Petra Bunte

Dieses viel zu laute Schweigen


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warum hatte ich mich nur von Nele beruhigen und ablenken lassen, wo ich von Anfang an dieses mulmige Gefühl gehabt hatte? Was, wenn wir doch zurückgefahren wären, um uns zu vergewissern, dass es ihm gut ging? Andererseits war ja zunächst alles bestens gewesen, solange er bei seinen Kollegen war …

      „Okay“, riss Olli mich aus den Gedanken. „Was hältst du davon, wenn wir zur Polizei gehen und ihnen von Lukas erzählen, bevor wir uns hier weiter verrückt machen? Wenn er es wirklich ist, dann werden sie es schnell herausfinden können. Und wenn nicht, dann müssen wir uns darum wenigstens keinen Kopf mehr machen.“

      Ich zuckte kaum merklich zusammen. Polizei? Alles in mir sträubte sich dagegen, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab, denn ich hatte mir bisher nichts zuschulden kommen lassen. Aber das ging mir plötzlich alles zu schnell. Wenn ich dorthin ginge, müsste ich auch von dem Vorfall an der Haltestelle erzählen. Und dann würden sie fragen, warum ich nicht früher etwas gesagt hatte. Und … keine Ahnung, was noch alles. Ich war mit der ganzen Situation vollkommen überfordert und hätte mir am liebsten die Decke über die Ohren gezogen, bis dieser Albtraum vorbei war und Lukas wieder quicklebendig mit seinem Hai an die Tür polterte. Mir war klar, dass das keine sehr erwachsene Reaktion war. Aber ähnlich wie an der Haltestelle war ich in völliger Hilflosigkeit erstarrt.

      Zögernd schaute ich zu Olli und bemerkte, dass er mich forschend beobachtete. Unter seinem Blick schrumpfte ich immer mehr zusammen und fühlte mich furchtbar schlecht.

      „Das nimmt dich alles ganz schön mit, was?“, sagte er mitfühlend. „Also, wenn du willst, kann ich auch alleine gehen. Aber darf ich deinen Namen angeben, wenn die Beamten danach fragen?“

      Ich schluckte trocken und nickte langsam. „Glaubst du, dass sie das wissen wollen? Ich kann doch auch nicht mehr dazu sagen als du.“

      Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Nur für den Fall. Und vielleicht sollten wir auch unsere Handynummern austauschen, damit wir uns auf dem Laufenden halten können. Nicht, dass Lukas plötzlich hier auftaucht, während ich mich da mit der Polizei rumschlage.“

      Meine Lippen verzogen sich zu einem winzig kleinen Lächeln. „Schön wär’s.“

      Olli lächelte ebenfalls, tippte die Kontaktliste auf seinem Smartphone an und ließ sich meine Nummer diktieren. Nachdem wir unsere Daten gegenseitig gespeichert hatten, stand er auf und sagte: „Tja, dann will ich mal.“

      Ich brachte ihn zur Tür, wo wir beide kurz innehielten und zu Lukas‘ Wohnung rüberschauten.

      „Ich geb dir nachher Bescheid, was sie gesagt haben“, versprach Olli, bevor er ging.

      „Danke“, erwiderte ich leise.

      Er war schon die ersten drei Stufen runter, als mir etwas einfiel. „Olli?“

      „Ja?“ Er blieb stehen und schaute über die Schulter zu mir zurück.

      „Kannst du die Polizei bitte fragen, ob sie bei dem Mann von dem Überfall einen Schlüsselanhänger mit einem geschnitzten Hai dran gefunden haben?“

      Er zog fragend die Stirn in Falten, nickte wortlos und ging.

      Zurück in meiner Wohnung, ließ ich mich kraftlos aufs Sofa fallen, zog die Knie an die Brust und vergrub aufgewühlt mein Gesicht dazwischen. Das Herz pochte hart gegen meinen Brustkorb und pumpte rauschend das Blut durch meinen Körper. Lukas’ rätselhaftes Verschwinden und die Nachricht über den Überfall in der Nähe vom Berliner Platz hatten mich vollkommen schockiert, und ich wusste auch genau, warum. Was mir allerdings völlig schleierhaft war, war die Frage, wie ich nach dem Vorfall an der Haltestelle zwei Tage lang so tun konnte, als wäre nichts gewesen. War ich wirklich so oberflächlich, dass ich nach dem ersten Panikmoment die Szene einfach abhaken konnte? Oder war es ein fieser Trick meiner Psyche, das Ganze so gut zu verdrängen und zu hoffen, dass nie wieder jemand darauf zurückkommen würde? Tja, das hatte definitiv nicht funktioniert, und die schlagartige Erinnerung daran hatte mir den Boden unter den Füßen weggezogen.

      Ich wusste nicht, wie lange ich so dort gesessen hatte, als mein Handy plötzlich klingelte und ich beinahe einen Herzinfarkt bekam. War das etwa schon die Polizei? Und falls ja, was sollte ich denen sagen?

      Zögernd rappelte ich mich auf, beugte mich über den Tisch, um nach dem Smartphone zu greifen, und stieß erleichtert die Luft aus, als ich den Namen meiner Schwester auf dem Display las.

      „Hey“, sagte ich leise, und irgendetwas daran ließ bei ihr die Alarmglocken läuten, denn sie wollte sofort wissen, was passiert war. Also erzählte ich es ihr, angefangen bei der Szene am Bahnsteig, bis hin zu Olli und der Nachricht über den Überfall.

      „Oh Gott! Warum hast du das denn nicht gestern schon erzählt?“, rief Kathi entrüstet.

      „Ihr musstet doch weg“, verteidigte ich mich wenig überzeugend. „Außerdem habe ich selbst nicht mehr daran gedacht, weil es aussah, als wäre alles gut gegangen. Aber jetzt …“ Unter Tränen brach ich ab und zog schniefend die Nase hoch.

      „Ach, Anni“, sagte sie sanft. „Mach dich nicht verrückt, hörst du? Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das eine etwas mit dem anderen zu tun hat. Meinst du, diese Typen hätten sich deinen Nachbarn nicht sofort gekrallt, wenn sie das vorgehabt hätten? Die hatten bestimmt etwas Besseres vor, als ihn stundenlang zu beobachten und auf die passende Gelegenheit zu warten.“

      „Keine Ahnung. Aber würdest du so einen Überfall ernsthaft am helllichten Tag in der Nähe von Tausenden Fußballfans machen oder nicht doch eher abwarten, bis es dunkel und weniger bevölkert ist?“

      „Hm“, machte Kathi ratlos. „Jetzt warte erst mal ab, bis die Polizei das Opfer identifiziert hat. Mit dem Hinweis von diesem Olli müsste das ja ziemlich schnell zu klären sein. Aber selbst wenn es wirklich Lukas ist, dann muss das nicht unbedingt etwas mit den Typen aus der Bahn zu tun haben. Letztendlich kann das wahrscheinlich sowieso nur er selbst sagen.“

      „Wenn er es noch kann“, erwiderte ich niedergeschlagen, denn der Zeitungsartikel hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass das Opfer des Überfalls lebensgefährliche Verletzungen erlitten hatte und eine weitere Stunde hilflos hinter den Müllcontainern kaum überlebt hätte.

      Für einen Moment blieb es still zwischen uns. Dann bemerkte Kathi zögernd: „Sag mal, Schwesterherz, kann es sein, dass wir hier nicht bloß über einen deiner Nachbarn reden?“

      Ich gab ein kleines, trauriges Lachen von mir. Meine große Schwester witterte anscheinend potenziellen Familienzuwachs. In meinem Alter war sie bereits seit zwei Jahren verheiratet, und sie hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, mich ebenfalls möglichst bald unter die Haube zu bringen. Zu dumm, dass mir dafür bisher der richtige Partner fehlte. Und selbst wenn Lukas doch auf verworrenen Wegen des Schicksals derjenige sein sollte, der für mich bestimmt war, dann hatten wir jetzt gerade andere Probleme als ein Kleid in Weiß oder Champagnerfarbe.

      „Das kommt wahrscheinlich darauf an, ob du ihn oder mich fragst“, erklärte ich ausweichend.

      „Also magst du ihn“, schlussfolgerte sie messerscharf, und da es eine Feststellung und keine Frage war, musste ich nicht darauf antworten.

      „Ich fühle mich einfach so mies, weil ich nichts getan habe, um ihm oder der jungen Frau zu helfen“, gestand ich ihr leise.

      „Aber was hättest du denn tun sollen?“, entgegnete Kathi entschieden. „Dich selbst in Gefahr bringen? Man hört doch immer wieder, wie so etwas endet. Irgendwer will irgendwem helfen und ist am Ende selbst tot. Nee, Anni. Das ist auch keine Option.“

      Mir lief bei ihren Worten ein eisiger Schauer über den Rücken. Ja, davon hatte ich auch schon einmal gehört. Aber es musste doch noch etwas anderes geben zwischen Nichtstun und Sein-Leben-riskieren, oder?

      „Vielleicht hättest du ganz simpel die Polizei rufen sollen“, meinte Nele, als ich später mit ihr telefonierte.

      „Die Polizei?“, wiederholte ich ungläubig. „Bis die da gewesen wäre, war doch längst alles vorbei.“

      „Na