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Identitätskonzepte in der Literatur


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knüpft das Geschlecht der Menschen, der jeden Augenblick reißt, um von neuem geknüpft zu werden. (6, 627)

      Erst in den achtziger Jahren benutzt Herder gelegentlich den Begriff „Humanität“, der in den Ideen sein Zentralbegriff für Wesen und Bestimmung des Menschen werden sollte. In den Büchern 4 und 15 wird er differenzierter dargestellt – in Weimar ist er Zielbegriff seines Denkens. Das I. Kapitel des 15. Buches ist überschrieben: „Humanität ist der Zweck der Menschen-Natur und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben.“ (6, 630) So oft und in so vielen Kontexten Herder diesen Begriff auch verwendet – seine Semantik ist offenbar nicht präzisierbar. Hans Dietrich Irmscher, der Herausgeber der Briefe zu Beförderung der Humanität in der Frankfurter Ausgabe,21 schlägt vor, den Begriff „als nicht definitionsfähige (und -bedürftige) Idee zu verstehen, geeignet, vielfältige Phänomene […] unter einer Hinsicht zu ordnen.“ (7, 817)22 Herder sah wohl das Schillernde des Begriffs. Im 27. Brief verbindet er mit „Humanität“: „Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe“ (7, 147). Zu Beginn des 15. Buches der Ideen heißt es:

      [B]etrachten wir die Menschheit, wie wir sie kennen, nach den Gesetzen, die in ihr liegen: so kennen wir nichts höheres, als Humanität im Menschen: denn selbst wenn wir uns Engel oder Götter denken, denken wir sie uns nur als idealische, höhere Menschen.

      Zu diesem offenbaren Zweck […] ist unsre Natur organisieret: zu ihm sind unsere feinern Sinne und Triebe, unsre Vernunft und Freiheit, unsere zarte und daurende Gesundheit, unsere Sprache, Kunst und Religion uns gegeben. In allen Zuständen und Gesellschaften hat der Mensch durchaus nichts anders im Sinn haben, nichts anders anbauen können als Humanität, wie er sich dieselbe auch dachte. (6, 631f.)

      In zahlreichen Formulierungen umschreibt Herder, was unter Humanität verstanden werden kann. Gelegentlich läuft ein knapper Bestimmugsversuch auf eine Tautologie hinaus. So etwa, wenn das „Hauptgesetz der Natur“ lautet: „Der Mensch sei Mensch! Er bilde sich seinen Zustand nach dem, was er für das Beste erkennet!“ (6, 632) Dem Typus der ausführlicheren Bestimmungsversuche ist folgende Formulierung zuzurechnen:

      [D]en Menschen machte Gott zu einem Gott auf Erden, er legte das Principium eigner Wirksamkeit in ihn und setzte solches durch innere und äußere Bedürfnisse seiner Natur von Anfange an in Bewegung. Der Mensch konnte nicht leben und sich erhalten, wenn er nicht Vernunft brauchen lernte […].(6, 633)

      Die Natur habe sich den Menschen in mannigfachen Formen auf der Erde einrichten lassen. „Nahe an den Affen stellete sie den Neger hin und von der Negervernunft an bis zum Gehirn der feinsten Menschenbildung ließ sie ihr großes Problem der Humanität von allen Völkern aller Zeiten auflösen.“ Für die feinere Ausbildung des Zustandes der Menschheit habe es auch „feinere Völker sanfterer Klimate“ gegeben. „Wie nun alles Wohlgeordnete und Schöne in der Mitte zweier Extreme liegt: so mußte auch die schönere Form der Vernunft und Humanität in diesem gemäßigtern Mittelstrich ihren Platz finden.“ (6, 683f.)

      In den einzelnen Kapiteln des 15. Buches werden nun „einige dieser Naturgesetze“ erwogen, die „nach den Zeugnissen der Geschichte dem Gange der Humanität in unserm Geschlecht aufgeholfen haben“ (6, 636):

      II. Alle zerstörenden Kräfte in der Natur müssen den erhaltenden Kräften mit der Zeitenfolge nicht nur unterliegen, sondern auch selbst zuletzt zur Ausbildung des Ganzen dienen. (6, 636)

      III. Das Menschengeschlecht ist bestimmt, mancherlei Stufen der Kultur in mancherlei Veränderungen zu durchgehen; auf Vernunft und Billigkeit aber ist der daurende Zustand seiner Wohlfahrt wesentlich und allein gegründet. (6, 647)

      IV. Nach Gesetzen ihrer innern Natur muß mit der Zeitenfolge auch die Vernunft und Billigkeit unter den Menschen mehr Platz gewinnen und eine daurendere Humanität befördern. (6 ,656)

      V. Es waltet eine weise Güte im Schicksal der Menschen; daher es keine schönere Würde, kein dauerhafteres und reineres Glück gibt, als im Rat derselben zu wirken. (6, 664)

      Es wäre sinnvoll, die kritischen Erwägungen von Herder selbst zu seinem zentralen Konzept zu sammeln und zu beurteilen. Für ihn ist Humanität immer eine bleibende Aufgabe. Keine historische Realisierung kann etwa als Vorbild angesehen werden – nicht umsonst spricht er häufig vom „Gang der Humanität“, nicht etwa von einem erreichten Zustand. Jede Vollkommenheit ist transitorisch, ein „Höchstes in seiner Art“, in dem sich die „Kultur eines Volks“ als „die Blüte seines Daseins“ „zwar angenehm, aber hinfällig offenbart“. (6, 571)23 Jeder konkreten Verkörperung von Humanität wird ein „bedingungsloser Vorbildcharakter“ abgesprochen.24

      In den Briefen will Herder über Menschen schreiben, die in ihrem Leben die Humanität auf verschiedene Weise gefördert haben, etwa B. Franklin, Luther, Lessing, Comenius, Fénelon, die Quäker, Montesquieu und Vico. Herder ist in den Briefen besonders der Anwalt unterdrückter, sogenannter wilder Völker. Reisende, die von ihren Erfahrungen berichten, nennt er „Schutzengel der Menschheit“ (Suphan XVIII, 238). Er verurteilt den europäischen Kolonialismus – die Kolonialnationen Spanien, Portugal, England und Holland begingen Verbrechen an der Menschheit, indem sie gewachsene Kulturen zerstörten. Unter dem Humanitätsbegriff wird übrigens nicht nur die Individualität der Kulturen, sondern auch ihr Austausch unter einander verstanden.25 Aber resignative Züge fehlen in den Ideen nicht: „Unsre Humanität ist nur Vorübung, die Knospe zu einer zukünftigen Blume.“ (6, 187)

      Es ist befremdend und doch unleugbar, daß unter allen Erdbewohnern das menschliche Geschlecht dem Ziel seiner Bestimmung am meisten fernbleibt. Jedes Tier erreicht, was es in seiner Organisation erreichen soll; der einzige Mensch erreichts nicht, eben weil sein Ziel so hoch, so weit, so unendlich ist, und er auf unsrer Erde so tief, so spät, mit so viel Hindernissen von außen und innen anfängt. (6, 188)

      Das Misslingen von Humanität hängt offenbar mit einem „sonderbaren Widerspruch“ zusammen, an dem der Mensch leidet.

      Als Tier dienet er der Erde und hangt an ihr als seiner Wohnstätte; als Mensch hat er den Samen der Unsterblichkeit in sich, der einen andern Pflanzgarten fodert. Als Tier kann er seine Bedürfnisse befriedigen und Menschen, die mit ihnen zufrieden sind, befinden sich sehr wohl hienieden. Sobald er irgend eine edlere Anlage verfolgt, findet er überall Unvollkommenheiten und Stückwerk; das Edelste ist auf der Erde nie ausgeführt worden, das Reinste hat selten Bestand und Dauer gewonnen: für die Kräfte unsers Geistes und Herzens ist dieser Schauplatz immer nur eine Übungs- und Prüfungsstätte. (6, 193)

      Herder rechnet den größten Teil der Menschen zur ‚Tierheit‘. „Zur Humanität hat er bloß die Fähigkeit auf die Welt gebracht und sie muß ihm durch Mühe und Fleiß erst angebildet werden.“ (6, 194)

      Herder hat wohl eher das Individuum als das Kollektiv oder die Nation im Blick, wenn er über die Naturgesetze der Humanität spricht. Aber die eigentlichen Protagonisten des geschichtlichen Fortgangs sind für ihn die Nationen. Doch sie sind nie der höchste Wert, und Bildung reduziert sich bei ihm nie auf nationale Bildung. Das Prinzip ‚Humanität‘ verbiete es ihm, ‚deutsche Bildung‘ ins Zentrum seines Denkens zu rücken.26 Der Historiker Herder plädiert für das Einreißen von Mauern zwischen den Nationen. Am römischen Reich demonstriert er, was „Reife des Schicksals der alten Welt“ bedeutet und was das römische Verknüpfen von Völkern und Weltstrichen bewirkte.27 Er spricht von den Schwierigkeiten, ein ganzes, lebendiges „Gemälde von Lebensart, Gewohnheiten, Bedürfnissen, Landes- und Himmelseigenheiten“ zu malen! „Charakter der Nationen! Allein Data ihrer Verfassung und Geschichte müssen entscheiden.“ (4, 32f.) In mancher Hinsicht sei also

      jede menschliche Vollkommenheit National, Säkular und am genauesten betrachtet, Individuell. Man bildet nichts aus als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal, Anlaß gibt: vom übrigen abgekehrt: die Neigungen oder Fähigkeiten, im Herzen schlummernd, können nimmer Fertigkeiten werden; die Nation kann also, bei Tugenden der erhabensten Gattung von einer Seite, von einer andern Mängel haben, […]. (4, 35f.)

      Besonders in seinen Gedanken zur Geschichtsphilosophie