und er träumt vom Wiederfinden der „seelischen Lebenskunst“ und des „seelischen Gemeinbesitzes“. Im Westen vermisst er eine „geschirmte, gepflegte und vertrauensvolle Religiosität“. Der erste Weltkrieg mit seinen Millionen Toten scheint dann wie ein Beweis für den gigantischen kollektiven Verlust, der mit dem Erlöschen der Seele einhergeht.6
Ein knappes Jahrzehnt später, 1922, rechnet der linke Autor Ernst Toller in seinem Stück „Die Maschinenstürmer“ mit dem Maschinenzeitalter ab. Der Plot verlegt die Debatte ins Jahrhundert zuvor: Die Textilarbeiter Nottinghams sollen 1815 im Aufkommen des Frühkapitalismus durch Maschinen ersetzt werden. Zwei Arbeiterführer mobilisieren die Massen: Jimmy Cobbett predigt Verhandlungen und einen politischen Weg, um die Arbeitsverhältnisse zu verändern. John Wible dagegen setzt auf Gewalt und Zerstörung der Maschine. Ein wahnsinniger Ingenieur, dessen Seele über dem Bau der Maschinen zerstört wurde, tritt auf und verkündet die Macht der Maschinen über die Menschen.
Ingenieur auf der Brücke mit irrer Gebärde:
Hihuhahaha. Ich aber sage euch, die Maschine ist nicht tot … Sie lebt! Sie lebt …
Ausstreckt sie die Pranken, Menschen umklammernd krallend die zackigen Finger ins blutende Herz …
Hihuhahaha … Hihuhahaha
Gen die umfriedeten Dörfer wälzen sich stampfende Heere …
Hindorren die Gärten, verpestet vom schweflichen Hauch
Und es wachsen die steinernen Wüsten, die kindermordenden
Und es leitet ein grausames Uhrwerk die Menschen
In freudlosem Takte …
Ticktack der Morgen … Ticktack der Mittag … Ticktack der Abend …
Einer ist Arm, einer ist Bein … einer ist Hirn …
Und die Seele, die Seele ist tot …
Alle in magischer Andacht:
Und die Seele, die Seele ist tot …
Stille
Ingenieur lacht
Alle:
Er lacht! Er ist besessen!
Ruf:
Besessen vom Geist der Maschine!7
Doch Toller belässt es nicht bei der oberflächlichen Dämonisierung der Technik. Er lässt die Hauptfigur Cobbett, den nachdenklicheren der beiden Arbeiterführer sagen: „Nicht gegen die Maschine, gegen die Ausbeuter müsst ihr kämpfen. Nicht mit dem Knüppel, sondern mit dem Kopf. Es leben andere Feinde, gewaltiger als das Gerüst von Eisen, Schrauben, Drähten, Holz, das man Maschine nennt.“
Das Zeitalter der industriellen Revolution und die damit verbundenen umwälzenden Veränderungen der Lebensverhältnisse, haben bereits vor zweihundert Jahren ein Nachdenken darüber initiiert, was den Unterschied ausmacht zwischen der beseelten und der unbeseelten Materie. Dabei stellt sich zwangsläufig die Frage, ob es so etwas wie eine Seele gibt und was sie denn sei.
Man hatte sich in der Aufklärung von den Dogmen der christlichen Kirche verabschiedet, die – im Katholizismus – einen Dualismus von Leib und Seele behauptet, der Seele eine eigene Entität und Substanz zusprach und ihr als einer Art göttlicher Funke den Vorzug vor dem Leib gab.
Man hatte sich mit Immanuel Kants Erkenntniskritik verabschiedet vom Versuch, der Seele im philosophischen Denkgebäude einen Platz zuzugestehen. Nach Kants Überzeugung sind Begriffe wie Welt, Gott oder eben Seele Vorstellungen, die nicht auf repräsentative Objekte bezogen werden können.
Damit war der Anfang gemacht, den Seelenbegriff in der akademisch-universitären Sprache zum Verstummen zu bringen: Zu unpräzise, zu vieldeutig, zu vorbelastet schien das Wort „Seele“. In einer philosophischen Welt der präzisen Logik und Kausalität war die Vorstellung von der Seele undeutlich, kontraproduktiv, anarchisch und subversiv. In der Welt der empirischen Wissenschaften wurde die Rede von der Seele bald zur verstaubten und belächelten Ruine einer abendländischen Denktradition.
In seinem berühmten Essay „Über das Marionettentheater“, der 1810 in vier Folgen in den Berliner Abendblättern erschien, beschäftigt sich der Dichter Heinrich von Kleist mit dem Einfluss der Seele auf die menschliche Erscheinung. Die unbewusste natürliche Schönheit wird gefeiert gegenüber der künstlich eingeübten Geste. Der fiktive Autor des Essays tritt in einen Dialog mit einem bekannten Schauspieler, der häufiger beim Besuch eines Marionettentheaters gesehen worden war. Die beiden unterhalten sich über die Schönheit des Unbewussten und die Seele als Link zwischen der unbelebten Materie und Gott am Beispiel des Tanzes:
Ich fragte ihn, ob er glaube, dass der Maschinist, der diese Puppen regiere, selbst ein Tänzer sein, oder wenigstens einen Begriff vom Schönen im Tanz haben müsse? Er erwiderte, dass wenn ein Geschäft, von seiner mechanischen Seite, leicht sei, daraus noch nicht folge, dass es ganz ohne Empfindung betrieben werden könne. Die Linie, die der Schwerpunkt zu beschreiben hat, wäre zwar sehr einfach und – wie er glaube in den meisten Fällen grad …
Dagegen wäre diese Linie wieder, von einer anderen Seite, etwas sehr Geheimnisvolles. Denn sie wäre nichts anderes als der Weg der Seele des Tänzers; und er zweifle, dass sie anders gefunden werden könne, als dadurch, dass sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d. h. mit anderen Worten, tanzt.8
So unterstellt Kleist, dass auch bei einem technisch komplexen Vorgang so etwas wie „Seele“ im Spiel ist. Und dass der Tanz der Puppen Ausdruck der Seele des Marionettenspielers ist. Wenn Kleist recht hat und der Marionettenspieler in all seinen mechanisierten Geschöpfen selber tanzt, so bedeutet das heute, dass auch in Computerprogrammen die Seele des Programmierers erkennbar wird und in den größten Netzwerken der Welt ein Psychogramm ihrer Schöpfer zu finden sein muss.
Es geht bei der Rede von der Seele also um ein wirksames Nicht-Etwas. Um ein definitorisches Vakuum. Um die Beschreibung einer Leerstelle. Um das Wort für jene weltberühmte Lücke, die im Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo zwischen dem Finger Gottes und dem des Menschen klafft. Der Schöpfungsakt wird im Gemälde erzählt als ein nichtdarstellbarer Raum, als Hauch und luftiger Abstand zwischen Schöpfer und Adam.
Gott, der seine Geschöpfe lebendig macht und in Bewegung bringt, drückt seine Schöpfermacht aus in einem Zwischenraum. Gott ist in der Lücke.
Künstler und Handwerker haben ein Gespür für das unsichtbar Wirkende, das die Seele ausmacht. Dosso Dossi malt in der Zeit zwischen 1525 und 1530 das Gemälde „Jupiter, Merkur und die Tugend“. In einem Ausschnitt wird der Schöpfer Jupiter als Künstler dargestellt, der die Seelen der Menschen zum Leben erweckt, indem er sie als Schmetterlinge malt. Neben dem seiner Malerei zugewandten Jupiter sitzt der Götterbote Hermes und wendet sich dem Betrachter zu. Er legt den Zeigefinger auf den Mund und gemahnt den Betrachter, über das Wunder der Seele zu schweigen.
Die Seele ist dabei das Unsagbare oder eben der freie Raum, der die Form einer Gestalt vorgibt: So nennen Architekten bei der Wendeltreppe jenen freien (oder tragenden) Teil, um den sich die Stufen spiralförmig winden, die Seele. Auch der eingedrehte dünne Strang im Kern eines Seils wird Seele genannt, bei Geschützen wird der Hohlraum im Lauf als Seele bezeichnet. Goldschmiede nennen den Raum, um den herum ein Gefäß entsteht, Seele. Und das Innere einer Trachealkanüle, die man auf der Intensivstation Menschen in die Lunge einführt, die nicht mehr atmen können, nennt man Seele. Diese „Seele“ ist ein Einmalprodukt.
Das Wort Seele beschreibt also das formgebende Ungeformte, von dem schon der griechische Philosoph Aristoteles sprach, aber auch die Zielgerichtetheit, die Energie, Durchschlagskraft und Dynamik, die das Bild vom Hohlraum des Geschützes assoziiert, den Roten Faden einer Sache oder eines Menschen, und auch die gedachte und vorgestellte innere Form.
Zerbricht das Gefäß, bleiben nichts als Scherben. Stürzt die Wendeltreppe ein, ist auch das Nichts, das ihr die