erster Kunde: ein Mann um die vierzig.
Mein letzter Kunde: ein Monteur im Hinterzimmer eines Striplokals.
Dazwischen: zwei lange Jahre als Hure, Hunderte „Kunden“ – Extremerlebnisse.
Das Elend von Verstrickung, irrigen Vorstellungen über Liebe und Körperlichkeit, das sich schon in der Kindheit seine ersten Linien bahnte, ist Vergangenheit.
Dieses Buch ist im Grunde ein unvollständiges Buch. Vieles, was ich niedergeschrieben hatte, habe ich schlussendlich wieder gelöscht – zum Schutz von und aus Achtung vor mir nahestehenden Menschen. So sind zum Beispiel die symbiotischen Verstrickungen einer destruktiven und gewalttätigen Beziehungsdynamik nur noch angedeutet.
Es ist meine Geschichte. Ich glaube aber, es ist mehr als nur meine Geschichte. Prostitution ereignet sich nicht einfach so: weder aus Geldgier noch aus Geilheit noch aus Perversion. In all den langen Jahren meiner Praxis als Therapeutin habe ich immer wieder von meinen Klienten gehört, wie verschlungen und verdeckt die Pfade sein können, die sie bis hin zum bezahlten Sex in das Elend der käuflichen „Liebe“ gezogen haben. Wie viele dieser Wege bin ich mit ihnen zusammen gegangen! Oft habe ich in Gedanken meinen eigenen Weg noch einmal durchschritten.
Dieser Weg beginnt Anfang der 1960er-Jahre in gutem katholischem Hause in einer deutschen Kleinstadt. Ein wohlerzogenes Kind. Klavier- und Geigenunterricht, Gymnasium, brav und schön. Das Motto zuhause: „Halte dich immer bedeckt. Zeige dich nicht.“ Möglichst unsichtbar sein. Ich hab’s versucht. Bloß nicht stören. Die Eltern, sie waren mit sich und ihrem beruflichen Fortkommen beschäftigt, sie haben mich übersehen. Ich habe sie nicht stören wollen. Auch nicht, als mich im Kinderzimmer ein Verwandter missbraucht – jahrelang. Meine Tränen, mein verzweifeltes Flehen nach den Eltern waren stumm. Die Tür blieb geschlossen. Keiner hat hingeschaut und hingehört, als Musiklehrer, Nachhilfelehrer und sogar der Religionslehrer dem Weg meines Verwandten folgten. Das Kind war folgsam, stumm – und verzweifelt.
Der Weg in die Prostitution beginnt nie mit einem Schritt über den Rubikon. Aber nach dem Schritt über den Rubikon wieder ein selbstbestimmtes Leben in Glück und Gesundheit zu erlangen, ist ein seltenes Geschenk. Sexuelle Gewalt oder auch emotionale Vernachlässigung werden sehr oft zunächst von der Familie nicht bemerkt, manchmal sogar geduldet, meistens negiert. Der Beginn – und das ist die bittere Erkenntnis meiner langen therapeutischen Praxis – liegt fast immer in der Kindheit. Die Sehnsucht nach Liebe, Zugehörigkeit, Zärtlichkeit, Nähe wird nicht erfüllt und öffnet damit die Einfallstore für sexuellen oder emotionalen Missbrauch, manchmal für Gewalt, oft für Abhängigkeit.
Ich bin vierzehn, im Tanzkurs, verliebe mich. Ein Junge, drei Jahre älter. Ich weiß nichts von seiner Kindheit. Ich weiß nichts von Kindheitstraumata und ihren Folgen. Ich weiß nichts davon, dass sich sexuelle und emotionelle Gewalt häufig fortsetzen. Mein Retter – glaube ich zumindest.
Mit sechzehn sitze ich bei meinem Retter auf dem Rücksitz seines Mopeds. An der Ampel dreht er sich zu mir um und sagt: „Übrigens, ich habe mit deiner Freundin geschlafen.“ Was macht ein braves Kind? Was hat es von den Eltern gelernt? „Zeige dich nicht. Halte dich bedeckt.“ Das sind die Mechanismen. Das sind die Weichen, die immer weiter zum Rubikon führen. Ich heirate meinen Retter mit gerade zwanzig Jahren. Das Abitur in der Tasche, keine Ausbildung, kein Einkommen, aber das Glück eines Kindes. Bei der Heirat bin ich im fünften Monat. Die Ehe bringt meinem Mann deutliche Vorteile: Damals mussten junge Männer noch zum Militärdienst, waren sie verheiratet, wurden sie manchmal nicht einberufen. Mit jedem Schwangerschaftsmonat entfernt er sich weiter von mir und meiner Hoffnung, wie Partnerschaft, Liebe und Wertschätzung zwischen Mann und Frau aussehen könnten.
Die Botschaft aus der Kindheit wirkt übermächtig: Du musst mit deinem Mann zusammenbleiben, bis dass der Tod euch scheidet. Egal, was geschieht, egal, was er tut, er ist dein Mann, der Vater deines Kindes.
Solche zementierten, einengenden Glaubenssätze verunmöglichen jungen Menschen oft situationsadäquate Handlungsweisen. Sie lassen sie immer tiefer in ihr Elend treiben. Belastende Kindheits- und Jugenderfahrungen, die wichtige Entwicklungsschritte verhinderten, sind der weitere Treibsand.
Ich muss alleine für unser Kind sorgen. Von der Caritas ein Jahr lang alimentiert. Meine Eltern, mein Mann, sie lassen mich im Stich. Und trotzdem halte ich zu ihm. Fühle mich ihm zugehörig und verbunden. Ich versuche es parallel zu Uniseminaren und Vorlesungen mit dem Verkauf von geklauten Äpfeln, suche irgendwelche Quellen, um das Nötigste für mein Kind und mich zu beschaffen. Irgendwann lande ich mit Kind im Tragetuch auf der Polizeiwache: im Supermarkt ein Pfund Käse gestohlen. Ich habe Glück. Es gibt keine Anzeige. Aber eine junge Polizistin. Sie fragt mich: „Was soll denn dein Kind mal von dir lernen? Dass man klaut?“ Da weiß ich, so geht es nicht weiter. Mein Vater versagt mir seine finanzielle Unterstützung: „Ich zahle doch nicht für das Kind, während dein Mann durch fremde Betten turnt!“
Freie Ehe, Gruppensex, mein Retter war fasziniert von dem, was er als Revolte gegen verkrustete Konventionen verstand. „Zeige dich nicht. Halte dich bedeckt. Gehorche deinem Mann.“ Sex als Konsum. Immer mehr. Immer neue Reize. „Gehorche deinem Mann.“ Sexualität und Geld. Ich brauche Geld. Den Job nachts als Bedienung kann ich nicht durchhalten. Eine Idee, eine Zeitungsanzeige. Der letzte Schritt vor dem Rubikon.
Zeitsprung
Im Haus meiner Eltern hingen im Treppenhaus viele Fotos, schon in meiner Kindheit. Meines Vaters Leidenschaft war das Fotografieren. Vielleicht, weil er ganz dabei sein konnte und zugleich verschwunden, nicht sichtbar. Im Keller hatte er ein Schwarz-Weiß-Labor eingerichtet. Damals wurde noch analog auf Film fotografiert. Wenn die rote Lampe an der Kellertür leuchtete, war das Eintreten streng verboten. Er entwickelte. Alle hielten sich daran. Er war ganz dabei und zugleich verschwunden. Zutritt verboten.
Mein Vater starb vor einigen Jahren. Eine dicke Staubschicht legte sich auf die großen schwarzen Geräte, und als meine Mutter aus dem Haus auszog, blieben einige der Schwarz-Weiß-Fotos hängen. Ich ging noch einmal durch das Haus. Nah und gleichzeitig fremd, weit weg.
Die Schwarz-Weiß-Fotos im Treppenhaus. Sie waren mir auf eigentümliche Weise so vertraut, dass ich sie wie mit dem Treppenhaus verwachsen und nicht mehr als Aufnahmen aus einer anderen Zeit wahrnahm. Plötzlich, wie ich das Mädchen mit ihren ernsten Augen, mit ihrer Weichheit hinter den ernsten Augen ansah, sah ich auch wieder auf die Fotos. Ich sah auf dem Foto eine junge Frau, die auf ihr Kind sieht. Ihr Kopf ist leicht schräg, die langen Haare fallen ihr ins Gesicht, sie hält ihr Kind auf dem Arm, lächelt ihr Kind an, ein kleines Baby, sie stützt den kleinen Rücken mit ihrer Hand, es kann noch nicht alleine sitzen, hält sich schon aufrecht und sieht ins Gesicht der Mutter. Ich erkenne mich. Ich bin die junge Frau. Die Mutter. Wie weich ihre Gesichtszüge sind. Wie kindlich ihr Gesicht. Wie liebevoll sie auf ihr Kind blickt. Ich erkenne mich und falle im selben Moment aus der Zeit – in die Zeit vor der Prostitution.
Ich falle in meine Erinnerung. Ich falle in meine Weichheit. Wie jung ich war. Voller Zuversicht und Zartheit. Unberührt in eigentümlicher Weise. Die Mutter und ihr Kind. Das Motiv der Madonna mit ihrem Kind. Geschützt und zugleich schützend. Geborgen und zugleich bergend. Es ist ein so langer Weg von mir heute bis zurück, bis hin zu dieser weichen, unberührten Zuversicht. Und doch ist der Weg da. Ist das Früher und das Heute in mir verbunden. Wie dankbar ich bin.
Die Augen der jungen Frau sind eine Spur zu ernst, finde ich. Vielleicht ist das aber auch nur meine Fantasie, weil ich um das Kommende weiß. Wie auch immer. Tief berührt hänge ich das Bild ab und trage es nach Hause. Vorsichtig. Wie wenn ihm nichts geschehen dürfte. Wie wenn die junge Mutter mit ihrem Kind mit behutsamen Händen und mit noch behutsamerem Herzen getragen werden müsste.
Der Abzug löst sich etwas ab von der Sperrholzplatte, auf die mein Vater ihn geleimt hat. Vorsichtig entstaube ich die junge Mutter mit ihrem Kind. Vorsichtig befestige ich den Abzug wieder auf seinem Untergrund. Ich mache das Bild langsam mit meiner jetzigen Wohnung vertraut. Ich lasse beide sich langsam kennenlernen. Ich lasse das Bild einen guten Platz suchen. Das dauert. Im Laufe der letzten Monate hat es schon mehrere Plätze gefunden. Es wandert durch meine Wohnung, bewohnt viele verschiedene Plätze, entfaltet verschiedene Wirkungen in meiner Wohnung