Anfälle.
Die Ärzte schickten ihn mit Medikamenten gegen die Anfälle wieder nach Hause. Ich fischte mir seine Daten aus dem Computer und schrieb ihm einen unverfänglichen Brief: „Hey, wie geht’s? Wir haben uns im Krankenhaus kennengelernt. Melde dich doch mal.”
Wir verliebten uns und heirateten sehr schnell, es war zunächst eine sehr schöne und unbeschwerte Zeit. Jedoch hörten seine epileptischen Anfälle trotz der ganzen Medikamente nicht auf. Die Ärzte entschlossen sich zu einer Operation. Dabei fanden sie leider keine Zyste, sondern einen Hirntumor. Der Tumor meines Mannes hatte den Grad zwei bis drei. Das ist sozusagen die Grauzone zwischen gutartig und bösartig und legt eine Bestrahlung nahe.
Mein Mann wollte seine Krankheit nicht wahrhaben. Also musste ich mich allein damit befassen. Als ich alles darüber nachgelesen und begriffen hatte, dass der Tumor nach der Bestrahlung sehr wahrscheinlich wiederkommen würde, heulte ich zwei Tage lang ununterbrochen. Auch deshalb, weil ich gerade mit Zwillingen schwanger war und mich meine Familie mit meinem Wissen allein ließ.
„Unmöglich“, sagte meine Mutter. „Er stirbt nicht. Er sieht so gesund aus und er kriegt ja jetzt Kinder.“
Kurz nach meinem Studienabschluss, als die Zwillinge schon auf der Welt waren, musste bei meinem Mann eine zweite Operation durchgeführt werden, da der Tumor nachgewachsen war. Der behandelnde Neurochirurg meines Mannes führte mich in sein Büro. „Es ist jetzt ein sehr bösartiger Tumor, Grad vier“, sagte er. „Ihr Mann lebt nicht mehr lange. Er kann gerade noch das Notwendigste erledigen.“
Ich fragte mich in diesem Moment nur, was er denn regeln sollte, schließlich waren wir keine Millionäre, die schnell noch fünf Millionen von da nach dort schieben mussten. Immerhin war ich aber darauf vorbereitet gewesen, was mir in den nächsten Monaten bevorstand. Später, als ich selbst in der Neurochirurgie arbeitete, wurde mir klar, dass dieser Arzt noch sehr menschlich gehandelt hatte und ein guter Neurochirurg gewesen war. Die Neurochirurgen, die ich danach kennenlernte, ließen solche Hiobsbotschaften mal eben während der Visite am Fußende des Bettes fallen, und ehe die Patienten richtig kapierten, was sie eben gehört hatten, waren sie schon wieder weg.
Ich hatte Studienkollegen, die auch in der Chirurgie Praktika gemacht und dort gesehen hatten, wie den Patienten bei der Visite oder sogar am Gang ihre schweren Diagnosen, ihre Todesurteile sozusagen, mitgeteilt wurden. Viele Studenten sagten danach, sie würden niemals in die Chirurgie gehen wollen, denn sie wollten nicht zu solchen Monstern werden.
Der Tumor meines Mannes war also inzwischen bis zu Grad vier fortgeschritten, ein so genanntes Glioblastom. Das bedeutete, dass er noch rund sechs Monate zu leben hatte, eine Prognose, die dann auch ziemlich genau zutraf.
Ich verlor in dieser Phase eine Menge Illusionen über Menschlichkeit und Liebe, über Not und Nähe, über das Dasein für einander, über das „bis der Tod euch scheidet“ und über mich selbst. Zwischen dem Hoffen und dem Verdrängen meines Mannes, in einer Zeit, in der Zukunftsplanung für mich zu einem Tabuthema wurde, fingen wir schrecklich zu streiten an. Wir trennten uns sogar noch, ehe er in einem deutschen Pflegeheim starb.
Ich hatte dabei gelernt, wie wenig in unserer Gesellschaft Leben und Tod zusammenpassen. Meine Lebenssituation hatte mich unter meinen Studienkollegen zur unwillkommenen Person gemacht. Wenn ich mit einigen von ihnen bei einem Glas Wein saß und ihnen von mir erzählte, sah ich sie danach höchstens noch aus der Ferne an der Uni. Ist auch ganz klar, keiner traut sich mehr über seine alltäglichen Probleme zu reden. Die Leute kommen sich blöd vor, wenn sie über ihr Übergewicht, einen vertrottelten Professor oder einen Artikel in einer Zeitschrift diskutieren, und es sitzt jemand daneben, der denken könnte, wie unnötig und oberflächlich solche Gedanken sind. Aber gerade in schwierigen Lebenssituationen wäre genau so etwas mal notwendig. Denn die Gespräche mit meinem Mann, das war immer wie ein Tanz auf einem Minenfeld. Nächstes Weihnachten, nächstes Ostern, das durfte ich alles nicht ansprechen, wir wußten ja nicht, ob er nicht möglicherweise im Krankenhaus ist. Nächster Sommerurlaub, den Gedanken daran bloß vermeiden. Würde er da überhaupt noch leben? Ständig kleine Messerstiche ins Herz, unbemerkt, aber doch scharf.
Gerade Ärzte tun sich manchmal schwer, mit dem Tod in ihrer eigenen Nähe umzugehen. Eine Neurochirurgin, mit der ich später im Team arbeitete, musste ihren Mann, der an Darmkrebs litt, über viele Monate durch die Krankheit begleiten. Sie begleitete ihn durch all die Therapien, nur um am Ende zuzusehen, wie die Schmerzmittel nicht mehr wirkten und er hilflos starb. Sie stellte daraufhin die Sinnhaftigkeit unseres Tuns grundlegend infrage. Wenig später bekam sie Bauchschmerzen, und ein Arzt diagnostizierte viel zu voreilig auch bei ihr Darmkrebs. Eben hatte sie noch gedacht, durch die Hölle gegangen zu sein, jetzt sah es so aus, als läge die erst vor ihr. Es war dann nur ein Blinddarmdurchbruch, aber sie hatte dennoch genug. Sie schickte uns wenig später eine Ansichtskarte aus der Karibik, mit Segelboot und blauem Meer. Sie kam nie wieder.
Ich denke, bei mir lief es umgekehrt. Mich hat dieses Spannungsverhältnis zwischen meinen kleinen Kindern und meinem sterbenden Mann, zwischen dem prallen Leben und dem Tod, sogar angetrieben. Ich habe mich in einer Zeit für die Neurochirurgie entschieden, als ich alle sechs Monate auf einen neuen Befund warten musste. In einer Zeit, in der ich mich ständig fragte, wie schlimm es werden würde und wie lange es noch gehen würde, und in der ich wegen meiner reaktiven Depression Psychopharmaka bekam.
Auch mir teilte ein Oberarzt bei meinem ersten Hearing durch die Blume mit, dass ich es mir besser noch einmal überlegen sollte, und auch ich ließ mich davon in meinem Schwung nicht bremsen.
„Sie haben doch Kinder“, sagte er. „Ich hoffe, Sie wissen, dass Sie bei uns immer erst frühestens um acht Uhr abends heimkommen, und zwar jeden Abend. Am Wochenende sind alle Kollegen hier und arbeiten in der Bibliothek, und ich meine damit wirklich alle, nicht nur die Diensthabenden.“
Den Job bekam ein anderer, aber ich suchte weiter. Jetzt erst recht die Neurochirurgie, dachte ich. Aber wollte ich Menschen retten, als ich meine Berufswahl traf? Wollte ich verhindern, dass es anderen Menschen so ging wie meinem Mann, oder ihr Schicksal zumindest verbessern? Schließlich bringt selbst eine erfolgreiche Tumoroperation nie Genesung sondern immer nur Lebenszeit, meistens nur ein paar Monate.
Ich weiß es nicht. Ich glaube, es stimmt schon, die Grundlage meiner Entscheidung für die Medizin war mein Wunsch nach einem schicken Leben, und meine Entscheidung für die Neurochirurgie fiel höchstens aus Neugierde. Ich wollte wissen, was da passiert war. Ich wollte wissen, was so einen Schatten über mein Leben als junge Frau und Mutter geworfen hatte. Vielleicht heißt das, dass es auch mir bei meiner Entscheidung nicht um die Menschen, sondern um die Krankheit ging.
Den Oberarzt, der mir meine Berufsentscheidung nicht ausreden wollte und mir meine erste Stelle als Assistenzärztin an einer neurochirurgischen Abteilung gab, kannte ich. Er kannte mich ebenfalls. Er ordnete mich nur falsch zu.
„Sie waren doch in unserem Endoskopiekurs“, sagte er bei meinem Bewerbungsgespräch.
Ich nickte. Dabei stimmte es nicht. Ich erzählte ihm nichts davon, wie er mir einmal mitgeteilt hatte, dass mein Mann, der Vater meiner kleinen Babys, nur noch wenige Monate zu leben hätte. Ich habe es ihm bis heute nicht erzählt.
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