Wolfram Hanel

1975


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12

       Kapitel 12 1/2

       30 Jahre später

       Nachwort zur Neuveröffentlichung

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       Eigentlich fing der Sommer genau an dem Tag an, an dem Buchmann einen Sonnenstich hatte und Lepckes Zelt vollkotzte …

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      Sie waren gerade alle durchs Abitur gefallen, Buchmann, Lepcke, Kerschkamp, Ratte und Appaz. Kollektiv sozusagen. Was zweifellos nicht nur an ihrer nahezu totalen Verweigerung gegenüber Leminhalten lag, die sie sowohl als überflüssig als auch als grundsätzlich reaktionär erkannt zu haben glaubten. Sondern vielmehr an solchen Aktionen wie dem Bestreiken des Unterrichts, solange sie nicht endlich ein festes und angemessenes Schülergehalt bekämen.

      Zugegeben, ihre Begründung dafür war zumindest fragwürdig gewesen. Da sie die Vorteile einer staatlichen und daher für sie unentgeldlichen Ausbildung nur genießen würden, um später als qualifizierte Fachkräfte zum allgemeinen und in höchstem Maße verabscheuungswürdigen Profitwachstum beizutragen, sei es ja wohl nur recht und billig, sie auch dementsprechend zu bezahlen, so hatten sie der örtlichen Presse gegenüber lautstark argumentiert.

      Im Gegenzug hatte der stellvertretende Schulleiter ihres »mathematisch-naturwissenschaftlichen und neusprachlichen Gymnasiums für Knaben« ihnen nun mitgeteilt, dass sie ganz offensichtlich noch lange nicht die Reife erlangt hätten, die gemeinhin mit dem Reifezeugnis belohnt wird.

      »Meine Herren«, hatte er die Entscheidung des Kollegiums zusammengefasst und sich dabei eines süffisanten Grinsens nicht erwehren können, »meine Herren, ich denke, Sie haben jetzt begriffen, dass letztendlich doch immer noch wir am längeren Hebel sitzen.«

      Und Frau Doktor A. hatte mit zitternder Stimme hinzugesetzt: »Die Diktatur des Proletariats ist noch lange nicht angebrochen, zum Glück!«

      Woraufhin Buchmann nichts Besseres eingefallen war, als aus seinen fast zwei Metern Höhe eine Zeile von Atomic Rooster zu grölen: »Death walks behind you …« Damit war er frohgemut aus der Aula marschiert, auf geradem Wege hinüber zu Tengelmann, um eine Flasche Tequila für sechs fünfundneunzig zu klauen und sich das widerlich-warme Zeug unverzüglich in großen Zügen einzuverleiben.

      Trotzdem hielt er sich den Nachmittag über gar nicht so schlecht. Sie lungerten an dem Kiesteich zwischen den Kartoffelfeldern hinter Lepckes Haus herum und halfen Buchmann dabei, zunächst mal den Tequila zu vernichten. Danach rauchten sie so ziemlich alles, was sich nur irgendwie in Zigarettenpapier wickeln und anzünden ließ. Und irgendwann waren sie so weit, dass das vermasselte Abitur für sie ungefähr die Bedeutung hatte wie der sprichwörtliche Sack Reis, der in China angeblich immer wieder mal umfällt. Bis Buchmann plötzlich mit kaltem Schweiß auf der Stirn und glasigem Blick irgendwas von Sonnenstich lallte und Lepckes Zelt vollkotzte.

      Irgendwann später kam dann auch noch Hansi dazu. Aber da redete Kerschkamp schon davon, dass der Kiesteich aussehen würde wie die Ostsee, wo er letzten Sommer mit seiner Kreidler zum Camping gewesen war. Und Ratte wollte sich mit dümmlichem Grinsen an Biggi ranmachen, die die Schwester von Lepcke war und schon seit Monaten ziemlich fest mit Hansi liiert. Deshalb stieß Hansi also Ratte rückwärts in den Teich, wo er auch glatt liegen geblieben wäre, das Gesicht halb unter Wasser, kichernd und Blasen blubbernd.

      Zum Glück waren auch Sabine und Anette mit dabei. Anette war Appaz’ Freundin, mehr oder weniger jedenfalls. Ohne dass sie darüber geredet hätten, war für beide klar, dass es so lange gehen würde, wie es eben ging. Aber weil Anette so gut wie keine Brüste hatte und ziemlich kurze Haare, behauptete Ratte bei jeder Gelegenheit, mit Appaz würde irgendwas nicht ganz stimmen. Dass Anette unter ihren bunten Wickelröcken grundsätzlich keinen Slip trug, hatte Appaz Ratte nie erzählt, sonst hätte er wahrscheinlich anders darüber gedacht.

      Jedenfalls holten die Mädchen Ratte aus dem Wasser. Kerschkamp und Appaz machten Feuer, und die Mädchen zogen Ratte nackt aus und wendeten ihn vor dem Feuer hin und her, bis seine Haut von allen Seiten krebsrot war und er plötzlich einen steifen Schwanz bekam. Woraufhin Sabine kichernd ihre Parkajacke über seinen Steifen hängte, als wäre Rattes Schwanz der Garderobenhaken in irgendeiner Kneipe.

      Hansi hatte inzwischen die Kaffeemühle aus seinem Rucksack geholt, und die Tüte mit den Getreidekörnern. Er lernte Gärtner in einem Dorf irgendwo hinter Laatzen und schleppte immer diesen Rucksack mit sich herum, mit der Kaffeemühle von seiner Oma und einer hoffnungslos verrosteten Bratpfanne. Er hatte auch immer irgendwelche Getreidekörner dabei und natürlich sein selbst gezogenes Gras. Die Fladen, die er jetzt mit einem Becher Teichwasser zusammenmatschte, schmeckten genauso mies, wie Hansis Fladen immer schmeckten, und waren auch wieder mal halb verbrannt, aber sie machten schön breit. Noch breiter, als sie alle ohnehin schon waren. Und um nichts anderes ging es.

      Eigentlich hatten sie zusammen mit Hansi gleich zu Beginn der Sommerferien nach Frankreich fahren wollen. Hansi hatte auch den Bus besorgt, einen rot-weißen VW-Bus, Baujahr 1964, mit 34 PS und geteilter Windschutzscheibe und Klapptüren an der Seite. Der Bus hatte dem Dorfschlachter gehört, und Hansi hatte ihm die Karre mit viel Hin und Her für 750 Mark abgeschwatzt, was sie zu fünft ganz gut bezahlen konnten. Aber kaum war er umgemeldet, setzte Hansi sich mit Biggi zu einem Ausflug an die Ostsee ab, ohne ihnen auch nur ein Wort zu sagen. Und sie hatten den Bus bis dahin noch nicht mal gesehen! Hatten Hansi nur das Geld gegeben und dann diesen bescheuerten Anruf von ihm gekriegt, aus Eckernförde, wo er mit Biggi mal eben für ein paar Tage hingefahren war - angeblich um zu sehen, ob der Bus auch wirklich fit war.

      Woraufhin sie alle reichlich sauer gewesen waren. Kerschkamp hatte so lange herumgestänkert, bis sie Hansi erklärten, dass sie ohne ihn nach Frankreich fahren würden. Er sei so was wie ein Kameradenschwein, und sie könnten gut auf ihn verzichten. Hansi schien das völlig egal zu sein, oder zumindest tat er so, als wäre es ihm völlig egal, er drückte Appaz nur schulterzuckend und mit schiefem Grinsen die Schlüssel in die Hand.

      Jetzt matschte er also wie üblich seine Fladen zusammen und benahm sich, als wäre nie etwas gewesen. Und natürlich verschwand er dann irgendwann wieder mit Biggi in dem Geräteschuppen gleich neben dem Steg, auf dem sie hockten. Aber das kannten sie schon. Sie hatten auch schon hundertmal Hansis Stöhnen gehört, das immer klang, als würde er gleich einen Herzkollaps kriegen, während Biggi ganz still blieb. Deshalb war Ratte fest davon überzeugt, dass Hansi etwas falsch machen musste.

      Irgendwann wurde es so kalt, dass sie keine Lust mehr hatten. Buchmanns Hemd war angekokelt, weil er halb im Feuer gelegen hatte.

      »Scheiße«, sagte er, »Scheißescheißescheiße.«

      Fluchend kletterte er hinter Kerschkamp auf die Kreidler, und ohne Licht kurvten sie den Feldweg hoch. Lepcke schwankte quer über den Acker.

      Anette fuhr den Bus, weil sie nie etwas trank und auch nicht viel kiffte. Weniger als die anderen jedenfalls. Sie kriegte den Rückwärtsgang nicht gleich rein, und Hansi grinste blöde. Als das Getriebe kreischte, hielt er sich demonstrativ die Ohren zu. Anette versuchte hochzuschalten, ohne zu kuppeln. Appaz sah an ihrem Gesicht, dass sie es mit voller Absicht tat. Er sagte nichts, sondern hielt nur den Kopf ans offene Fenster und zählte die Straßenlaternen. Kam aber immer nur bis fünf.

      Sabine musste mit Ratte losgezogen sein. Jedenfalls rief Ratte am nächsten Mittag bei Appaz an und faselte irgendwas davon, dass er die ganze Nacht nicht geschlafen habe und dass es zum Schluss nicht mehr witzig gewesen sei. Weil Sabine immer wieder angefangen habe, auch als er schon längst nicht mehr konnte. Zum Glück habe sich