Cassandra Light

Hungern für die Liebe


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denn nicht bei Erwachsenen, beispielsweise bei einem Vierzigjährigen, auch so? Im Inneren sind wir doch alle klein, verletzlich und sehnen uns danach, dass sich unsere Bedürfnisse erfüllen. Wie auch immer das aussehen mag, wenn man an die Lebenspartner, an Freunde oder das sonstige Umfeld denkt.

      Zu diesem Zeitpunkt war ich jedoch in der Klinik, und die in mir wachsenden Bedürfnisse konnten nicht berücksichtigt werden. Die erste und wichtigste Priorität war meine Gewichtszunahme. Wie ich mich dabei fühlte, war unwichtig. Ich musste damit fertigwerden und allein einen Weg finden, das alles durchzustehen. Mir blieb also nichts anderes übrig, als schnell erwachsen zu werden. Gefühle und Bedürfnisse blieben dabei auf der Strecke und ich lernte sie zu verdrängen.

       Heute haben wir mit dem Grazer Modell angefangen.

       Ich wurde vor dem Frühstück gewogen (34,2 kg).

       Das heißt, morgen früh muss ich 34,3 kg wiegen, sonst bekomme ich Bettruhe.

       Liebes Tagebuch, ich klebe morgen das Grazer Modell auf einem Zettel hier rein, dann sieht man, wie hart die hier sind.

       Ich musste heute Morgen ein Brötchen essen, was mir schon fertig auf den Tisch gestellt wurde. Ich sitze ganz alleine an einem kleinen Tisch. Die Marmelade, die ich auf dem Brötchen hatte, war so dick geschmiert … Oh Gott.

       Ich habe das Brötchen nicht geschafft. Sie haben es mir weggenommen. Ich habe nur eine halbe Stunde Zeit zum Essen.

       Na ja, dann so um 9.30 Uhr gab es Zwischenstück – einen Joghurt. Den habe ich geschafft, oder besser gesagt, den musste ich schaffen.

       Um 11.30 Uhr gab es Mittag. Igitt, Pilzpfanne! Mit Fleisch und Pilzen in Soße und Reis, danach Kirschen. Das hat alles richtig künstlich geschmeckt.

       Das habe ich natürlich auch nicht ganz geschafft. Die Kirschen habe ich aber noch essen können. Die sollte ich auch wenigstens noch essen. Anschließend haben sie mir mein Mittag dann auch noch weggenommen.

       Um 14.30 Uhr gab es Kaffee. Ich dachte, ich gucke nicht richtig. Es gab eine Rolle mit Kirschen und Pudding. Natürlich mit viel Pudding – das war klar. Ich esse doch keinen Pudding.

      Jetzt, wo ich diese Zeilen aus meinem Tagebuch abschreibe und mir das alles noch einmal in Erinnerung rufe, wird die Verzweiflung zum damaligen Zeitpunkt ganz deutlich.

      Man könnte durchaus denken, dass die Lebensmittel, die es dort zu essen gab – und die ich nicht wollte! –, aufgrund der Essstörung von mir abgelehnt wurden. Dem ist jedoch nicht so.

      Schon zu Zeiten, in denen ich in den Kindergarten ging, konnte ich einige Lebensmittel nicht essen, da sie mir sonst »postwendend« wieder hochgekommen wären. Dazu zählte und zählen noch heute Pudding und Produkte mit viel Milch wie beispielsweise Milchnudeln, Grießbrei oder auch Sauce Carbonara. Bei diesen Lebensmitteln sträuben sich mir die Haare. Heute sehe ich Nahrungsmittel als Heilmittel, je nach Qualität der Nahrung und der individuellen Konstitution eines jeden.

      Aus diesem Thema – Lebensmittel, die einem gut bekommen, die man mag oder die einem nicht schmecken – kristallisiert sich für mich eine wichtige Sichtweise heraus. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es für viele Angehörige, Ärzte, Psychologen etc. natürlich naheliegt, gerade bei Essgestörten beziehungsweise suchtkranken Menschen von bestimmten Vorurteilen auszugehen. »Es sind immerhin Suchtkranke, und deren Glaubwürdigkeit ist oft infrage gestellt.« Zu diesem Thema wird viel gelesen, erzählt und gedacht. Wichtig ist aus meiner Sicht jedoch, vorurteilsfrei zu bleiben und jeden »kranken« Menschen individuell zu betrachten, ihm oder ihr Gehör zu schenken und ein vertretbares Maß zwischen Glauben und Hinterfragen zu finden. Aufgrund von allgemeingültigen Meinungen oder schulmedizinischen Erfahrungsberichten Essgestörte oder andere suchtkranke Menschen einzuordnen und sie zu be- oder verurteilen, halte ich für fragwürdig. Sicher finden sich Parallelen in den Krankheitsbildern, jedoch sollte dies nicht das Maß aller Dinge sein.

      Vielmehr gelten Züge wie »Urteilsfreiheit, interessiertes Hinterfragen und das jeweilige individuelle Wesen für sich zu sehen« als wertvoll. Und zwar in therapeutischer Hinsicht ebenso wie im familiären Umfeld und auch für die betroffene Person selbst. All dies ist in der heutigen Zeit in viele Bereiche übertragbar. Aus meiner Sicht ist es auch sinnvoll, Menschen und Situationen individuell zu betrachten, sie zu hinterfragen und sich dann mit dem globalen Wissen einen Weg zu bahnen.

      Niemand braucht schwarz-weiß zu denken – in die eine oder andere Richtung – und dann die daraus gewonnene Erkenntnis in eine geeignete »Schublade« zu drücken. Nein, denn wir haben die Freiheit, den Menschen mit seinen ganz eigenen Themen, Beweggründen und Vorlieben individuell zu sehen. Und das können wir tun!

       Ich habe es probiert, es aber dann nicht gegessen. Dafür habe ich mir einfach etwas anderes genommen, was nicht erlaubt ist. Ich habe jedoch gefragt, ob ich so einen komischen anderen Kuchen mit Rosinen essen darf. Der hat ekelig süß geschmeckt, weil da purer Zucker drüber war.

       Das war irgendwie alles nicht mein Fall.

       Hauptsache, es gibt zum Abendbrot etwas, was man wenigstens runterbekommt.

       Na ja, zu Hause schmeckt es besser.

       Ich glaube, bald muss ich schon wieder Abendbrot essen. Danach dann Spätstück.

       Das ist viel, was? Das sind sechs Mahlzeiten (2.500 kcal) am Tag. Schrecklich!

      Hier wird klar, dass das Thema »Essen« und eine damit verbundene Angst den größten Teil meiner Gedanken einnahmen. Wann wird gegessen? Was muss gegessen werden? Ist das für mich zu schaffen?

      Mich begleitete eine tiefe Abneigung gegen das Essen und im Endeffekt eine Abneigung gegen mich selbst. Eine Abneigung gegen das Leben.

      Die folgenden Zeilen fühlen sich wie Widerstand, Angst und Verzweiflung an.

       Morgen früh werden wir ja sehen, wie viel ich wiege. Drücke mir BITTE die Daumen für morgen früh und auch dafür, dass das Abendbrot und Spätstück erträglich sind – nicht so ekelig.

       Ich will hier raus!

      Ich war so jung, und ja, ich war verzweifelt und wollte mich befreien. Aber ich konnte es nicht. Das ist heute anders, jedoch hat mich diese intensive Zeit des »Eingesperrtseins« geprägt.

      Heute bin ich meistens hellwach, achtsam und schaue: Komme ich hier raus? Egal wo ich bin, ich versichere mich immer wieder, dass ich irgendwo »rauskomme«.

      Ich fahre weg und achte darauf, nicht in einen Stau zu geraten, bei dem es keine Umleitung gibt. Ich gehe feiern und schaue, wo der Notausgang ist. Oder ich gehe einkaufen und registriere sehr genau, wo der Ausgang ist, wo ich rausgehen darf. Egal in welcher Situation ich auch sein mag, einer der wichtigsten Gedanken für mich ist: Ich kann hier raus!

      Heute bin ich, abgesehen von diesen Gedanken des Bloß-nicht-noch-maleingesperrt-Seins, bereits »frei«. Das versichere ich mir oft selbst in Form der Achtsamkeit bezüglich möglicher »Fluchtwege«.

      Am folgenden Nachmittag schrieb ich folgende Zeilen:

       Samstag, der 02.12.2000

       Hallo liebes Tagebuch!

       Als ich heute Morgen gewogen worden bin, habe ich nicht zugenommen. Jetzt habe ich den ganzen Tag Bettruhe.

       Na toll. Ich bin ganz alleine hier – den ganzen Tag.

       Die anderen Personen aus meinem Zimmer haben heute Tagesurlaub und dürfen nach Hause.

       Mein Essen bekomme ich hier ans Bett. Das ist alles so schrecklich, ich möchte hier raus und nach Hause.

       In einer Viertelstunde bekomme ich Kaffee. Hauptsache, es ist nichts mit Pudding. Hauptsache, ich esse das. Es ist wichtig,