welcher zur Grundlage einer kritischen Theorie werden müsse.13 Die Frage nach dem Verhältnis kritischer Theorie zur Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie und zur Philosophie ist daher weiterhin zu stellen.
Die klassische deutsche Philosophie ist mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft historisch verbunden. Freiheit und Gleichheit wurden sowohl zu gesellschaftlichen Zielen wie zum Zentrum der Philosophie. Die Freiheit des Willens wurde mit der Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft zur Grundlage der Verfassung dieser Gesellschaft. Hegel feierte die Französische Revolution dafür, dass in ihr sich das »Prinzip der Freiheit des Willens […] gegen das vorhandene Recht geltend gemacht« habe14. »Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte sich mit einem Male geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten.«15 Die Philosophie feierte diese Befreiung als Verwirklichung ihrer Ideen und sah ein Zeitalter der Vernunft hereinbrechen. Hegels Formulierungen hierzu sind sehr treffend, wenn er den Zusammenhang von Philosophie und Herrschaft gerade in Bezug auf die Verwirklichung des Prinzips der Freiheit des Willens bezieht: »Das Bewußtsein des Geistigen ist jetzt wesentlich das Fundament, und die Herrschaft ist dadurch der Philosophie geworden.«16
Das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit in der an Marx anschließenden kritischen Theorie arbeitet auch Marcuse in Vernunft und Revolution als die Entstehung der Gesellschaftstheorie im Anschluss an die Hegel’sche Philosophie heraus. Mit Marx, so Marcuse, ist die ›negative Philosophie‹ Hegels in eine kritische Theorie der Gesellschaft überführt worden, was ein notwendiger Schritt war: »Wenn es über diese Philosophie [die Hegel’sche Philosophie; S. H.] hinaus irgendeinen Fortschritt geben sollte, so mußte es ein Schritt über die Philosophie selbst hinaus sein, ein Schritt, der zugleich über die gesellschaftliche und politische Ordnung hinausging, mit der die Philosophie ihr Geschick verbunden hatte.«17 Wie dieser Schritt auszusehen habe, dies arbeitet die kritische Theorie – angefangen bei Marx – durch die kritische Auseinandersetzung mit idealistischer Philosophie heraus.18 Dabei stellt das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit den Angelpunkt der Kritik dar. Marcuse: »Der Übergang von Hegel zu Marx ist in jeder Hinsicht der Übergang zu einer wesentlich anderen Gestalt von Wahrheit, die in den Begriffen der Philosophie nicht interpretiert werden kann.«19 Diese ›andere Gestalt von Wahrheit‹ ist an das besondere Verhältnis von Theorie und Praxis in der bürgerlichen Gesellschaft gebunden. »Wir werden sehen, daß alle philosophischen Begriffe der Marxschen Theorie gesellschaftliche und ökonomische Kategorien sind, während Hegels gesellschaftliche und ökonomische Kategorien allesamt philosophische Begriffe sind.«20 Adorno und Horkheimer waren seit Beginn ihrer Zusammenarbeit in den 1930er Jahren mit der Frage beschäftigt, wie eine andere Gestalt von Philosophie aussehen müsste und wie nach dem Scheitern des Hegel’schen Idealismus und auf Grundlage der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie Philosophie und Gesellschaftstheorie auszusehen hätten.21
›Kritische Theorie‹ wird in dieser Arbeit im engeren Sinne als dasjenige Theorie-Konzept verstanden, welches das Institut für Sozialforschung um Adorno und Horkheimer entwarf und fortentwickelte, wobei die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie als dessen notwendige Basis verstanden wird – was im Laufe der Arbeit begründet wird. Zur ›kritischen Theorie‹ werden hingegen nicht all jene sozialphilosophischen und soziologischen Theorien gezählt, welche heute auch unter diesem Label bekannt geworden sind und vermarktet werden: die sogenannte kommunikationstheoretische Wende, welche Habermas in den 1980er Jahren proklamierte, um die angeblich offene Begründungsfrage kritischer Theorie zu klären; die prominent von Honneth vollzogene Umdeutung kritischer Theorie in eine (dem Anschein nach) an Hegel anschließende Theorie der Anerkennung; auch die Versuche, die Marx’sche Theorie einer von politischen Implikationen bereinigten ›neuen‹ Lektüre zuzuführen. Derlei Entwicklungen können ihren Gegenstand nicht begreifen und stellen angesichts des Gegenstandes – der fortschreitend zerstörerischen kapitalistischen Herrschaft – eine Kapitulation der Theorie dar.
Solche Kapitulation, die zuallererst die Philosophie vollzog, widerspricht, so soll gezeigt werden, dem Anspruch der Philosophie selbst. In der klassischen deutschen Philosophie finden sich Widersprüche, welche nicht philosophie-immanent aufzulösen sind. Kritische Theorie hat an solchen Widersprüchen anzusetzen und muss ihnen auf den (gesellschaftlichen) Grund gehen. Im zweiten Kapitel werden daher Grundbegriffe kritischer Theorie in Bezug auf die Frage ›Was heißt Kritik der Philosophie?‹ herausgearbeitet. Dabei wird deren immanente Beziehung auf das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehoben. Es zeigt sich, dass die Kritik am Positivismus und am Idealismus in den Gesellschaftswissenschaften eine zentrale Bedeutung für die kritische Theorie hat. Entgegen verbreiteter Interpretationen ist die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie die Grundlage jeglicher kritischen Theorie. Deswegen sollen hier deren fundamentale Begriffe erläutert werden.
Im dritten Kapitel wird in Anlehnung an das zweite Modell der Negativen Dialektik der Begriff der Freiheit in der klassischen deutschen Philosophie und in der bürgerlichen Gesellschaft entfaltet. Ausgehend von der transzendentalen Idee der Freiheit, wie sie Kant in der Kritik der reinen Vernunft in einer Antinomie entwickelte und in der Kritik der praktischen Vernunft durch das moralische Gesetz positiv bestimmte, werden die Antinomien der Moralphilosophie auf die kapitalistische Verfassung der Gesellschaft bezogen. In einer Gesellschaft, in der das widersprüchliche Prinzip der Verwertung des Werts zum beherrschenden Subjekt geworden ist, steht auch die Moral(-philosophie) vor unauflöslichen Antinomien, was Adorno an Kant zeigte. Die Reflexion auf Moralphilosophie führt nicht zur Herstellung eines neuen moralischen Prinzips, sondern treibt Vernunft durch das Bewusstsein der unauflösbaren Antinomien dazu, den Bereich der klassischen Moralphilosophie zu überschreiten. Mit Hegel ist Freiheit historisch zu bestimmen. Das Unterkapitel zu »Freiheit und Geschichte« beinhaltet eine kritische Auseinandersetzung mit dem Hegel’schen Begriff des Weltgeistes. Mit der bürgerlichen Gesellschaft begann sich die Idee individueller Freiheit zu verwirklichen. Nachdem diese bürgerliche Gesellschaft durchgesetzt war, wurde diese Idee wirklich und herrschend. Die Idee der Freiheit ist, geht man von Hegel aus, mit dem kontinuierlichen Fortschreiten des Weltgeistes verknüpft. Dies gilt als ›historischer Fortschritt‹. Doch dieser ›Fortschritt‹, der über die Opfer des Fortschritts hinwegfegt, geht mit dem progressiven Voranschreiten der Akkumulation des Werts einher. Deswegen ist der Begriff des historischen Fortschritts von einer Dialektik erfasst, welche nicht hegelsch aufzulösen ist.
Mit Marx ist zu zeigen, dass und wie die Idee der individuellen Freiheit und die Herrschaft des Kapitals in eine Einheit getreten sind, was die Idee der Freiheit (ihren Begriff und ihre Wirklichkeit) verändert. Die Argumentation muss daher von der Begründung des Privateigentums in der klassischen deutschen Philosophie, die das Privateigentum als Realisierung der ideellen Freiheit betrachtete, mit ihren Aporien, die insbesondere in Auseinandersetzung mit der Kant’schen Philosophie herausgearbeitet werden, zum Kern der Sache übergehen, nämlich zum Verhältnis von Freiheit und Kapital. Das Kapital negiert nicht einfach nur die Freiheit der Subjekte, sondern stellt die historische Verwirklichung der Freiheit dar, weshalb Freiheit nicht zum positiv gesetzten Maßstab der Kritik dienen kann. Die Idee der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft und die Durchsetzung der Herrschaft des Werts sind nicht voneinander zu trennen. In dieser Konstellation ist Freiheit historisch als Einheit von Freiheit und Unfreiheit wirklich geworden. – Und dies ist der Grund dafür, warum einer kritischen Theorie die Kritik der Philosophie wesentlich ist.
Das vierte Kapitel führt die Argumentationen zusammen und bezieht die Ergebnisse kritisch auf aktuelle (in der Tradition kritischer Theorie sich wähnende) Positionen in der Sozialphilosophie, welche eine solche immanente Kritik gerade nicht vollziehen, sondern entweder unkritisch an die traditionelle Philosophie anschließen oder aber gleich die Philosophie aus der Gesellschaftstheorie ausschließen wollen. Resümierend wird das Verhältnis von Kritik der Philosophie und Kritik der politischen Ökonomie in einer kritischen Theorie der Gesellschaft erörtert. Die Loslösung der kritischen Theorie von ihrer grundlegenden Basis und ihrem geistigen Kraftzentrum führt dazu, dass ›kritische Theorie‹ zur Legitimationswissenschaft gemacht werden kann.
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