Andrea Reichart

ROCK IM WALD - Ein Norbert-Roman


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hatte?

      Diese endlosen Felder! Erst jetzt fiel ihr auf, dass auf den Äckern dort unten im Tal die Hölle los war. Es wurde gemäht oder geerntet oder weiß der Geier was gemacht – und zwar mit riesigen Maschinen. Oh nein! Sie hatte schon so viel darüber gelesen, wie viele Kitze Jahr für Jahr starben, weil sie von den Mähdreschern gehäckselt wurden! Junge Rehe, oft erst wenige Tage alt, die ihre Mütter in dem Glauben, im hohen Gras seien sie in Sicherheit, dort ablegten, während sie Futter suchten.

      Diva war zwar kein Rehkitz, aber sie war sicher völlig verwirrt und verängstigt. Unter Garantie spazierte sie nicht an einer Landstraße entlang, wenn sie überhaupt noch laufen konnte, sondern hatte sich versteckt. In einem der Wälder oder in einem der Felder. Beides wäre ihr Todesurteil.

      Was sollte sie bloß tun?

      Catrin stieg wieder in ihren Wagen, obwohl ihr das völlig verrückt vorkam. Wenn sie jetzt zur Unfallstelle fuhr, dann war sie an dem Ort, zu dem Diva niemals zurückkehren würde. Nicht nach dem Schock. Wie sollte sie bloß ihre Spur finden? In welche Richtung war sie gelaufen? Die Rettungskräfte hatten nicht einmal einen Hund am Unfallort gesehen und die waren sicher nur wenige Minuten nach dem Crash dort erschienen. Da war Diva wahrscheinlich schon weiß Gott wo!

      Vielleicht hatte sich über Facebook längst jemand gemeldet, der hier in der Nähe wohnte und vielleicht sogar einen Hund hatte, der auf das Suchen anderer Hunde spezialisiert war? Catrin wusste, dass es solche Leute gab, und dass Suchhunde tolle Dinge hinbekamen, jedenfalls mit Menschen. Aber sie wusste auch, dass es viele Schwätzer gab, die sich zwar damit brüsteten, einen Suchhund an der Leine zu führen, vor Ort aber dann mehr Schaden anrichteten, als dass sie halfen. Erst letztens hatte sie irgendwo gelesen, wie so eine angebliche Suchhundestaffel einen entlaufenen Rüden verfolgte, bis dieser in seiner Not auf eine Autobahn rannte, wo er nach wenigen Sekunden überfahren wurde.

      Und sie hatte den Leuten auch noch genau gesagt, wo sie hin sollten! Ihr wurde siedend heiß bei dem Gedanken, was alles schon an sicher gut gemeinten Aktionen angelaufen war und was sie jetzt nicht mehr bremsen konnte, weil sie einfach keine Zeit hatte, sich einzuloggen und das zu steuern. Nein, sie musste zum Unfallort, so schnell wie möglich. Vor allem aber musste sie vor irgendwelchen Helfern dort eintreffen. Ach, hätte sie doch eben nur mal kurz überlegt und nicht schon wieder so impulsiv gehandelt! Würde sie das denn nie lernen?

      Sie startete den Wagen und nahm die Fahrt wieder auf, überließ es dem Navi, Entscheidungen für sie zu treffen, und zermarterte sich das Hirn. Verdammt, wen kannte sie hier? Außer Norbert niemanden und den hatte sie ja bereits informiert. Es musste doch noch jemanden geben, sie hatte doch erst letztens noch …

      Die Vollbremsung, die sie machte, ließ ihren Wagen ausbrechen, nur mit Mühe konnte Catrin ihn abfangen.

      Sie kannte jemanden, der hier lebte. Jemanden, der ihr seinen Vorrat an Papiertaschentüchern überlassen hatte, als ihr die Tränen kamen. Jemanden, der ihr mit leiser Stimme einen Kaffee gebracht und dann kilometerweit mit ihr geschwiegen hatte. Jemanden, dem sie zum ersten Mal seit langer Zeit mal wieder eine Visitenkarte in die Hand gedrückt hatte, weil etwas in ihr hoffte, ihn wiederzusehen. Irgendwann.

      Und der ihr seine gegeben hatte, ehe er aus ihrem Leben verschwand.

      Kapitel 12

      „Ränger!“

      Catrin erschrak. Die Frau klang aber streng.

      „Guten Tag, hier spricht Catrin Stechler. Ich bin auf der Suche nach Herrn Wolf Ränger, aber ich habe nur seine Hamburger Nummer, vielleicht können Sie mir weiterhelfen? Es handelt sich um einen Notfall.“

      „Wer spricht denn da?“

      „Catrin Stechler“, wiederholte sie.

      „Woher kennen Sie denn meinen Exmann? Sind Sie eine Mandantin?“

      Ups. „Ja, wir haben beruflich miteinander zu tun“, log Catrin.

      „Und da gibt er Ihnen diese Privatnummer?“ Die Frau lachte hämisch auf. „Na, der ist ja drollig!“

      „Er hat mir seine Karte gegeben, da steht leider nur diese eine Nummer drauf“, sagte Catrin. „Ich brauche seine Handynummer.“

      „Seine Handynummer?“ Wieder hörte sie die Frau lachen, aber es klang wirklich alles andere als freundlich, sondern eher so, als habe sie noch ein Hühnchen mit ihrem Mann zu rupfen. Vielleicht war es besser, wenn sie einfach wieder auflegte. Mit so einem Mist verschwendete sie nur kostbare Zeit.

      „Herzchen! Er hat dort, wohin er gefahren ist, meistens keinen Empfang. Nicht mal Strom, um genau zu sein. Nichts eigentlich, außer Mücken und anderes Ungeziefer.“

      „Haben Sie dann vielleicht eine Adresse für mich?“ Eine Chance würde sie der Schnepfe noch geben. Catrin wühlte im Handschuhfach nach einem Kugelschreiber.

      „Eine Adresse? Vergeben die dort inzwischen Adressen?“ Wieder dieses böse Lachen.

      Kein Wunder, dass Wolf Ränger im Zug so unglücklich gewirkt hatte. Seine Ehe musste die Hölle gewesen sein.

      „Also, haben Sie eine oder nicht?“, fragte Catrin ungeduldig.

      „Nun werden Sie mal nicht frech, Fräulein!“

      Wenn Catrin eins nicht leiden konnte, dann waren es Menschen, die sie Fräulein nannten.

      „Frau Ränger“, sie gab ihrer Stimme, die vorher unsicher geklungen hatte, etwas von der schneidenden Schärfe, die gelegentlich Türen öffnete, welche vorher verschlossen gewesen waren. „Es geht hier um Leben und Tod, und wenn Sie nicht möchten, dass ich Sie wegen unterlassener Hilfeleistung belange, dann bitte ich jetzt in aller Höflichkeit ein letztes Mal um Ihre Kooperation. Wir müssen Herrn Ränger sprechen, so schnell wie möglich.“

      Das Wir suggerierte starke männliche Partner, das wusste sie, und es verfehlte auch jetzt seine Wirkung nicht.

      „Schon gut. Ich gebe Ihnen die Nummer. Haben Sie etwas zu schreiben?“

      „Ja, habe ich. Ich höre?“

      Sie schrieb mit. „Vielen Dank, Frau Ränger. Und nun eine Adresse, wenn ich bitten darf.“ Sie sah durch das Seitenfenster ihres Autos. „Wenn wir Ihren Mann telefonisch nicht erreichen, dann muss einer von unseren Leuten zu ihm fahren.“

      Es konnte nicht schaden, wenn Frau Ränger das Gefühl hatte, als stünde hinter ihr und ihrem Anliegen eine Armee an einflussreichen Helfern.

      „Versuchen Sie es mal bei seinem Bruder. Eine andere Adresse haben wir nicht.“

      Aha, Frau Ränger war nun auch im Plural unterwegs. Zeit, das Gespräch zu beenden, ehe es zu voll in der Leitung wurde. Schnell notierte sich Catrin die Adresse.

      „Herzlichen Dank, Frau Ränger.“

      „Darf ich fragen, worum es geht?“

      „Das werden Sie aus der Presse erfahren. Auf Wiederhören.“

      Catrin legte auf und musste trotz ihrer Anspannung lächeln. Schön, dann würde die Hexe in den nächsten Tagen wenigstens etwas zu tun haben, wenn sie die Zeitungen durchwühlte, auf der Suche nach einem Skandal, in den ihr Exmann verwickelt war.

      Sie legte den Gang ein und gab Gas. Gleichzeitig wählte sie.

      „Komm schon, geh ans Telefon“, murmelte sie und hatte Mühe, die engen Kurven einhändig zu nehmen.

       The person you have called is temporarily not available.

      “Mist!”, fluchte Catrin.

      Sie haben Ihr Ziel erreicht, nuschelte ihr Navi plötzlich.

      „Das sehe ich“, murmelte Catrin und fuhr rechts ran. „O mein Gott, das sehe ich!“

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