„Nein, wir sind erst vor einem Mond in Antibes angekommen. Es war dort angenehm mild. Auch als wir nach Massalia weiterreisten, war es warm. Je weiter wir nach Norden kamen, desto kühler wurde es, aber einen Winter im Land der Keltoi kenne ich nur aus Berichten. Hierzulande soll es barbarisch kalt werden und schneien. Schnee kenne ich natürlich, aber ich kann mir gar nicht vorstellen, wie die Flüsse zufrieren.“ Loranthus erschauerte. Unwillkürlich schlang er seinen Umhang fester um sich. Er konnte gut darauf verzichten, diese Wissenslücke durch praktische Erfahrung zu füllen. Wenn den Barbaren hier die Eiszapfen von den Fellen hingen, würde er längst wieder in seiner schönen warmen Heimat sein.
„Loranthus. Du bist doch ein gebildeter Mann.“
„Garantiert! Ich bin weit gereist und sehr belesen!“
„Bestens. Dann sage nicht immer ‚keltisch‘ oder ‚Kelta‘ oder ‚Keltos‘ oder ‚Keltoi‘. Das ist unzureichend. Wir sind hier im Land der Hermunduren, das weißt du, also nenne uns auch so. Zu dir sagt doch auch niemand Südoströmer.“
„Wa…?!!!“ Loranthus riss den Mund auf. „Bei allen Göttern des Olymps, ich bin kein …“ Beleidigt klappte er seinen Mund wieder zu und brummte: „Ich werde es mir abgewöhnen, keine Bange.“ Sage ich eben Barbar, da mach ich nichts falsch, ist ja nicht beanstandet worden, dachte er sich im Stillen.
„Gut, gut. Um deine Frage nun redlich zu beantworten: Unsere Grubenhäuser sind nicht primitiv. Sie sind sehr praktisch. Im Sommer ist es darin angenehm kühl und man schläft einfach wunderbar. Im Winter schützen sie uns vor Kälte. Selbst mit einem winzigen, winzigen Ofen kann man schnell einheizen und hat es sehr lange behaglich warm.“
„Weil alles aus Lehm besteht, und Lehm speichert Wärme“, schlussfolgerte Loranthus.
„Richtig. Die Häuser, die Öfen – alles ist aus Lehm und Weide. Selbst die Fußböden sind gestampfter Lehm.“
„Ich habe gelesen, ihr heizt auch mit Kohlebecken.“
„Kohlebecken?“ Viviane wurde schlagartig ernst. „Ja, das ist richtig. Wenn man keinen Ofen hat, bekommt man es mit einem Kohlebecken durchaus warm. Aber Vorsicht! Absolute Vorsicht!“ Achtung heischend riss sie den Zeigefinger hoch und Loranthus fühlte sich genötigt, eifrig zu nicken – zum Zeichen, dass er gut aufpasste.
„Beim Heizen mit Kohlebecken muss man unbedingt Vorsicht walten lassen. Wehe dem, der das vergisst! Also hör gut zu und merke dir: Wenn ein Haus komplett dicht ist, kann das tödlich enden. Man schläft ein und wacht nicht mehr auf.“
„Einfach so?“
„Das kommt drauf an. Zu Anfang fällt es nämlich gar nicht auf, wenn sich der Tod aus dem wohlig-warmen Becken schleicht. Man wird müde und träge … Ist man achtsam und handelt schnell, kann man sich retten; schläft man ein, ist man verloren. Dann merkt man nämlich nicht, wie die Kopfschmerzen kommen, das Unwohlsein, die Krämpfe, man kann sich nicht mehr wehren. Ja, ein Kohlebecken ist wahrhaftig ein lautloser Mörder.“
„Keine Bange“, gluckste Viviane, als sie das entsetzte Gesicht von Loranthus sah, und deutete auf die offene Tür des kleinen Grubenhauses.
„Wir haben einen Ofen plus ordentlichen Rauchabzug, und zwar gleich neben der Tür, damit man schon beim Eintreten mit wohliger Wärme empfangen wird – jedenfalls, wenn es kalt ist, heute nicht.“
„Prima“, seufzte Loranthus und war ziemlich erleichtert – bis er die Haustür musterte, an der er sich den Kopf stoßen würde, wenn er sich nicht ein wenig duckte. Gerade wollte er fragen, warum sie hierzulande gute Öfen bauten, aber keine Türen in ihrer Größe, da fiel ihm die Antwort selbst ein: Wenn man eine niedrige Tür aufmachte, blieb mehr Wärme im Haus als bei einer hohen. Ja, diese hochgewachsenen Barbaren waren wirklich nicht dumm.
Kaum waren sie am Stall angelangt und hatten sich über das dick ausgelegte Stroh gefreut, kam auch schon der Wirt, beladen mit Wassereimern in den Händen und Heu in einem hohen Weidenkorb auf dem Rücken.
„Ihr habt übrigens eine gut sichtbare Wegmarkierung“, sagte Viviane, während er mit Leichtigkeit das Heu in eine Raufe an der Wand steckte und das Wasser in einen sauberen Trog schüttete.
„Ja, nicht wahr? Den Weg haben wir erst kürzlich frisch instand gesetzt. Du weißt schon, unerwünschten Wuchs freischneiden, Orts- und Zeitangaben auf den Markierungen auffrischen …“
„Das ist euch gelungen“, versicherte Viviane vage und runzelte die Stirn. Offensichtlich sprach der Wirt nicht gern über das, was vor Kurzem hier geschehen sein musste. Einen Trupp feindlich gesinnter Chatten als ‚unerwünschten Wuchs‘ zu bezeichnen – auf den Vergleich wäre sie nie gekommen. Dafür hatte sie anhand der Toten Ort und Zeit wiederum gut ablesen können.
„Soll ich euch beim Abladen helfen?“ Der Wirt warf einen besorgten Blick auf Hanibu, die immer noch an Viviane gelehnt schlief.
„Wenn du sie mir vom Pferd heben könntest, wäre das eine große Hilfe“, flüsterte Viviane und verdrehte dabei ihre Augen zu Loranthus hinüber.
„Verlass dich ganz auf mich. Ich lege sie gleich ins Bett.“ Mühelos hob der Wirt Hanibu auf seine Arme, grinste selbstzufrieden und lief los.
Viviane stieg gemächlich von Dina. Hinter ihr ertönte ein dumpfer Aufschlag, doch das trieb sie noch längst nicht zur Eile – Loranthus lag ohnehin schon im Stroh und rieb sich den Hintern. Sobald er Vivianes mühsam verkniffenes Lachen sah, rappelte er sich auf und wollte sich beschweren, doch ihm fiel etwas Besseres ein.
In ungeahnter Geschwindigkeit lud er sämtliches Gepäck von Arion und schaffte es trotzdem, dabei jede einzelne Ledertasche für ihre stabile Machart zu bewundern – von allen Seiten, wohlgemerkt. Viviane konnte nur staunen.
Ihr gelang es gerade noch, ihre Blasrohre an sich zu raffen, die sie in der längsten Ledertasche versteckt hatte. Auch ihre Schwerter samt Waffengürtel, den aufwendig geschnitzten Reiterbogen und den abgewetzten Lederköcher samt Pfeilen rettete sie vor unerlaubtem Zugriff.
Als sie sich Letzteres locker über die Schulter warf und zur Tür ging, schnappte Loranthus nach Luft.
„Das sind deine?! Ich dachte, du transportierst die bloß?! Bist du eine Kriegerin? Ja, bei Athene, natürlich bist du eine Kriegerin, ich habe es gleich gewusst, allein die Art, wie du auf dem Pferd gesessen hast und wie du abgestiegen bist, und wie du vor mir gestanden hast, und wie du dich bewegst! Und als du zornig geworden bist, hast du diesen Barb… diesen Kutschenräubern extrem ähnlich gesehen, und ich wusste sofort, du bist noch gefährlicher als die alle zusammen und …“
„Lass gut sein! Beruhige dich“, lachte Viviane und packte den nach Luft ringenden Loranthus bei den Schultern. „Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben. Ich tue dir nichts. Heute nicht. Und morgen nicht. Und auch sonst niemals. Das schwöre ich. Es sei denn, du greifst mich ernsthaft an. Also keine Panik. Immer mit der Ruhe.“
„Du schwörst? Prima, das beruhigt mich kolossal. Kolossal.“ Loranthus seufzte erleichtert, bis ihm auffiel, dass Viviane seine Fragen übergangen hatte. „Aber du bist eine Kriegerin! Und das sind deine Waffen!“ Er zog einen Schmollmund. „Leugne es nicht, etwas anderes kaufe ich dir nicht ab!“
Viviane musste grinsen.
„Ja, bei Donar, dem mächtigen Streiter, ich bin eine Kriegerin. Zur Hälfte jedenfalls. Manchmal mache ich auch Jagd auf frei laufende Stiere. Die sollen ja besonders saftig werden, wenn man sie in Olivenöl tunkt. Du hast natürlich Glück, Hasenbraten in Nussöl esse ich noch lieber.“
„Oh, ich glaube, du willst mich an der Nase herumführen. Sei ehrlich! Laufen alle Keltoi-Krieger so herum wie du?“ Er zeigte auf das Langschwert, den Bogen …
„Loranthus. Was sollst du nicht mehr sagen?!“
„Gut, gut, ich meinte, Hermundurenkrieger. Sind die alle derart voll bepackt?“
„Nein. Nur solche, die eine weite Reise machen. Man weiß