische Schildbürgerstreiche, die jeder Arzt und jeder Ökonom mit freiem Auge erkennen kann, ergäben insgesamt für jeden Steuerzahler eine mögliche Ersparnis von mindestens 2.000 Euro im Jahr. Ein Betrag, mit dem sich zum Beispiel jährlich ein entspannender Wellnessurlaub finanzieren ließe, oder nach zehn Jahren ein fabrikneuer Mittelklassewagen.
Was das Gesundheitssystem krank macht, sind Systemfehler.
Das beginnt schon beim Namen.
Streng genommen müssten wir von einem Gesundheitswiederherstellungssystem sprechen, oder von einem Krankheitsbehandlungssystem. Aber das klingt nicht so elegant und einprägsam. Die ehemalige Gesundheitsministerin Rendi-Wagner spricht in einem Interview im Sommer 2018 über die geforderten Einsparungsmaßnahmen der AUVA als Versuch »mutwilliger Zerstörung der solidarischen Gesundheitsversorgung« in Österreich. Ein finanziell schwerwiegender und weitreichender sprachlicher Fehler.
Worte wie »Gesundheitsversorgung« und »Gesundheitsreform« sind plakativ. Aber Gesundheit muss weder versorgt noch reformiert werden. Und eine »Gesundenuntersuchung« ist ein Widerspruch in sich, denn ein gesunder Mensch muss nicht untersucht werden.
Erst der weniger attraktive Begriff »Krankheit« ist zu versorgen.
Das einzige Gesundheitssystem, das ich als Arzt kenne, ist ein funktionierender menschlicher Körper. Wenn dieser Körper auch noch zu einem psychisch gesunden Menschen gehört, wäre ich zufrieden. Hätte aber auch keine Arbeit.
Denn die Grundlage meines Berufes sind Patienten. Aus dem Lateinischen übersetzt »Leidende«.
Die eigentliche Grundlage eines sogenannten Gesundheitssystems wäre also die Arzt-Patient-Beziehung.
Ein Leidender, ein Arzt.
Ein Mensch, der Hilfe sucht, und ein Mensch, der Hilfe anbietet. Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass der, der die Hilfe anbieten kann, Macht und Ansehen in Händen hält. Es geht also auf jeden Fall auch um Macht.
Der Arzt und sein Patient.
Das wäre die Kernzelle.
Das Samenkorn eines Gesundheitssystems.
Alles andere hat sich im Laufe der Zeit rund um diese besondere Beziehung entwickelt. Pflegedienste, Rettungswesen, Hospitale, Seelsorge und Spitäler, Universitäten, Pharma- und Medizinindustrie, Apotheken, Fachgesellschaften und Qualitätssicherungsinstitute, Patientenanwälte, Heiler und Schamanen, Homöopathen und Energetiker, Krankenkassen, Ärztekammern, Gesundheitsökonomen, Lenkungsausschüsse, Hauptverbände, Krankenanstalten-Holdings und -Verbände, Gesundheitsämter und Ministerien, die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. All diese Institutionen sind wie die Schalen einer Zwiebel rund um die Arzt-Patient-Beziehung entstanden. Sie haben Eigendynamik, Selbsterhaltungstrieb, Fortpflanzungstendenzen, Vernetzungen und Querverbindungen entwickelt. Sie kleben hartnäckig aneinander und sind ineinander verkeilt. Ein gordischer Knoten von Heilsversprechungen.
Vordergründig, um zu helfen.
Das kommt gut an.
In Wirklichkeit geht es jährlich um ein circa dreißig Milliarden Euro schweres Geschäft. Um circa elf Prozent des BIP. 2010 sind zum Beispiel 31,4 Milliarden Euro für den Bereich Gesundheitsdienstleistungen ausgegeben worden.
Es geht um Umsatz, Profit, Macht und Ansehen.
Aber Gesundheit ist nicht käuflich. Niemand kann Gesundheit produzieren, verkaufen oder sonst vermarkten. Ja, manchmal gelingt es uns Ärzten, Gesundheit oder einen Teil davon wiederherzustellen. Die chirurgischen Methoden unserer