Johann Wolfgang Goethe

Maximen und Reflexionen


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gewährt; jedoch bedenke man immer dabei, ob nicht hier grade das imposante Fremde, das bis zum Unwahren gesteigerte Talent der deutschen Ausbildung schädlich werden müsse!

      739. Eigenthümlichkeit des Ausdrucks ist Anfang und Ende aller Kunst. Nun hat aber eine jede Nation eine von dem allgemeinen Eigenthümlichen der Menschheit [124]abweichende besondere Eigenheit, die uns zwar anfänglich widerstreben mag, aber zuletzt, wenn wir’s uns gefallen ließen, wenn wir uns derselben hingäben, unsere eigene charakteristische Natur zu überwältigen und zu erdrücken vermöchte.

      740. Wie viel Falsches Shakespeare und besonders Calderon über uns gebracht, wie diese zwei großen Lichter des poetischen Himmels für uns zu Irrlichtern geworden, mögen die Literatoren der Folgezeit historisch bemerken.

      741. Eine völlige Gleichstellung mit dem spanischen Theater kann ich nirgends billigen. Der herrliche Calderon hat soviel Conventionelles, daß einem redlichen Beobachter schwer wird, das große Talent des Dichters durch die Theateretiquette durchzuerkennen. Und bringt man so etwas irgend einem Publicum, so setzt man bei demselben immer guten Willen voraus, daß es geneigt sei, auch das Weltfremde zuzugeben, sich an ausländischem Sinn, Ton und Rhythmus zu ergötzen und aus dem, was ihm eigentlich gemäß ist, eine Zeitlang herauszugehen.

      742. Yorik-Sterne war der schönste Geist, der je gewirkt hat; wer ihn lies’t, fühlt sich sogleich frei und schön; sein Humor ist unnachahmlich, und nicht jeder Humor befreit die Seele.

      743. »Mäßigkeit und klarer Himmel sind Apollo und die Musen.«

      744. »Das Gesicht ist der edelste Sinn. Die andern vier belehren uns nur durch die Organe des Tacts: wir hören, wir fühlen, riechen und betasten alles durch Berührung; das Gesicht aber steht unendlich höher, verfeint sich über die Materie und nähert sich den Fähigkeiten des Geistes.«

      745. »Setzten wir uns an die Stelle anderer Personen, so [125]würden Eifersucht und Haß wegfallen, die wir so oft gegen sie empfinden; und setzten wir andere an unsere Stelle, so würde Stolz und Einbildung gar sehr abnehmen.«

      746. »Nachdenken und Handlen verglich einer mit Rahel und Lea: die eine war anmuthiger, die andere fruchtbarer.«

      747. »Nichts im Leben, außer Gesundheit und Tugend, ist schätzenswerther als Kenntniß und Wissen; auch ist nichts so leicht zu erreichen und so wohlfeil zu erhandeln: die ganze Arbeit ist Ruhigsein und die Ausgabe Zeit, die wir nicht retten, ohne sie auszugeben.«

      748. »Könnte man Zeit wie baares Geld bei Seite legen, ohne sie zu benutzen, so wäre dieß eine Art von Entschuldigung für den Müßiggang der halben Welt, aber keine völlige; denn es wäre ein Haushalt, wo man von dem Hauptstamm lebte, ohne sich um die Interessen zu bemühen.«

      749. »Neuere Poeten thun viel Wasser in die Tinte.«

      750. »Unter mancherlei wunderlichen Albernheiten der Schulen kommt mir keine so vollkommen lächerlich vor als der Streit über die Echtheit alter Schriften, alter Werke. Ist es denn der Autor oder die Schrift, die wir bewundern oder tadeln? Es ist immer nur der Autor, den wir vor uns haben; was kümmern uns die Namen, wenn wir ein Geisteswerk auslegen?«

      751. »Wer will behaupten, daß wir Virgil oder Homer vor uns haben, indem wir die Worte lesen, die ihm zugeschrieben werden? Aber die Schreiber haben wir vor uns, und was haben wir weiter nöthig? Und ich denke fürwahr, die Gelehrten, die in dieser unwesentlichen Sache so genau zu Werke gehen, scheinen mir nicht weiser als ein sehr schönes Frauenzimmer, das mich einmal mit möglichst süßem [126]Lächlen befragte, wer denn der Autor von Shakespeare’s Schauspielen gewesen sei.«

      752. »Es ist besser, das geringste Ding von der Welt zu thun, als eine halbe Stunde für gering halten.«

      753. »Muth und Bescheidenheit sind die unzweideutigsten Tugenden; denn sie sind von der Art, daß Heuchelei sie nicht nachahmen kann. Auch haben sie die Eigenschaft gemein, sich beide durch dieselbe Farbe auszudrücken.«

      754. »Unter allem Diebsgesindel sind die Narren die schlimmsten: sie rauben euch beides, Zeit und Stimmung.«

      755. »Uns selbst zu achten leitet unsre Sittlichkeit; andere zu schätzen regiert unser Betragen.«

      756. »Kunst und Wissenschaft sind Worte, die man so oft braucht und deren genauer Unterschied selten verstanden wird; man gebraucht oft eins für das andere.«

      757. »Auch gefallen mir die Definitionen nicht, die man davon gibt. Verglichen fand ich irgendwo Wissenschaft mit Witz, Kunst und Humor. Hierin find’ ich mehr Einbildungskraft als Philosophie: es gibt uns wohl einen Begriff von dem Unterschied beider, aber keinen von dem Eigenthümlichen einer jeden.«

      758. »Ich denke, Wissenschaft könnte man die Kenntniß des Allgemeinen nennen, das abgezogene Wissen; Kunst dagegen wäre Wissenschaft, zur That verwendet. Wissenschaft wäre Vernunft und Kunst ihr Mechanismus; deßhalb man sie auch praktische Wissenschaft nennen könnte. Und so wäre denn endlich Wissenschaft das Theorem, Kunst das Problem.«

      759. »Vielleicht wird man mir einwenden: Man hält die Poesie für Kunst, und doch ist sie nicht mechanisch. Aber ich läugne, daß sie eine Kunst sei; auch ist sie keine [127]Wissenschaft. Künste und Wissenschaften erreicht man durch Denken, Poesie nicht; denn diese ist Eingebung: sie war in der Seele empfangen, als sie sich zuerst regte. Man sollte sie weder Kunst noch Wissenschaft nennen, sondern Genius.«

      760. Auch jetzt im Augenblick sollte jeder Gebildete Sterne’s Werke wieder zur Hand nehmen, damit auch das neunzehnte Jahrhundert erführe, was wir ihm schuldig sind, und einsähe, was wir ihm schuldig werden können.

      761. In dem Erfolg der Literaturen wird das frühere Wirksame verdunkelt und das daraus entsprungene Gewirkte nimmt überhand; deßwegen man wohlthut, von Zeit zu Zeit wieder zurückzublicken. Was an uns Original ist wird am besten erhalten und belobt, wenn wir unsre Altvordern nicht aus den Augen verlieren.

      762. Möge das Studium der griechischen und römischen Literatur immerfort die Basis der höhern Bildung bleiben!

      763. Chinesische, indische, ägyptische Alterthümer sind immer nur Curiositäten; es ist sehr wohlgethan, sich und die Welt damit bekannt zu machen; zu sittlicher und ästhetischer Bildung aber werden sie uns wenig fruchten.

      764. Der Deutsche läuft keine größere Gefahr, als sich mit und an seinen Nachbarn zu steigern. Es ist vielleicht keine Nation geeigneter, sich aus sich selbst zu entwickeln; deßwegen es ihr zum größten Vortheil gereichte, daß die Außenwelt von ihr so spät Notiz nahm.

      765. Sehen wir unsre Literatur über ein halbes Jahrhundert zurück, so finden wir, daß nichts um der Fremden willen geschehen ist.

      766. Daß Friedrich der Große aber gar nichts von ihnen wissen wollte, das verdroß die Deutschen doch, und sie thaten das Möglichste, als Etwas vor ihm zu erscheinen.

      [128]767. Jetzt, da sich eine Weltliteratur einleitet, hat, genau besehen, der Deutsche am meisten zu verlieren; er wird wohl thun, dieser Warnung nachzudenken.

      768. Auch einsichtige Menschen bemerken nicht, daß sie dasjenige erklären wollen, was Grunderfahrungen sind, bei denen man sich beruhigen müßte.

      769. Doch mag dieß auch vortheilhaft sein, sonst unterließe man das Forschen allzu früh.

      770. Wer sich von nun an nicht auf eine Kunst oder Handwerk legt, der wird übel dran sein. Das Wissen fördert nicht mehr bei dem schnellen Umtriebe der Welt; bis man von allem Notiz genommen hat, verliert man sich selbst.

      771. Eine allgemeine Ausbildung dringt uns jetzt die Welt ohnehin auf, wir brauchen uns deßhalb darum nicht weiter zu bemühen; das Besondere müssen wir uns zueignen.

      772. Die größten Schwierigkeiten liegen da, wo wir sie nicht suchen.

      773. Lorenz Sterne war geboren 1713, starb 1768. Um ihn zu begreifen, darf man die sittliche und kirchliche Bildung seiner Zeit nicht unbeachtet lassen; dabei hat man wohl zu bedenken, daß er Lebensgenosse Warburtons gewesen.

      774. Eine freie Seele wie die seine kommt in Gefahr, frech zu werden, wenn nicht ein edles Wohlwollen das sittliche