Belagerung der südtoskanischen Hafenstadt Orbetello, um deren Besitz man sich seit längerer Zeit mit Spanien stritt. Es war bisher ein einigermaßen lustlos geführter Nebenkrieg des ganz Europa erschütternden Konfliktes zwischen den beiden Großmächten, der sich schon einige Jahre matt und ereignisarm in die Länge zog, nun aber mit einem Schlag an Interesse gewann. Denn Orbetello lag ganz in der Nähe des Kirchenstaates. Mazarin ließ dem Papst ausrichten, dass die frischen Truppen für einige Unruhe im Kirchenstaat sorgen könnten, wenn dem König nicht Genugtuung geleistet werde. Das war eine kaum noch verhüllte Kriegsdrohung. In Rom bekam man Angst. Eine Reihe von Kardinälen wies den Papst auf die kaum abschätzbaren Gefahren hin und auch Angehörige des römischen Adels drängten mit Nachdruck auf eine diplomatische Lösung.
Zähneknirschend gab Innozenz X. nach, erklärte sich zu neuen Verhandlungen bereit – und musste feststellen, dass die Franzosen inzwischen eine neue Forderung erhoben: die Amnestierung der Barberini-Brüder! Es war damit endgültig klar, dass die Genugtuungsforderungen für die Verletzung der Botschaftsimmunität nur ein Vorwand für die Demütigung des Papstes war, aber was nützte den Römern alle moralische Entrüstung. Die Macht in Form der stärkeren Bataillone war auf Seiten der Franzosen und hat noch selten nach Recht und Moral gefragt. Wenn der Papst glaubte, längst überholte Suprematieansprüche erheben zu können, so war es aus Sicht des Pariser Hofes höchste Zeit, ihn über die realen Machtverhältnisse aufzuklären.
Die Lektion fiel bitter aus. Innozenz’ X. Kompromissvorschlag, den inzwischen nach Rom zurückgekehrten und weniger belasteten Kardinal Francesco Barberini wieder in seine Ämter einzusetzen, nicht jedoch den besonders frankophilen Antonio, wurde rundweg abgelehnt. Vollständige Rehabilitierung beider Kardinäle, so lautete die kategorische Forderung, und am Ende wurde sie erfüllt. Damit endete die Affäre, eine der vielen diplomatischen Niederlagen, die das Papsttum im 17. Jahrhundert erlitt und die seinen unaufhaltsamen Abstieg von einer europäischen Großmacht zu einem italienischen Kleinstaat markierten. Selbst die persönliche Demütigung blieb Innozenz X., der den Kampf so vermessen-hochgemut begonnen hatte, nicht erspart. Henry d’Étampes-Valençay, den arroganten französischen Botschafter, musste er nach Rom zurückrufen und sich weiterhin während der Audienzen über dessen Unverschämtheiten ärgern.
VOLKER REINHARDT
Der Sanierer
1676 waren die guten Jahre am Tiber lange vorbei. Im Westfälischen Frieden von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, den konfessionellen Ausgleichszustand in Deutschland und eine europäische Friedensordnung festschrieb, wurde der Papst nicht einmal erwähnt. Es war wohl auch besser so. Denn er war nicht einverstanden, im Gegenteil. Doch die römischen Proteste gegen diese dauerhafte Aufwertung der ‘Ketzer’ kümmerten die führenden Mächte nicht mehr. Aus päpstlicher Sicht noch fataler: sie betrieben Religionspolitik jetzt zunehmend in eigener Regie. Dass die Kirche ein Teil des Staates, ja dessen Behörde und daher den Anweisungen des Herrschers unterworfen sein sollte, diese Überzeugung bricht sich vor allem in Frankreich Bahn; dort regiert mit Ludwig XIV. ein König, der eine hohe Auffassung von seinem Rang und seinen Rechten hegt. Für den Papst bleibt in seiner Sicht der Dinge wenig mehr als ein formaler Ehrenvorrang. Aber auch dieser ist in Gefahr, mehr noch: die römische Ehre insgesamt. Seit zwei Jahrzehnten zirkulieren auf dem europäischen Buchmarkt anzügliche Broschüren, die dem interessierten Publikum Blicke hinter kuriale Vorhänge verheißen, Motto: toll treiben es die Nepoten.
Vor allem aber krankt Rom ökonomisch. Im Klartext: der Kirchenstaat ist finanziell ruiniert, seine Wirtschaftskraft stark geschwächt – und die Ursache für diese Misere so simpel wie heutzutage aktuell. Man hatte über seine Verhältnisse gelebt. Sprich auf Pump. Oder um es anklagender auszudrücken: man hatte das Vermögen der nächsten Generation gleich mit ausgegeben. Und noch eine gewisse Parallele zur Gegenwart drängt sich auf: die Hoffnung auf einen Wirtschaftsboom, welcher durch ein steigendes Bruttosozialprodukt und eine diskrete Inflation die angesammelten Schulden tilgen helfen würde, erwies sich als eine Illusion. Spätestens hier ist der Punkt erreicht, um die geneigte Leserin, den geneigten Leser fairerweise zu warnen: wer den Wirtschaftsteil seiner Tageszeitung undurchblättert beiseite legt, sollte zur nächsten Geschichte übergehen. Doch nicht selten findet man auf diesen Seiten die wahren Tragödien. Oder auch Heldentaten oder wie im hier zu erzählenden Fall auch beides zusammen.
Ende 1676 summierte sich das Defizit der öffentlichen Hand in Rom auf fünfzig Millionen scudi. Das zumindest schreiben die venezianischen Botschafter. Als gewiefte Kaufleute müssen sie es wissen. Oder zumindest einigermaßen zutreffend abschätzen können. Der Papst und seine zuständigen Amtsträger selbst haben kaum eine ungefähre Vorstellung, wie tief sie in der Kreide stehen. Sie wollen es auch gar nicht wissen – so wie der Verdammte auf Michelangelos Jüngstem Gericht halten sie sich die Hand vor die Augen, um den Abgrund nicht zu sehen, in den sie stürzen. Oder besser: in dem sie längst unsanft gelandet sind. Dass man keinen Überblick hat, liegt vor allem daran, dass es keine auch nur ansatzweise zentrale Kassenführung gibt. Jede Behörde mit eigenem Budget und eigener Gerichtsbarkeit – und es ist nirgendwo aufgelistet, wie viele das eigentlich sind – wirtschaftet vor sich hin. Und zwar mehr schlecht als recht. Wer römische Kassenbücher zwischen 1640 und 1676 durchsieht, den packt das kalte Grausen. Zahlen werden nicht mehr addiert und wenn doch, oft genug falsch; Saldi werden nicht mehr gezogen, Bilanzen nicht mehr erstellt: eine traumhafte Situation für die Geschäftswelt in Rom, vor allem für die genuesischen Großfirmen, die Getreide einkaufen und Kredite bereitstellen. Niemand schaut ihnen auf die Finger. Rom, der große Selbstbedienungsladen in Sachen Finanzen.
Die Kardinäle, welche im August 1676 das Konklave beziehen, wissen oder ahnen zumindest, wie ernst die Lage ist, auch wenn sie keine sicheren Zahlen kennen. Schon seit mehr als einem Jahrzehnt hat sich das Kollegium der Purpurträger in ganz neuartiger Weise sortiert – und damit zugleich polarisiert. Die alten Gefolgschaften, die sich um Spanien und Frankreich und um die Kardinalnepoten der letzten Päpste scharen, bestehen durchaus fort. Doch die damit gezogenen Grenzen verblassen zunehmend; viel schärfer tritt jetzt eine neuartige Trennlinie hervor. Auch sie mutet uns Heutigen vertraut an. Denn sie verläuft zwischen Reformern und Beharrern. Die Letzteren, überwiegend saturierte alte Männer, besitzen eine seltene Fähigkeit: unbegrenzt verdrängen zu können. Ihre Devise lautet: es wird schon weitergehen, zumindest so lange, wie wir leben. Hatte nicht schon der Erzbösewicht Machiavelli anderthalb Jahrhunderte zuvor in seinem ruchlosen Traktat über den Fürsten geschrieben, dass die Herrschaft des Papstes schlichtweg nicht untergehen kann? Die Fraktion der Reformer – sie macht gerade einmal ein Neuntel der Wahlberechtigten aus – ist davon längst nicht mehr überzeugt. In ihren Augen ist die Welt böser geworden, ja sie schreckt vor nichts mehr zurück, nicht einmal davor, Hand an das Papsttum zu legen. Dabei versteht diese Gruppierung der zelanti, der „Eiferer“, Reform im ursprünglichen Wortsinn: Wiederherstellung der alten, besseren Gestalt. In diesem Fall heißt das: zurück zu den strengen Leitsätzen des Konzils von Trient, die in ihrer Schärfe niemals zur Anwendung gelangt sind. Vor allem aber bedeutet es einen politisch-moralischen Appell, dessen Befolgung in ihren Augen gleichfalls seit mehr als einem Jahrhundert überfällig ist: schaffen wir endlich den ewigen Stein des Anstoßes aus dem Weg – schaffen wir den Nepotismus ab. Seit langem ist kaum ein Jahr vergangen, in dem nicht – auch das eine Ähnlichkeit zum frühen 21. Jahrhundert – der regierende Papst eine hochkarätige Kommission ins Leben gerufen hat, die sich dieser Frage aller Fragen zu widmen hatte. Darf er oder darf er nicht – darf der regierende Pontifex maximus seine Verwandten erhöhen, und falls ja, wie weit, wie glanzvoll, wie kostspielig? Was wie ein müßiges Spiel der Regierenden aussehen mag, ist in Wirklichkeit blutiger, heiliger Ernst: Roms Herz, der Nepotismus, schlägt unruhig. Und nach der Mitte des 17. Jh. erbringt diese angstvolle, qualvolle Gewissensbefragung immer seltener die erhofften beschwichtigenden Antworten (die am Ende doch nicht beruhigen können) und stattdessen immer häufiger ein niederschmetternd negatives Resultat: nein, er darf nicht, schlimmer noch, er stellt sein Seelenheil aufs Spiel, wenn er es tut. Und so stirbt Innozenz’ dritter Vorgänger, Alexander VII., der sich am Beginn seiner Regierung als erster eine Generalsanierung des Systems Rom zu Ziel gesetzt hatte, 1667 im Zustand der völligen Verzweiflung; er hatte einige Monate lang durchgehalten, hatte seine Verwandten von Rom fern gehalten,