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Standardsprache zwischen Norm und Praxis


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die fremde Herrschaft und so findet man etwa bei Fichte nicht mehr Herders Annahme einer grundsätzlichen Gleichheit aller Sprachen, sondern die Vorstellung der grundlegenden Überlegenheit der deutschen Sprache insbesondere gegenüber der französischen. So liest man in den „Reden an die deutsche Nation“ (zit. nach Dieckmann 1989: 45):

      Das deutsche Volk ist das ursprüngliche, das unverfälschte Volk, das gegen die militärische wie kulturelle Unterjochung durch Frankreich um seine Freiheit und Identität kämpft und dabei im Dienste eines höheren geschichtlichen Auftrags handelt. […]

      Nach Jahrtausenden, und nach allen den Veränderungen, welche in ihnen die äußere Erscheinung der Sprache dieses Volks erfahren hat, bleibt es immer dieselbe Eine, ursprünglich also ausbrechenmüssende lebendige Sprachkraft der Natur, die ununterbrochen durch alle Bedingungen herab geflossen ist, und in jeder so werden mußte, wie sie ward, am Ende derselben so seyn mußte, wie sie jezt ist, und in einiger Zeit also seyn wird, wie sie sodann müssen wird. Die reinmenschliche Sprache zusammengenommen zuförderst mit dem Organe des Volks, als sein erster Laut ertönte; was hieraus sich ergiebt, ferner zusammengenommen mit allen Entwiklungen, die dieser erster Laut unter den gegebnen Umständen gewinnen mußte, giebt als letzte Folge die gegenwärtige Sprache des Volks. Darum bleibt auch die Sprache immer dieselbe Sprache.

      Hier findet man alle wesentlichen Bestandteile des ethnolinguistischen Nationalismus, so etwa den Begriff eines Volks, das durch seine einzigartige, überlegene Sprache gekennzeichnet ist. Der Charakter des Volks findet in dieser Sprache seinen unvergleichlichen Ausdruck; anders als die Franzosen, die ihr ursprüngliches Fränkisch gegen das Romanische getauscht haben, hat das deutsche Volk seine Sprache immer bewahrt, und zwar in einer Form, die trotz oberflächlicher Veränderungen immer gleich geblieben ist. Dieses Volk hat das Recht auf ein unabhängiges, einheitliches politisches Gebilde in seinem ererbten Territorium ohne Fremdherrschaft.

      Im 19. Jahrhundert wurde dann die Gleichsetzung von Sprache und Nation in Deutschland (wie auch oft anderswo) kaum hinterfragt. Für Hegel bildete der Volksgeist die Basis des Staats (vgl. Barnard 1965: 166–167) und für Jacob Grimm (1884: VII, 557) war bekanntlich „ein volk […] der inbegriff von menschen, welche dieselbe sprache reden“, wie er in seiner berühmten Rede auf der Germanistenversammlung in Frankfurt im Jahre 1846 behauptete. Der britische Historiker Eric Hobsbawm (1992: 103) erklärte, dass man insbesondere in Bezug auf Deutschland nicht darüber staunen sollte, dass diese Ein-Volk-eine-Sprache-Ideologie vor allem dort verbreitet war, denn:

      For Germans […], their national language was not merely an administrative convenience or a means of unifying state-wide communication […]. It was more even than the vehicle of a distinguished literature and of universal intellectual expression. It was the only thing that made them Germans […], and consequently carried a far heavier charge of national identity than, say, English did for those who wrote and read that language.

      Am wichtigsten ist jedoch die Perzeption von gebildeten Deutschen im 19. Jahrhundert, dass für sie in erster Linie die Sprache identitätsstiftend war, dass dieses Identitätsgefühl das Streben nach einem einheitlichen Staat legitimierte und die Basis dafür bilden sollte. Der Topos, dass es allein die gemeinsame Sprache gewesen sei, die die Nation während der Jahre der politischen Fragmentierung nach dem Wiener Kongress zusammengehalten habe, sowie auch deren ideologische Bedeutung für die Reichsgründung 1871, kommt in einer Streitschrift von Emil du Bois Raymond vom Jahre 1874 sehr klar zum Ausdruck (zit. nach Dieckmann 1989: 348): „Die Sprache war lange beinahe das einzige Band, welches die jetzt das Reich ausmachenden deutschen Stämme zusammenhielt. Ihr verdankt das Reich seine Neuerstehung.“ Und in seinem großen Standardwerk zur Geschichte der deutschen Sprache akzeptiert von Polenz (2013: 10–11) sehr klar die Annahme, dass die politische Einigung auf der Basis der eher erfolgten identitätsstiftenden sprachlichen Einigung geschah:

      Im Laufe des 18. Jh.s hat die kulturpatriotische Bewegung – mehr als ein Jahrhundert vor der Gründung eines deutschen Nationalstaates – die Kodifizierung und gesellschaftliche Anerkennung der deutschen Schriftsprache als Kulturnationalsprache in den Oberschichten erreicht und auch in den deutschen Mittelschichten bis um 1800 eine mindestens passive deutsche Schriftsprachkompetenz und Sprachloyalität von der Nord- und Ostseeküste bis in die Alpenländer bewirkt. Sie stellt eine wichtige, aber noch rein kulturelle, noch nicht auf staatliche Macht hin orientierte Voraussetzung für die Entstehung des schwierigen, zwischen Kultur und Politik widersprüchlichen deutschen Nationalbewusstseins im 19. Jh. dar.

      3. Die sprachliche Situation aus der Perspektive der Soziolinguistik

      3.1. Zur Heterogenität des deutschen Sprachraums

      Wie Durrell (2002) zeigen wollte, muss diese Vorstellung von dem Verhältnis von Sprache und Nation im 19. Jahrhundert jedoch im Lichte der sprachlichen Vielfalt des deutschsprachigen Raumes hinterfragt werden, denn die Frage stellt sich, wie es angesichts der Heterogenität der damals existierenden Sprachformen zur Annahme einer einheitlichen „deutschen Sprache“ kommen konnte. Auch ist das von Herder, Fichte und nationalistischen Ideologen aufgestellte Postulat, dass eine solche grundlegende „deutsche“ Sprache seit Jahrhunderten (etwa seit dem Karolingerreich, wenn nicht noch früher) existiert habe, eine klare Fiktion. Dieses Postulat fußt jedoch auf verbreiteten Mythen über die Sprache, so wie sie Watts (2011, 2012) beschreibt, und zwar insbesondere auf dem „Mythos der grundlegenden homogenen Sprache“, dem „Mythos der unveränderlichen Sprache“ und dem „Mythos der althergebrachten Sprache“. Watts bezieht sich dabei in erster Linie auf das Englische, aber seine Einsichten lassen sich ohne grundsätzliche Änderungen auf das Deutsche übertragen, denn diese Mythen lassen sich ohne Weiteres im deutschsprachigen Raum belegen – nicht zuletzt weil sich die Skepsis gegenüber dem Konzept der Plurizentrizität letztendlich auf die Annahme des verbreiteten Mythos der grundlegenden homogenen Sprache zurückführen lässt. Auch ist es klar, dass die oben dargestellten Vorstellungen von Herder, Fichte und anderen über Sprache in solchen Mythen verankert sind. Dass sie grundlegende Probleme dieser Vorstellungen erkannt haben könnten, lässt sich gut aus Fichtes Versuch ersehen, die Tatsachen der beobachtbaren sprachlichen Änderungen zu verniedlichen und dadurch die Annahme einer seit Jahrhunderten bestehenden einheitlichen Sprache des Volks zu retten.

      Die in Durrell (2002) geäußerten Ansichten über die mit dem Versuch verbundenen Probleme, die Vorstellung einer einheitlichen „deutschen Sprache“ mit der Tatsache der Heterogenität der existierenden Sprachformen zu vereinbaren, liegt die Einsicht von Barbour (1991: 45) zugrunde, die „deutsche Sprache“ sei um 1800 „little more than a standard language spoken by a tiny minority of the population, superimposed on a group of related but highly divergent dialects with often almost no mutual comprehensibility“. Auch Mattheier (2000: 1951) schreibt, dass das Hochdeutsche um diese Zeit „eine minimale soziolinguistische Realität“ gehabt habe. Das „Hochdeutsche“ war nämlich Anfang des 19. Jahrhunderts eine fast ausschließlich in der Schrift verwendete Varietät, die im Laufe eines (zu dieser Zeit noch nicht vollständigen) schreibsprachlichen Standardisierungsvorgangs entstanden war. Sie wurde allein von einer bürgerlichen Elite verwendet und diese hatte sie nur im Bildungsprozess erwerben können, denn sie war keiner irgendwo gesprochenen Sprachform entstammt, sondern war das Ergebnis eines Selegierungsprozesses unter den regionalen Schreibsprachen der frühen Neuzeit. Haugen (1966) hat die europäischen Standardsprachen, die aus solchen Prozessen hervorgegangen sind, sehr treffend als „kulturelle Artefakte“ bezeichnet, und das gilt in sehr hohem Maße für das Hochdeutsche. Wie Barbour (1991, 1994) dargestellt hat, gibt es keinen rein linguistischen Grund, warum sich aus den regionalen Schreibsprachen der frühen Neuzeit nicht drei oder vier Standardsprachen entwickelten – und letztendlich lässt sich die heutige Plurizentrizität des Deutschen z.T. auf diese Unterschiede zurückführen.

      Im Hinblick auf die Vielfalt der gesprochenen Varietäten im deutschsprachigen Raum um 1800 und die Künstlichkeit und soziale Beschränktheit des Hochdeutschen muss gefragt werden, wie eine derartige sprachliche Einheitlichkeit vorausgesetzt werden konnte, die als ethnolinguistische Rechtfertigung für das Streben nach einem Nationalstaat im 19. Jahrhundert angesehen werden konnte. Trotz der oben angeführten Behauptungen von Herder, Fichte und anderen hat es im Karolingerreich natürlich kein einheitliches „deutsches“ Volk