Группа авторов

Identitätskonzepte in der Literatur


Скачать книгу

verdienstvolle Herder-Forscher Wilhelm Dobbek hielt im Ersten der fünfbändigen Herder-Ausgabe des Aufbau-Verlags diese Hervorhebungen wohl für unbedeutend und verzichtete auf sie. Beide Gedicht-Fragmente sind zuerst in Herders zweiter Gedichtsammlung Gedichte und Reime in der sechsten Sammlung der Zerstreuten Blätter (Gotha 1797) erschienen.

      Der Herausgeber des Dritten Bandes der Frankfurter Ausgabe, Ulrich Gaier, versammelt Gedichte dieser Art unter „Reflexionsdichtung“. Mit ihren philosophischen Sujets sind diese langen Gedichte auch typische Lehrgedichte. Ich zitiere zunächst die beiden ersten Strophen und gebe dann Zusammenfassungen der Strophen 3 bis 12; die beiden Schlussstrophen 13 und 14 zitiere ich wieder wörtlich.

      Willst du zur Ruhe kommen, flieh, o Freund,

      Die ärgste Feindin, die Persönlichkeit.

      Sie täuschet dich mit Nebelträumen, engt

      Dir Geist und Herz, und quält mit Sorgen dich,

      Vergiftet dir das Blut, und raubet dir

      Den freien Atem, daß du, in dir selbst

      Verdorrend, dumpf erstickst von eigner Luft.

      Sag’ an: was ist in dir Persönlichkeit?

      Als in der Mutter Schoß von Zweien du

      Das Leben nahmst, und, unbewußt dir selbst,

      An fremdem Herzen, eine Pflanze, hingst,

      Zum Tier gediehest, und ein Menschenkind

      (So saget man) die Welt erblicktest; Du

      Erblicktest sie noch nicht; sie sahe Dich,

      Von deiner Mutter lange noch ein Teil,

      Der ihren Atem, ihre Küsse trank,

      Und an dem Lebensquell, an ihrer Brust

      Empfindung lernete. Sie trennte dich

      Allmählich von der Mutter, eignete

      In tausend der Gestalten Dir Sich zu,

      In tausend der Gefühle Dich Ihr zu,

      Den immer Neuen, immer Wechselnden. […]

      Nach der Kritik an der „Persönlichkeit“, die das „Ich“ mit „Nebelträumen“ täuscht und es „von eigner Luft“ ersticken lässt, wird die Genese der „Persönlichkeit“ aus dem Embryo, der Mutter, der Trennung von ihr, bis zur Erfahrung von „immer Neuen, immer Wechselnden“ Gefühlen erzählt.

      1 Weiter geht es mit dem Wachstum des Kindes zum Knaben, Jüngling, Mann und Greis. In jedem Alter ist kein Teil des Körpers noch derselbe.

      2 Die „innre Welt / Der Regungen, der lichten Phantasei, / Des Anblicks aller Dinge“ verändert sich in jedem Alter.

      3 Die Strophe beginnt mit der Aufforderung „Ermanne Dich. Das Leben ist ein Strom / Von wechselnden Gestalten.“

      4 Will das Ich „einer Wahngestalt / Gedanken, Wirkung, Zweck des Lebens weihn?“

      5 Mit Wiederholung der Aufforderung „Ermanne Dich.“ wird auf das gedankliche Zentrum des Gedichts zugesteuert: „Nein, du gehörst nicht Dir; / Dem großen, guten All gehörest Du.“ „Jedwedes Wort der Lippe, jeder Zug / Des Angesichtes ist ein fremdes Gut, / Dir angeeignet, doch nur zum Gebrauch, / So , immer wechselnd, stets verändert schleicht / Der Eigner fremden Gutes durch die Welt.“

      6 Was ist von Deinen zahllosen Empfindungen Dein Eigentum? „Das Ich erstirbt, damit das Ganze sei.“

      7 Was willst Du mit Deinem „armen Ich“ der Nachwelt hinterlassen? Deinen Namen?

      8 Dein Ich? Wie lange wird die Nachwelt Deinen Namen nennen?

      9 Nur wenn über Dein enges Ich hinaus „Dein Geist in allen Seelen lebt“, bist du „Ein Ewiger“.

      10 Die kleinliche Persönlichkeit, die man „den Werken eindrückt“, vertilgt den „ewgen Genius, Das große Leben der Unsterblichkeit.“

      11 So lasset dann im Wirken und GemütDas Ich uns mildern, daß das beßre Du,Und Er und Wir und Ihr und Sie es sanftAuslöschen, und uns von der bösen UnartDes harten Ich unmerklich-sanft befrein.In allen Pflichten sei uns erste PflichtVergessenheit sein selber! So gerätUns unser Werk, und süß ist jede Tat,Die uns dem trägen Stolz entnimmt, uns freiUnd groß und ewig und allwirkend macht.Verschlungen in ein weites LabyrinthDer Strebenden, sei unser Geist ein TonIm Chorgesang der Schöpfung, unser HerzEin lebend Rad im Werke der Natur.

      12 Wenn einst mein Genius die Fackel senkt,So bitt’ ich ihn vielleicht um Manches, nurNicht um mein Ich. Was schenkt er mir damit?Das Kind? Den Jüngling? Oder gar den Greis?Verblühet sind sie, und ich trinke frohDie Schale Lethens. Mein ElysiumSoll kein vergangner Traum von MißgeschickUnd kleinem, krüpplichten Verdienst entweihn.Den Göttern weih’ ich mich, wie Decius,Mit tiefem Dank und unermeßlichemVertrauen auf die reich belohnende,Vielkeimige, verjüngende Natur.Ich hab’ ihr wahrlich etwas KleineresZu geben nicht, als was sie selbst mir gab,Und ich von ihr erwarb, mein armes Ich.2

      Wenn die Zeitgenossen der neuen Ich-Philosophie ein einheitliches und einzigartiges Ich verherrlichen, so destruiert dieses Gedicht ein Ich, das mit „Persönlichkeit“ gleichgesetzt und als „Individualität“ im Sinne von „Einzigkeit“ verstanden wird. Da es aber der Partikularität, der Fremdbestimmung von Kindheit an und der immerwährenden Veränderung unterworfen ist, kann dieses „Ich“ nicht durch Einzigkeit überzeugen. Das „Ich“ des Gedichts ist ein „Ton / Im Chorgesang der Schöpfung“, in „unermeßlichem / Vertrauen auf die reich belohnende, / Vielkeimige, verjüngende Natur. […] mein armes Ich.“

      Herder fühlte sich in seinem Denken über das „Ich“ durch Fichtes Grundthese in seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794) provoziert: Das seiner selbst bewusste Wesen sei das „Ich“, das ursprünglich sein eigenes Sein als „Tathandlung der Selbstbewusstwerdung“ setze – das Ich setzt sich selbst.3 Da bereits in der zweiten Zeile die „Persönlichkeit“ erwähnt wird, ist auch eine Anspielung auf den 11. Ästhetischen Brief Schillers möglich, in dem „Person“ und „Persönlichkeit“ eine wichtige Rolle spielen.

      Es ist die Konsequenz aus einem Denkweg, den die neuzeitliche Philosophie eingeschlagen hatte. Von Locke wurde das „Ich“ das „Selbst“ genannt, das mit Bewusstsein denkende Wesen („Self is that conscious thinking thing“4), das „Person“ heiße.5 Es ist auch ein wesentlicher Bestandteil von Leibniz’ Denken, dass sich jedes Subjekt im Akt des „Ich-denke“ als seiende Substanz begreift. Durch das Vermögen der Selbstreflexion erfassen wir das „Ich“, die Substanz, Seele und Geist.6

      Hume widerspricht Descartes, Locke und Leibniz mit der These, das „Ich“ / die „Seele“ seien keine fassbaren Gegenstände und deshalb ohne Substanz/Existenz. Empfindungen, Gefühle und Begriffe sind für Hume „nur Inhalte von Vorstellungen, die assoziativ verbunden“ sind, ohne dass sie eine „verbindliche Aussage über ein ihnen zugrunde liegendes Subjekt“ zulassen“.7 Die Identität, die dem Geist des Menschen zugeschrieben wird, sei nur „a fictitious one“.

      Tis evident, that the identity, which we attribute to the human mind, however perfect we may imagine it to be, is not able to run the several different perceptions into one, and make them lose their characters of distinction and difference, which are essential to them.8

      In der einzigen mir bekannten Interpretation der beiden fragmentarischen Reflexionsgedichte sieht Renate Böschenstein die Destruktion eines einheitlichen und einzigartigen „Ich“ mit „erstaunlich radikalen, Gesichtspunkte des 20. Jahrhunderts vorwegnehmenden Fragen“; die Analyse erfolge mit „prälacanistischer Hellsicht“.9 Die Individualität, der „Fetisch der Epoche“, werde unter drei Aspekten als „illusionär“ dargestellt: Stückhaftigkeit, Fremdbestimmung, stete Veränderung.10 Schließlich werde die vermeintliche Monade „zu intersubjektivem Wirken erlöst“. Die Inkonsequenzen des Gedichts