Jules Verne

Reise zum Mittelpunkt der Erde


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zu haben. Gretchen war eine reizende Blondine mit blauen Augen, von etwas abgeklärtem Charakter und ernstem Sinn; aber sie liebte mich darum nicht minder. Ich meinerseits betete sie an, sofern dieser Begriff im Altdeutschen existiert! Das Bild meiner kleinen Vierländerin versetzte mich also auf einmal aus der wirklichen Welt in die Welt der Träume, der Erinnerungen. Ich erblickte in diesem Bild die treue Genossin meiner Arbeiten und Freuden. Sie half mir tagtäglich die köstlichen Steine meines Onkels zu ordnen und mit Etiketten zu versehen. Fräulein Gretchen war in der Mineralogie sehr bewandt! Sie hätte darin mehr als ›einen‹ Gelehrten ausstechen können. Sie befasste sich gerne damit, schwierige Fragen der Wissenschaft zu ergründen. Welch süße Stunden hatten wir mit gemeinsamen Studien verbracht! Und wie oft beneidete ich die gefühllosen Steine um das Glück, von ihren reizenden Händen betastet zu werden! Danach, wenn die Erholungszeit kam, wandelten wir miteinander durch die belaubte Alsterallee und besuchten zusammen die alte beteerte Mühle, die sich am Ende des Sees so gut ausnimmt; unterwegs plauderten wir Hand in Hand. Ich erzählte ihr Dinge, worüber sie herzlich lachte. So kamen wir bis zum Elbufer, und nachdem wir den Schwänen, die zwischen den großen weißen Seerosen schwimmen, gute Nacht gesagt hatten, begaben wir uns mit dem Dampfboot wieder zum Kai. Als ich in meinem Träumen hier ankam, wurde ich von meinem Onkel durch einen Faustschlag auf den Tisch gewaltsam in die Wirklichkeit zurückgerufen.

      »Sehen wir«, sagte er, »die erste Idee, die sich dem Geist darbietet, um die Buchstaben einer Phrase aus ihrer Ordnung zu bringen, besteht, dünkt mir, darin, dass man die Worte, anstatt horizontal, vertikal schreibt. Wir müssen uns anschauen, was dabei herauskommt. Axel, schreib irgendeinen Satz auf diesen Zettel; aber anstatt die Buchstaben nebeneinander zu stellen, setze sie in vertikalen Reihen einen nach dem andern, und zwar in Gruppen von fünf bis sechs.«

      Ich begriff, wie es gemeint war und schrieb sogleich von oben nach unten:

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      »Gut!«, sagte der Professor, ohne es gelesen zu haben. »Jetzt schreibe diese Worte in eine horizontale Zeile!«

      Ich gehorchte und bekam folgende Phrase:

      Iermtt chdzeech lilise ichinGn ehchgr! be,ue.

      »Ganz recht so«, sagte mein Onkel und riss mir den Zettel aus der Hand. »Das sieht schon aus wie das alte Dokument: Die Vokale stehen so wie die Konsonanten in der nämlichen Unordnung gruppiert; da sind selbst Anfangsbuchstaben sowie Kommas in der Mitte der Worte, ganz wie in dem Pergament des Saknussemm!«

      Ich konnte nicht umhin, diese Bemerkung für recht sinnreich zu halten.

      »Nun«, fuhr mein Onkel fort. »Um die Phrase, welche du geschrieben hast und deren Inhalt ich nicht kenne, zu lesen, brauche ich nur zuerst den ersten Buchstaben jedes Wortes aneinanderzureichen, dann jeden zweiten, danach den dritten usw.«

      Und mein Onkel las zu seinem und meinem größten Erstaunen:

      ›Ich liebe dich herzlich, mein gutes Gretchen!‹

      »Oho!«, sagte der Professor.

      Ja, unversehens hatte ich als verliebter Tölpel diese verräterische Zeile geschrieben!

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      »So! Du liebst Gretchen?«, fuhr mein Onkel in echtem Vormundston fort.

      »Ja ... Nein ...«, stotterte ich.

      »Du liebst also Gretchen!«, wiederholte er wie eine Maschine. »Nun, wenden wir mein Verfahren auf das fragliche Dokument an.«

      Mein Onkel war schon wieder in das Nachsinnen, welches ihn ganz in Anspruch nahm, versunken, dass er bereits meine unvorsichtigen Worte vergaß. Ich sage unvorsichtigen, denn der Kopf des Gelehrten konnte die Herzensangelegenheiten nicht begreifen. Aber zum Glück hatte die große Angelegenheit des Dokuments das Übergewicht. Im Begriff, seinen Hauptversuch zu machen, sprühten des Professors Augen Blitze durch seine Brille hindurch. Mit zitternden Händen nahm er das alte Pergament wieder vor. Er war von ernster Bewegung ergriffen. Endlich hustete er tüchtig und diktierte mir mit würdigem Ton, indem er der Reihe nach zuerst den ersten Buchstaben, dann den zweiten jedes Wortes zusammennahm, die folgenden Gruppen:

      messunka Senr A.icefdok segnittamurtn

      ecertserrette, rotaivsadua, ednecsedsadne

      lacartniiiluJsiratracSarbmutabiledmek

      meretarcsiluco YsleffenSnI

      Als ich sie fertig hatte, war ich, offen gestanden, in Gemütsbewegung. In diesen Buchstaben hatte ich gar keinen Sinn zu erkennen vermocht; ich war also darauf gespannt, des Professors Lippen würden stattlich eine Phrase prachtvollen Lateins hören lassen. Aber wer hätte das gedacht? Ein heftiger Faustschlag erschütterte den Tisch, dass die Tinte empor spritzte und die Feder meinen Händen entfiel.

      »Das ist es nicht!«, schrie mein Onkel. »Das macht keinen Sinn!«

      Darauf stürzte er schnell wie eine Kugel durch das Kabinett, wie eine Lawine die Treppe hinab, auf die Königstraße und entfloh mit schnellen Schritten.

      4. Entzifferung des Geheimnisses

      VIERTES KAPITEL Entzifferung des Geheimnisses

      E

      r ist fort«, rief Martha, die herbeigelaufen kam, als er die Haustür so heftig zuschlug, dass von dem Schmettern das ganze Haus erschüttert wurde.

      »Ja«, entgegnete ich, »ganz und gar fort!«

      »Nun! Und sein Mittagessen?«, fragte die alte Dienerin.

      »Er wird nicht zu Mittag speisen!«

      »Und sein Abendessen?«

      »Er wird auch nicht zu Abend speisen!«

      »Nein?«, fragte Martha und rang die Hände.

      »Nein, gute Martha, er wird nicht mehr essen, und niemand im ganzen Hause. Mein Onkel lässt uns alle fasten, bis es ihm gelingt, ein altes Gekritzel, das durchaus unleserlich ist, zu entziffern!«

      »Jesus! So bleibt uns also nichts anderes als zu verhungern.«

      Ich traute mich nicht, einzugestehen, dass uns dies bei einem so bedingungslosen Mann wie meinem Onkel unvermeidlich bevorstehe. Ernsthaft beunruhigt begab sich die alte Dienerin mit Seufzen in ihre Küche zurück. Als ich allein war, kam mir der Gedanke, zu Gretchen zu eilen und ihr alles zu erzählen. Aber wie konnte ich das Haus verlassen? Der Professor konnte jeden Augenblick zurückkommen. Und wenn er nach mir rief? Und wenn er seine Enträtselungsarbeit, die man dem alten Ödipus vergeblich vorgelegt haben würde, wieder anfangen wollte? Und was würde es geben, wenn ich auf sein Rufen nicht antworten würde? Das Klügste war, zu bleiben. Eben hatte uns ein Mineraloge aus Besançon eine Sammlung kieselartiger Geoden zugeschickt, welche zu klassifizieren waren. Ich machte mich an die Arbeit. Ich sonderte aus, machte Etiketten, ordnete in ihrem Glaskasten alle die hohlen Steine, worin kleine Kristalle eingeschlossen waren. Aber diese Tätigkeit beschäftigte mich nicht völlig. In Gedanken machte mir das alte Dokument viel zu schaffen. Mein Kopf glühte und eine unbestimmte Unruhe ergriff mich. Ich ahnte eine bevorstehende Katastrophe. Nach Ablauf von einer Stunde waren meine Geoden geordnet. Darauf wiegte ich mich in dem großen Lehnstuhl, den Kopf rückwärts, die Arme baumelnd. Ich zündete meine Pfeife an, deren lange krumme Röhre am Kopf mit dem Bild einer Nymphe verziert war, und ergötzte mich daran, die Fortschritte der Verkohlung zu beobachten, wodurch die Nymphe zu einer vollständigen Negerin geworden war. Von Zeit zu Zeit lauschte ich, ob sich auf der Treppe keine Schritte vernehmen ließen. Nichts zu hören. Wo mochte mein Onkel gerade sein? Ich sah ihn in Gedanken die schöne Allee der Altonaer Straße entlanglaufen, gestikulierend, mit kräftigem Arm die Kräuter zerschlagen, Disteln köpfen und die Schwäne in ihrem Frieden stören. Wird er triumphierend oder entmutigt heimkommen? Sollte er das Geheimnis herausbekommen haben? So fragte ich mich und nahm das Blatt Papier mechanisch in die Hand, worauf sich die von mir geschriebenen unverständlichen Zeilen befanden. Ich wiederholte: