Dave Gross

Prinz der Wölfe


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schrie. Ich drehte mich um und sah, dass sein Pferd vor dem, welches Luka geritten hatte, zurückscheute, da es laut wieherte und auf den Rücken fiel. Dahinter, in der Düsternis kaum zu erkennen, zeichnete sich eine dunkle, rote Spur auf der Straße ab. Aus den Augenwinkeln sah ich einen verschwommenen Schatten im Wald verschwinden. Grigor brachte sein Pferd wieder unter Kontrolle und trieb es auf die Kutsche zu, da er nicht gewillt war, allein die Nachhut zu bilden.

      Wieder hörten wir den Schrei eines Mannes und eines Pferdes. Vor uns schoss Anton mit seiner Armbrust auf einen grauen Wolf, der Kostin aus dem Sattel gerissen hatte. Es sah wie ein Treffer aus, doch der Wolf, dessen Kiefer rot vom Blut waren, wich nur von der Straße zurück und bereitete sich auf einen weiteren Angriff vor. Die Kutsche machte einen Satz, als sie über Kostins zerrissenen Körper hinweg raste. In der kurzen Zeit, die es brauchte, um es zu beschreiben, hatten sie die Hälfte unserer Wächter erledigt. Das waren keine gewöhnlichen Wölfe, und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich der Grund für ihren Angriff war.

      „Seht!“, schrie der Kutscher und deutete mit seiner Peitsche nach links. Mein Kopf ruckte herum und ich sah zwei Wölfe, die neben der Kutsche her rannten. Einer lief auf den Hinterbeinen wie ein Sprinter. Anstelle von Pfoten hatte er menschliche Hände, die eine Armbrust hielten, die er einem der gefallenen Wächter abgenommen hatte. Dieses beunruhigende Detail lenkte mich von einer anderen merkwürdigen Sache ab, die ich gerade bemerkt hatte: Der ausgestreckte Arm des Fahrers war nackt. Als ich mich wieder zu ihm umwandte, sah ich, dass er gänzlich nackt war, abgesehen von dem hohen Hut. Er ließ die Zügel und die Peitsche los und drehte sich zu mir um. Ich sah nicht Petru, sondern das grinsende Antlitz von Vili, dem Sänger der Sczarni.

      Er schlug mir die Armbrust aus der Hand, gerade als ich den Abzug betätigte. Der Bolzen verschwand zwischen den Bäumen. Ich drückte mich nach vorn, um ihn von der Kutsche und unter die Räder zu schieben, doch er veränderte die Gestalt, während er sich wand. Als er aufstand, brachte er mich zu Fall und drückte mich gegen das Dach, während seine Grimasse sich zu geifernden Kiefern verbreiterte. Ich hieb ihm die Armbrust ins Maul, doch er riss sie mir aus der Hand und schleuderte sie davon.

      Vili, nun ein Halbwolf, auf dessen nackter Haut sich neues Fell aufstellte, ging in die Hocke – nicht um zuzuschlagen, sondern um in Deckung zu gehen. Zu spät bemerkte ich, dass er mich übertölpelt hatte. Ich hörte eine Sehne einrasten, gerade als ich mich umdrehte, und sah, dass der Wolf mit den Menschenhänden auf mich zielte.

      Ich holte mit meinem linken Arm aus. Desna lächelte, denn ich fing den Bolzen. Doch dann lachte die Göttin auch, denn das Geschoss steckte bis zur Feder in meiner Handfläche. Meine Hand war so gut wie unbrauchbar, doch zumindest war die silberne Spitze knapp vor meiner Brust aufgehalten worden.

      Jemand rief meinen Namen, aber ich konnte nicht sagen, ob es einer der Wächter oder jemand aus der Kutsche war. Mit einem Satz erreichten wir den Rand der Senir-Brücke. Ich wäre vom Dach gestürzt, hätte Vili mit seinem Maul nicht meinen gesunden Arm gepackt. Er biss zu – hart.

      Der Schmerz überzog die Welt mit Blut. Alles, was ich sah, war rot und schwarz. Ich schrie in Vilis halb hundeartiges Gesicht, doch er schreckte nicht länger vor dem Anblick meiner Zähne zurück. Seine Klauen durchschnitten von beiden Seiten die Luft, doch ich blockte sie mit den Ellenbogen ab. Mit einem meiner Sporen erwischte ich ihn am Arm, und er winselte – doch sein Maul blieb geschlossen, mein Arm saß fest. Seine Kiefer hätte genauso gut ein eiserner Schraubstock sein können.

      „Radovan“, schrie der Prinzipal. Die Kutschentür öffnete sich, doch als die Kutsche sich in diese Richtung neigte, riss Vili mich wieder in die andere. Die Räder der Kutsche schlugen hart auf – Funken sprühten, als der Stahl auf den Stein der Brücke krachte.

      Ich hatte keine Zeit, dem Prinzipal zu antworten. Ich konnte kaum meine Eingeweide vor Vilis Klauen schützen. Das Messer an meinem Rücken war nicht zu erreichen, genauso wie jene in meinen Stiefeln und Ärmeln. Der Werwolf brauchte nur noch zwei oder drei Mal mit dem Kopf zu rucken, und von meinem rechten Arm würde nichts anderes übrigbleiben als zerfetzte Sehnen. Meine linke Hand war noch immer von dem Armbrustbolzen gelähmt, und ich konnte nur noch zusehen, dass ich mich damit nicht selbst erstach.

      Was mich auf eine Idee brachte.

      Ich konnte meine Hand kaum spüren, ballte sie jedoch zu einer lockeren Faust und schlug aus der Hüfte heraus zu. Wir schrien gemeinsam auf, als der versilberte Bolzen in Vilis Unterkiefer, durch meinen Arm zwischen seinen Zähnen hindurch drang und schließlich das Gehirn des Werwolfs durchbohrte.

      Dies hätte ihn auf der Stelle töten sollen, doch noch einmal stieß sich Vili mit den Beinen ab und warf uns vom Dach der Kutsche. Wir flogen an einem steinernen Gargyl vorbei, der auf einem Brückenpfeiler ruhte, so nahe, dass ich die Hand nach ihm hätte ausstrecken können, wenn nicht beide Arme an meinem Feind festgenagelt gewesen wären. Mit dem Gesicht nach unten hatte ich einen schönen Ausblick auf das schwarze Band des Flusses unter uns. Mein Bein streifte das Geländer, als wir hinüber fielen. Wir taumelten, und die Zeit wurde langsamer, während wir hinabstürzten. Zwei rote Sterne glänzten unter der Brücke, und eine orangefarbene Blüte öffnete sich, wo die Kutsche gewesen war.

      Das Letzte, was ich sah, waren die Türen der roten Kutsche, die, umringt von einem feurigen Glorienschein, hinter mir ins Wasser fielen. Dann spürte ich die kalte Hand Pharasmas, die mich schlug wie ein Neugeborenes kurz vor dem ersten Schrei.

      Kapitel fünf

      Weidenweh

      Ich konnte mich schon immer an jeden Traum erinnern.

      Als Kind unterhielt ich meine Mutter und die Dienerschaft am Frühstückstisch, indem ich meine Schlummerfantasien nacherzählte, die mich zwei- oder dreimal pro Woche besuchten. Zu meinem siebten Geburtstag schenkte meine Mutter mir ein Tagebuch, gebunden in blaues Eidechsenleder, das knisterte, wenn ich meinen Finger über den Umschlag gleiten ließ. Sie bat mich, meine Schlafvisionen darin festzuhalten, die, wie sie mir sagte, Gaben der Göttin Desna waren. Zu meinem nächsten Geburtstag hatte ich die dreihundert Seiten gefüllt, und sie schenkte mir ein weiteres. Und so fuhren wir bis zu ihrem Tod fort, nach welchem ich meine Traumtagebücher zusammen mit dem letzten Rest meiner Kindheit beiseite schob. Auch wenn ich sie nicht länger aufschrieb, während meines ganzen Erwachsenenlebens blieben mir meine Träume jedes Mal frisch und lebendig im Gedächtnis, wenn ich erwachte.

      Daher war es merkwürdig, mit dem Wissen in einem großzügigen Bett zu erwachen, dass ich aus einem beeindruckenden, jedoch unbekannten Traum erwacht war. Verwirrt durch die nie gekannte Erfahrung, lag ich da und starrte auf den seidenen Baldachin. Eine ewige Jagdgesellschaft ritt die bestickten Ränder entlang. Männer folgten Hunden, die Hirsche verfolgten, deren Flucht Wölfe anzog, die wiederum die Männer verfolgten. Dann erkannte ich, dass ich im Haus des Grafen Lucinean Galdana geruht hatte.

      Ich zog die Decken beiseite und entdeckte, dass ich meine eigene Schlafbekleidung trug. Ich stand auf und suchte meinen Körper nach Wunden ab, fand jedoch nicht mehr als einen Kratzer. Irgendeine verschwommene Lücke verzerrte meine Erinnerungen daran, wie ich diese Zufluchtsstätte erreicht hatte. Wir waren auf der Flucht vor den Wölfen auf der Senir-Brücke gewesen. Die Bestien hatten einige der Wächter von ihren Pferden gerissen. Radovan stand auf dem Dach, und ich wollte hinaufklettern, um ihm zu helfen, doch ich hatte gezögert, da ich meinen Wunsch, ihm zu Hilfe zu kommen, gegen meine Pflicht abwägen musste, Tara und Kasomir zu beschützen. Ich erinnerte mich daran, wie ich meine Hand an die Tür gelegt hatte, und da war ein Geräusch, doch dann … von da an fehlten meine Erinnerungen.

      Wie viel Zeit vergangen war, wusste ich nicht. War es erst der nächste Morgen? Unwahrscheinlich, wenn man die Distanz bedachte, die wir noch zurückzulegen hatten, als wir angegriffen wurden. Die Morgensonne schien durch die Fenster, die nach Osten und Süden zeigten. Ein großes Feuer knisterte im Kamin.

      Ein Feuer war auch auf der Brücke ausgebrochen. Dessen war ich sicher. Es hatte eine Menge Feuer gegeben.

      Ich ging zu einem Spiegel neben dem Waschbecken. Abgesehen von einem Bluterguss an der Seite meines Kinns gab es keine sichtbaren Wunden. Die Verletzung schien frisch zu sein und war bei Berührung immer noch schmerzempfindlich. Als der dumpfe Schmerz abgeklungen