Ria Hellichten

Blindlings ins Glück


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bereue ich nichts. Die letzte Wiese auf dem Campus zuzupflastern, war eine Fehlentscheidung. Die Ausbetonierung der begrünten Fläche hat dafür gesorgt, dass die Temperatur in der Innenstadt um circa zwei Grad angestiegen ist und noch weiter ansteigen wird. Aber noch bedenklicher ist die Tatsache, dass die freigelegten Grundmauern der alten Synagoge einfach wieder zugeschüttet werden sollen. Dabei wäre es ein wichtiges Zeichen der Solidarität, dieses Mahnmal der Reichskristallnacht zu würdigen, indem man beispielsweise –“

      An diesem Punkt wurde sie von dem weißhaarigen Mann unterbrochen. Er hatte die buschigen Augenbrauen zornig zusammengezogen. „Frau Bach, eine Ersatzfreiheitsstrafe kommt nur bei Zahlungsunfähigkeit infrage. Ihr Anwalt wird Sie dazu beraten. Und die Beweggründe für Ihre … Aktion haben Sie bereits zur Genüge erläutert. Das Urteil ist hiermit verkündet.“ Er schlug seinen Hammer jetzt umso kräftiger auf das Pult. „Ich erkläre die Verhandlung für geschlossen.“

      Es hätte schlimmer kommen können. Tabea hatte erwartet, deutlich mehr Spott aus den Worten des Richters herauszuhören. Immerhin hatte sie nicht einfach friedlich mit einem Plakat demonstriert, sondern sich an einen Bagger gekettet, um die Arbeiten auf der Baustelle zu behindern. Insgeheim hoffte sie immer noch, dass ihr Fall vielleicht genügend mediale Aufmerksamkeit bekommen würde, um die Umgestaltung des Campus in letzter Sekunde zu verhindern. Auch wenn ihre Aktion manchen Mitbürgern etwas übertrieben vorkommen musste, ging es für sie um mehr als ein paar hundert Quadratmeter Granit. Sie wollte, dass die Gräueltaten der Nationalsozialisten niemals in Vergessenheit gerieten – und somit auch nicht die Erinnerung an ihren Großvater, den sie nur aus Erzählungen kannte.

      Tabea starrte dem Richter trotzig in die Augen und blieb stehen, bis ihr Verteidiger Platz genommen hatte und beharrlich am Ärmel ihres Blazers zupfte. Widerwillig gab sie nach und setzte sich wieder. Ihr Anwalt schob seine Unterlagen zusammen. „Das Urteil war zu erwarten, Frau Bach. Wir besprechen alles Weitere nachher in meinem Büro. Gehen Sie doch erst mal etwas essen.“

      Tabea nickte, schüttelte kurz seine Hand und beeilte sich, nach draußen zu kommen. An ein Mittagessen war allerdings nicht zu denken, denn in zwanzig Minuten musste sie im Sprechzimmer von Professor Kohlmeis sein und sie wusste nur zu gut, wie sehr er Unpünktlichkeit verabscheute.

      Aber bevor sie durch das Eingangsportal des Amtsgerichts eilen konnte, legte ihr jemand eine Hand auf die Schulter. „Bea!“, zischte eine vertraute Frauenstimme. Im nächsten Moment wurde Tabea in eine ruhige Ecke des Flurs gezogen. „Bist du eigentlich völlig verrückt geworden?“ Doro sah sie eindringlich an. Ihre blauen Augen funkelten wütend. „Du willst wegen ein paar alter Steine in den Knast gehen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“

      Tabea versuchte erfolglos, sich aus dem Griff ihrer Freundin zu wenden. „Du weißt, wie wichtig mir das ist.“

      Doro verengte skeptisch die Augen. „Ich kann es einfach nicht fassen! Wenn du wenigstens den Schlüssel nicht ins Gebüsch geworfen hättest, wäre die Feuerwehr nicht gerufen worden, um dich loszuschneiden, und es wäre bestimmt auch nicht zur Anklage gekommen.“

      „Doro, das bringt doch jetzt nichts. Können wir das später in Ruhe besprechen? Ich muss gleich zur Kohlmeise.“

      Ihre Mitbewohnerin ließ sie los und schüttelte nur stumm den Kopf.

      In diesem Moment rief jemand vom Saal her ihre Namen: „Bea, Doro!“ Die hohe Stimme des jungen Mannes war Tabea nur zu vertraut. Flüchtig kam ihr der Gedanke, einfach so zu tun, als hätte sie nichts gehört. Aber dann drehte sie sich um und zwang sich, zu lächeln. „Justus! Was machst du denn hier?“

      Doro warf Tabea einen bedeutsamen Blick zu, so, als wollte sie sagen: Ist doch offensichtlich, was der hier macht – dasselbe wie in den letzten zwei Monaten. So lange war es her, dass Tabea ihm unter dem Einfluss von einer Menge Alkohol und noch viel mehr Idiotie Hoffnungen gemacht hatte, dass sie jemals mehr sein könnten als Freunde. Und selbst das war schon zu viel gesagt, denn das Einzige, was sie verband, war ihre Leidenschaft für das Studententheater. Später, formte Doro tonlos mit den Lippen, dann drehte sie sich um und eilte über die Vordertreppe aus dem Gebäude. Tabea war sich ziemlich sicher, dass ihre Freundin sie bestrafen wollte, indem sie sie jetzt mit Justus allein ließ. Mit einem Seufzen wandte sie sich wieder zu ihm.

      Justus lächelte. „Ich musste doch zu deiner Verhandlung kommen! Du hast dich tapfer geschlagen. Mann, ich glaube, ich habe dich noch nie im Kostüm gesehen …“

      Tabea sah an sich herunter. Auch sie hatte sich noch nicht an diesen Anblick gewöhnt. Aber wie hatte ihre Oma immer gesagt? Kleider machen Leute. Und zumindest heute wollte sie einen seriösen Eindruck hinterlassen.

      „Jedenfalls finde ich das Strafmaß in deinem Fall völlig überzogen.“ Der Student strich eine blassblonde Locke beiseite, die ihm in die Stirn gefallen war. „Wenn du möchtest, spreche ich mit meinem Vater. Bei der nächsten Kreistagssitzung könnte er vielleicht –“

      Tabea holte tief Luft. Die Christdemokraten waren zwar von vorneherein gegen den Umbau des Platzes gewesen, allerdings nur aus finanziellen Gründen. Und auch wenn sie damit Aufmerksamkeit für ihr Anliegen gewinnen könnte, wollte sie sich nur ungern zum Werbeträger in der Wahlkampfkampagne von Justus’ Vater machen lassen, zumal sie bestimmt keine konservative Wählerin war. „Danke für das Angebot, Justus, aber ich habe einen guten Anwalt. Und ich muss jetzt leider los, gleich ist Sprechstunde bei meinem Professor.“

      „Verstehe.“ Sein Lächeln verblasste. „Dann wünsche ich dir viel Erfolg. Sehen wir uns Freitag bei der Probe?“

      Nachdenklich zog Tabea die Augenbrauen zusammen. „Ich glaube, diese Woche proben wir am Samstag. Lisa ist doch auf einer Exkursion.“

      Justus rieb sich demonstrativ das Kinn. „Stimmt, du hast recht. Sollen wir dann vielleicht einen Kaffee trinken oder so? Wir können ja auch noch mal den Text durchgehen –“

      „Tut mir leid“, unterbrach sie ihn, „aber ich kann nicht.“

      „Die Abschlussarbeit?“ Justus ließ die Schultern hängen.

      „Genau.“ Sie lächelte entschuldigend, stammelte eine Verabschiedung und nahm gleich zwei Treppenstufen auf einmal. Die Abschlussarbeit. Und die Tatsache, dass es eine dämliche Idee gewesen war, sich von Lisa dazu überreden zu lassen, das Gretchen zu spielen – obwohl Justus die Rolle des Faust übernahm. Zumindest in der Theorie, denn eigentlich war ihre Version der Tragödie eine recht moderne Adaption. Gedankenverloren eilte sie über den Bürgersteig und schüttelte den Kopf über sich selbst. Wenigstens konnte ihr Tag unmöglich noch schlimmer werden.

      Aber diese Ansicht musste Tabea revidieren, als sie vollkommen abgehetzt und fünf Minuten zu spät im Büro ihres Professors stand, der zu ihrer Verwunderung überaus gut gelaunt zu sein schien.

      „Ah, Frau Bach, kommen Sie doch herein. Sie sind ja fast pünktlich heute“, stichelte er.

      Dass er zu Späßen aufgelegt war, konnte nichts Gutes heißen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch trat Tabea in das stickige Zimmer, nahm auf dem ihr angebotenen Stuhl Platz und musterte den schon recht betagten Professor. Er hatte seine Hände über dem dunkelroten Pullunder gefaltet, unter dem sich ein Wohlstandsbauch wölbte, und lehnte sich jetzt erwartungsvoll in seinen Freischwinger zurück.

      „Leadership 4.0 – Beziehungsarbeit zwischen Führungspersonen und ihren Mitarbeitern im digitalen Zeitalter“, las er den Titel ihres Exposés vor, das samt dem ersten Kapitel vor ihm auf dem Glastisch lag.

      Tabea nickte verhalten.

      „Wie würden Sie denn selbst die Konzeption Ihrer Arbeit einschätzen, Frau Bach?“

      Tabea räusperte sich. Sie hasste solche Fangfragen. „Na ja, ich denke … in Anbetracht dessen, dass es bis zur Abgabe noch fast fünf Wochen sind, komme ich mit meiner Studie gut voran. Mein Praktikumsbericht aus dem letzten Jahr war eine hilfreiche Grundlage, um das Verhalten der führenden Mitarbeiter bei Sanacur wissenschaftlich zu analysieren.“ Zwar hatte sie hauptsächlich Kaffee gekocht und Akten sortiert, aber erstens musste Kohlmeis das nicht wissen und zweitens waren das tatsächlich ideale Voraussetzungen