Aber wie sieht nun des Näheren diese freie Verfügung aus? Was macht das freie Eindringen in unsere durch und durch von Antizipationen übersponnene Welt, was macht alle bestehende Kenntnis und neue Kenntnis möglich? Wir bevorzugen hierbei den normalen und Grundfall der Konstitution von äußerem Dasein, nämlich den von unveränderten Raumdingen. Die Klarlegung der Möglichkeit, dass [16]Veränderungen von Dingen vonstatten gehen können, ohne dass sie wahrgenommen sind, und doch in mannigfachen nachkommenden Wahrnehmungen und Erfahrungen der Kenntnis, nach allen ihren unwahrgenommenen Stücken, zugänglich sind, ist ein höher liegendes Thema, das schon die Aufklärung der Möglichkeit einer Erkenntnis von ruhendem Dasein voraussetzt.
Wir fragen also, um wenigstens dieses Grundstück der konstitutiven Problematik zum Verständnis zu bringen, wie sieht die freie Verfügung über Kenntnis aus, die ich schon habe, wenn auch noch so unvollkommen habe, und zwar im Fall unveränderter Dinglichkeit? Was macht sie möglich?
Aus dem Bisherigen ersehen wir, dass jede Wahrnehmung implicite ein ganzes Wahrnehmungssystem mit sich führt, jede in ihr auftretende Erscheinung ein ganzes Erscheinungssystem, nämlich in Form von intentionalen Innen- und Außenhorizonten. Keine erdenkliche Erscheinungsweise gibt darum den erscheinenden Gegenstand vollkommen, in keiner ist er letzte Leibhaftigkeit, die das vollkommen erschöpfende Selbst des Gegenstandes brächte, jede Erscheinung führt im Leerhorizont ein plus ultra mit sich. Und da mit jeder die Wahrnehmung doch prätendiert, den Gegenstand leibhaft zu geben, so prätendiert sie in der Tat beständig mehr, als sie ihrem eigenen Wesen nach leisten kann. In eigentümlicher Weise ist jede Wahrnehmungsgegebenheit ein beständiges Gemisch von Bekanntheit und Unbekanntheit, die auf neue mögliche Wahrnehmung verweist, die zur Bekanntheit bringen würde. Und das wird noch in einem neuen Sinn gelten als in dem, der bisher hervorgetreten ist.
[17]Sehen wir nun zu, wie im Übergang der Erscheinungen, etwa im Nähertreten, Herumgehen, Augenbewegen, die Deckungseinheit nach dem Sinn aussieht. Das Grundverhältnis in diesem be[12]weglichen Übergang ist das zwischen Intention und Erfüllung. Die leere Vorweisung eignet sich die ihr entsprechende Fülle an. Sie entspricht der mehr oder minder reichen Vorzeichnung, bringt aber, da ihr Wesen unbestimmbare Unbestimmtheit ist, in eins mit der Erfüllung auch Näherbestimmung. Also damit ist eine neue »Urstiftung« vollzogen, eine Urimpression, wie wir hier wieder sagen können, denn ein Moment ursprünglicher Originalität tritt auf. Das schon urimpressional Bewusste weist durch seinen Hof auf neue Erscheinungsweisen vor, die, eintretend, teils als bestätigende, teils als näher bestimmende auftreten. Vermöge der unerfüllten und jetzt sich erfüllenden Innenintentionen bereichert sich das schon Erscheinende in sich selbst. Dazu schafft sich im Fortgang der leere Außenhorizont, der mit der Erscheinung verflochten war, seine nächste Erfüllung, mindestens eine partielle. Der unerfüllt bleibende Teil des Horizonts geht über in den Horizont der neuen Erscheinung, und so geht es stetig weiter. Dabei verliert sich, was schon vom Gegenstand in die Erscheinung getreten war, partiell wieder im Fortgang aus der Erscheinungsgegebenheit, das Sichtige wird wieder unsichtig. Aber es ist nicht verloren. Es bleibt retentional bewusst und in der Form, dass der Leerhorizont der Erscheinung, die gerade aktuell ist, nun eine neue Vorzeichnung erhält, die bestimmt auf das schon früher gegeben Gewesene als Mitgegenwärtiges verweist. Habe ich die Rückseite gesehen und bin zur Vorderseite zurückgekehrt, so hat der Wahrnehmungsgegenstand für mich eine [18]Sinnesbestimmung erhalten, die auch im Leeren auf das vordem Gesehene verweist. Es bleibt dem Gegenstand zugeeignet. Der Prozess der Wahrnehmung ist ein Prozess beständiger Kenntnisnahme, der das in Kenntnis Genommene im Sinn festhält und so einen immer neu gewandelten und immer mehr bereicherten Sinn schafft. Dieser Sinn ist während des fortdauernden Wahrnehmungsprozesses zugeschlagen zu dem vermeintlich in Leibhaftigkeit erfassten Gegenstand selbst.
Es hängt nun von der Richtung des Wahrnehmungsprozesses ab, welche Linien aus dem System der unerfüllten Intentionen zur Erfüllung gebracht, also welche kontinuierlichen Reihen von möglichen Erscheinungen aus dem gesamten System möglicher Erscheinungen vom Gegenstand zur Verwirklichung gebracht werden. Im Fortgang in dieser Linie verwandeln sich die ent[13]sprechenden Leerintentionen in Erwartungen. Ist die Linie einmal eingeschlagen, so verläuft die Erscheinungsreihe im Sinne sich von der aktuellen Kinästhese her stetig erregender und stetig sich erfüllender Erwartungen, während die übrigen Leerhorizonte in toter Potentialität verbleiben. Schließlich ist noch zu erwähnen, dass die Zusammengehörigkeit in der Deckung der ineinander nach Intention und Erfüllung übergehenden Abschattungserscheinungen nicht nur die ganzen Erscheinungen betrifft, sondern alle ihre unterscheidbaren Momente und Teile. So entspricht jedem erfüllten Raumpunkt des Gegenstandes etwas Entsprechendes in der ganzen Linie kontinuierlich ineinander übergehender Erscheinungen, in welchen dieser Punkt sich als Moment der erscheinenden Raumgestalt darstellt.
Fragen wir endlich, was innerhalb jedes Zeitpunktes der [19]Momentanerscheinung Einheit gibt, Einheit als Gesamtaspekt, in dem sich die jeweilige Seite darstellt, so werden wir auch da auf wechselseitige Intentionen stoßen, die sich zugleich wechselseitig erfüllen. Im Übergang der Erscheinungen der Aufeinanderfolge sind sie alle in beweglicher Verschiebung, Bereicherung und Verarmung.
In diesen überaus komplizierten und wundersamen Systemen der Intention und Erfüllung, die die Erscheinungen machen, konstituiert sich der immer neu immer anders erscheinende Gegenstand als derselbe. Aber er ist nie fertig, nie fest abgeschlossen.
Wir müssen hier auf eine für die Objektivation des Wahrnehmungsgegenstandes wesentliche Seite der noematischen Konstitution hinweisen, auf die Seite der kinästhetischen Motivation. Nebenbei war immer wieder die Rede davon, dass die Erscheinungsabläufe mit inszenierenden Bewegungen des Leibes Hand in Hand gehen. Aber das darf nicht als ein zufälliges Nebenbei verbleiben. Der Leib fungiert beständig mit als Wahrnehmungsorgan und ist dabei in sich selbst wieder ein ganzes System aufeinander abgestimmter Wahrnehmungsorgane. Der Leib ist in sich charakterisiert als Wahrnehmungsleib. Wir betrachten ihn dabei rein als subjektiv beweglichen und sich im wahrnehmenden Tun subjektiv bewegenden Leib. In dieser Hinsicht kommt er nie in Betracht als wahrgenommenes Raumding, sondern hinsichtlich des Systems von sogenannten »Bewegungsempfindungen[14]«, die im Bewegen der Augen, des Kopfes usw. während der Wahrnehmung ablaufen, und sie sind nicht nur parallel mit den ablaufenden Erscheinungen da, sondern bewusstseinsmäßig sind die betreffenden kinästhetischen Reihen und die [20]Wahrnehmungserscheinungen aufeinander bezogen. Blicke ich auf einen Gegenstand, so habe ich ein Bewusstsein meiner Augenstellung und zugleich, in Form eines neuartigen systematischen Leerhorizonts, ein Bewusstsein des ganzen Systems möglicher, mir frei zu Gebote stehender Augenstellungen. Und nun ist das in der gegebenen Augenstellung Gesehene mit dem ganzen System verknüpft, dass ich evidenterweise sagen kann: Würde ich die Augen nach der und der Richtung bewegen, so würden demgemäß in bestimmter Ordnung die und die visuellen Erscheinungen ablaufen; würde ich die Augenbewegung nach der und der andern Richtung laufen lassen, so würden andere, und entsprechend zu erwartende Erscheinungsreihen verlaufen. Ebenso für die Kopfbewegungen im System ebendieser Bewegungsmöglichkeiten, wieder ebenso, wenn ich die Bewegungen des Gehens hereinziehen würde usw. Jede Linie der Kinästhese läuft in eigener Weise ab, in total anderer als eine Reihe von sinnlichen Daten. Sie verläuft als mir frei verfügbar, als frei zu inhibieren, frei wieder zu inszenieren, als ursprünglich subjektive Realisation ab. Also in der Tat in besonderer Weise ist das System der Leibesbewegungen bewusstseinsmäßig charakterisiert als ein subjektiv-freies System. Ich durchlaufe es im Bewusstsein des freien »Ich kann«. Ich mag unwillkürlich mich darin ergehen, meine Augen etwa unwillkürlich dahin und dorthin wenden; jederzeit kann ich aber in Willkür eine solche und jede beliebige Bewegungslinie einschlagen. Sowie ich mit einer solchen Stellung eine Dingerscheinung habe, ist aber dadurch im ursprünglichen Bewusstsein des Infolge ein System der Zugehörigkeit der mannigfaltigen Erscheinungen von demselben Ding vorgezeichnet. Ich bin [21]hinsichtlich der Erscheinungen nicht frei: Wenn ich eine Linie im freien System des »Ich bewege mich« realisiere, so sind im Voraus die kommenden Erscheinungen vorgezeichnet. Die Erscheinungen bilden abhängige Systeme. Nur als Abhängige der Kinästhese können sie kontinuierlich ineinander übergehen und Einheit eines Sinnes konstituieren. Nur in solchen Verläufen entfalten sie ihre intentionalen Hinweise. Nur durch dieses Zusammenspiel unabhängiger und abhängiger Vari[15]ablen konstituiert sich das Erscheinende als transzendenter Wahrnehmungsgegenstand, und zwar als ein Gegenstand,