»neuen Absatzwege« nicht vorwärtsgekommen. Anstatt den Ackerboden zu verbessern, verbleibt man hartnäckig bei der Weidewirtschaft, so wenig sie auch abwerfen mag, und die träge Gemeinde hat sich von der Ebene abgekehrt und selbstverständlich weiter nach der Wasserseite zu vergrößert. So sieht man schon von weitem den Flecken am Ufer entlang hingestreckt liegen wie einen Kuhhirten, der am Bach seine Mittagsruhe hält.
Am Fuß der Höhen hinter der Brücke beginnt eine mit jungen Pappeln gesäumte Chaussee, die geradewegs zu den ersten Häusern des Orts führt. Sie sind von Hecken umschlossen; inmitten der Gehege liegen zahlreiche, regellos verstreute Nebenbauten, Apfelpressen, Wagenschuppen und Brennereien zwischen buschigen Bäumen, in deren Gezweig Leitern, Stangen oder Sensen hängen. Die Strohdächer sehen aus wie bis an die Augen gestülpte Pelzmützen; sie verdecken fast ein Drittel der niedrigen Fenster, deren dicke, gewölbte Scheiben in der Mitte mit einem Knoten geziert sind, in der Art von Flaschenböden. An die weißen, von schwarzem Gebälk durchzogenen Kalkwände klammern sich hier und dort magere Birnbäume an, und die Türen der Erdgeschosse haben kleine, drehbare Klappen, damit die Küken, die auf den Schwellen in Zider getauchte Brotkrumen picken, nicht ins Haus laufen. Allmählich werden die Gehege enger, die Wohnstätten rücken dichter aneinander, die Hecken verschwinden; ein Bündel Farnkraut baumelt an einem Besenstiel unter einem Fenster; dort ist eine Hufschmiede, und dann kommt ein Stellmacher mit zwei oder drei neuen, zweirädrigen Karrenwagen, die auf die Landstraße hinausragen. Schließlich erscheint, zwischen Gitterstäben sichtbar, ein weißes Haus hinter einem Rasenrund, das ein Amor mit auf den Mund gelegtem Finger schmückt; zwei gusseiserne Vasen stehen an den beiden Enden der Freitreppe; an der Tür glänzen amtliche Schilder; es ist das Haus des Notars und das schönste des Dorfs.
Die Kirche liegt an der andern Seite der Straße zwanzig Schritte weiter, dort, wo es auf den Marktplatz geht. Der kleine Friedhof, der sie umgibt, umschlossen von einer brusthohen Mauer, ist so voller Gräber, dass die alten, in gleicher Höhe mit dem Boden liegenden Steinplatten ein ununterbrochenes Quaderpflaster bilden, darein das Gras ganz von sich aus regelmäßige, grüne Rechtecke gezeichnet hat. Die Kirche ist während der letzten Regierungsjahre Karls X. renoviert worden. Doch das Holzgewölbe beginnt oben ein bisschen morsch zu werden und zeigt an manchen Stellen in seinem blauen Anstrich schwarze Rillen. Über der Haupttür, dort, wo eigentlich die Orgel sein müsste, befindet sich eine Empore für die Männer; es führt eine Wendeltreppe hinauf, die unter den Holzschuhen hallt.
Das Tageslicht fällt in schrägen Strahlen durch die farblosen Fenster auf die Bänke, die quer zur Wand stehen; auf einigen ist eine kleine Strohmatte festgenagelt, und darunter steht in großen Buchstaben zu lesen: »Bank von Monsieur Soundso.« Weiter hinten, wo das Schiff sich verengt, steht dem Beichtstuhl gegenüber eine Statuette der Madonna; sie trägt ein Atlasgewand und einen mit silbernen Sternen besäten Tüllschleier; ihre Wangen sind genauso knallrot angemalt wie die eines Götzenbilds auf den Sandwich-Inseln; und schließlich beherrscht eine Kopie der »Heiligen Familie, Stiftung des Ministers des Innern«, zwischen vier Leuchtern den Hauptaltar und schließt das Blickfeld ab. Die Chorstühle aus Fichtenholz sind ohne Anstrich geblieben.
Die Markthalle, das heißt ein Ziegeldach auf etwa zwanzig Holzpfeilern, nimmt ungefähr die Hälfte des Marktplatzes von Yonville ein. Das Bürgermeisteramt, gebaut »nach den Entwürfen eines Pariser Architekten«, ist eine Art griechischer Tempel und bildet mit dem Haus des Apothekers einen Winkel. Es hat im Erdgeschoss drei ionische Säulen und im ersten Stock eine Rundbogengalerie, während das abschließende Giebeldreieck von einem gallischen Hahn ausgefüllt wird, der die eine Klaue auf die Verfassung stützt und in der andern die Waage der Gerechtigkeit hält.
Aber was am meisten den Blick auf sich lenkt, das ist, gegenüber dem Gasthaus »Zum goldenen Löwen«, Monsieur Homais’ Apotheke! Hauptsächlich am Abend, wenn die große Lampe angezündet ist und die beiden bauchigen Glasgefäße, grün und rot, die das Schaufenster schmücken, ihre Farben weit über den Boden werfen, dann sieht man durch sie hindurch den Schatten des Apothekers, der sich auf sein Pult stützt. Sein Haus ist von oben bis unten mit Ankündigungen beklebt, die in Kursivschrift, Rundschrift und nachgemachter Druckschrift lauten: »Vichy-Brunnen, Selterswasser, Barèger Tafelwasser, Blutreinigungsmittel, Raspail-Tropfen, Arabisches Kraftmehl, Darcet-Pastillen, Regnault-Paste, Bandagen, Badesalz, Gesundheits-schokolade usw.«. Und auf dem Geschäftsschild, das so lang ist wie der ganze Laden, steht in Goldbuchstaben: »Homais, Apotheker.« Drinnen im Laden, hinter der großen, auf dem Ladentisch festgeschraubten Waage, liest man über einer Glastür das Wort »Laboratorium«, und in halber Höhe noch einmal auf schwarzem Grund in goldenen Lettern den Namen »Homais«.
Sonst gibt es in Yonville nichts zu sehen. Die Straße (die einzige) ist einen Büchsenschuss lang und von ein paar Läden gesäumt; sie endet unvermittelt an der Biegung der Landstraße. Wenn man sie rechts liegen lässt und unter der Höhe von Saint-Jean entlanggeht, kommt man bald zum Friedhof.
Zur Zeit der Cholera hatte man, um ihn zu vergrößern, ein Stück der Mauer niedergelegt und drei Morgen anstoßenden Ackerlands hinzugekauft; aber dieser ganze neue Teil ist fast unbenutzt geblieben; wie zuvor drängen sich die Gräber nach dem Eingangstor hin zusammen. Der Wärter, der zugleich Totengräber und Küster ist (und somit aus den Leichen der Gemeinde doppelte Einnahmen zieht), hat sich das brachliegende Land zunutze gemacht und baut darauf Kartoffeln an. Doch sein kleines Feld schrumpft von Jahr zu Jahr zusammen, und er weiß nicht, ob er sich über die Begräbnisse freuen oder über die Gräber ärgern soll.
»Sie leben von den Toten, Lestiboudois!«, hatte ihm schließlich eines Tages der Herr Pfarrer gesagt.
Diese gruselige Bemerkung hatte ihn nachdenklich gestimmt; eine Zeitlang hörte er damit auf; aber noch heute fährt er mit dem Legen seiner Knollen fort und versichert sogar mit Nachdruck, sie wüchsen ganz von selber.
Seit den Ereignissen, die hier erzählt werden sollen, hat sich in Yonville tatsächlich nichts verändert. Die Blechtrikolore dreht sich noch immer auf der Kirchturmspitze; vor dem Laden des Modewarenhändlers flattern nach wie vor die beiden Kattunwimpel im Wind; die Fötusse des Apothekers, die wie Päckchen weißer Stärke aussehen, verwesen immer mehr in dem trübe gewordenen Alkohol, und noch immer zeigt der alte, goldene, vom Regen missgefärbte Löwe über dem Tor des Gasthauses den Vorübergehenden seine Pudelmähne.
An dem Abend, da das Ehepaar Bovary in Yonville eintreffen sollte, war die Wirtin jenes Gasthofs, die Witwe Lefrançois, so stark beschäftigt, dass sie beim Hantieren mit ihren Kasserollen dicke Tropfen schwitzte. Am folgenden Tag war nämlich Markt im Flecken. Da musste im voraus Fleisch zerteilt, Geflügel ausgenommen, Suppe gekocht und Kaffee gebrannt werden. Außerdem hatte sie ihre regelmäßigen Tischgäste, und dazu kamen heute noch der Doktor, seine Frau und deren Dienstmädchen; am Billard wurde schallend gelacht; drei Müllerburschen in der kleinen Gaststube riefen nach Schnaps; das Holz flammte, die Glut prasselte, und auf dem langen Küchentisch erhoben sich zwischen rohen Hammelvierteln Stapel von Tellern und zitterten unter den Stößen des Hackklotzes, auf dem Spinat zerkleinert wurde. Vom Geflügelhof war das Gegacker der Hühner zu hören, hinter denen die Magd herlief, um ihnen den Hals abzuschneiden.
Ein Mann in grünen Lederpantoffeln, leicht von den Blattern gezeichnet und eine Samtkappe mit goldener Troddel auf dem Kopf, wärmte sich am Kamin den Rücken. Sein Gesicht drückte nichts als Selbstzufriedenheit aus, und er wirkte, als lebe er genauso ruhig wie der Stieglitz, der über seinem Kopf in einem Weidenrutenbauer hing; es war der Apotheker.
»Artémise!«, schrie die Wirtin, »zerknick Reisig, füll die Karaffen, trag Schnaps auf, beeil dich! Wenn ich nur wüsste, was ich der Gesellschaft, die Sie erwarten, als Nachtisch vorsetzen soll! Du meine Güte! Die Umzugsleute fangen schon wieder mit ihrem Geklapper auf dem Billard an! Und dabei steht ihr Wagen noch immer in der Einfahrt! Die ›Schwalbe‹ bringt es fertig und rammt ihn, wenn sie kommt! Ruf Polyte, er soll ihn beiseite schieben …! Wenn ich mir vorstelle, Monsieur Homais, dass sie seit heute morgen schon fünfzehn Partien gespielt und acht Schoppen Zider getrunken haben …! Die stoßen mir noch ein Loch ins Billardtuch«, fuhr sie fort und sah ihnen von weitem zu, den Schaumlöffel in der Hand.
»Das wäre weiter kein Malheur!«, antwortete Homais. »Dann müssten Sie ein neues kaufen.«
»Ein