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Standardsprache zwischen Norm und Praxis


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des 18. Jahrhunderts über Sprache und liegt den Ansichten Herders über das Verhältnis von Sprache und Volk zugrunde, sowie auch Fichtes Ideen über die Ursprünglichkeit des deutschen Volks und seiner Sprache. Drittens sind „print-languages“ die Sprachen von Herrschaft und Macht, sie wurden vornehmlich von einer Bildungselite geschaffen und deren Verbreitung ist ein Zeichen für die anhaltende kulturelle Dominanz dieser Elite. Abweichende Varietäten werden stigmatisiert und marginalisiert. Anderson (1991) verweist in diesem Kontext ausdrücklich auf das Beispiel des Niederdeutschen, und in der Tat stellt eine der bemerkenswertesten und zugleich wichtigsten Aspekte der deutschen Sprachgeschichte der Ersatz des Niederdeutschen als Schriftsprache in Norddeutschland nach 1600 dar (vgl. Sanders 1982 und von Polenz 2013: 234–240), denn dadurch sind die Einwohner des Nordens „Deutsche“ geworden (bzw. geblieben) und ihre angestammten Dialekte gelten als Varietäten der deutschen Sprache, obwohl sie linguistisch gesehen dem Niederländischen näher stehen.

      Ein besseres Verständnis der Entwicklung wird daher nur möglich, wenn wir die Sprache und insbesondere die sprachliche Variation aus der zeitgenössischen Perspektive betrachten und nicht aus dem heraus, was uns die moderne Soziolinguistik darüber gelehrt hat. Denn es ist letztendlich das standardisierte Hochdeutsch gewesen, das im 19. Jahrhundert zum zentralen Fokus der nationalistischen Ideologie wurde, obwohl es sich, wie oben ausgeführt, von allen gesprochenen Varietäten des Deutschen unterschied und fast ausschließlich in der Schrift von einer kleinen Bildungselite verwendet wurde, wie Heinrich Bauer im ersten Band seiner Vollständige[n] Grammatik der neuhochdeutschen Sprache bestätigte (1827: I, 146): „In keiner Provinz Deutschlands wurde Hochdeutsch je gesprochen“ (zit. nach Evans 2004: 21). Diese Unterschiede in den tatsächlich verwendeten gesprochenen Varietäten waren jedoch nicht relevant, denn diese wurden als ungebildete Abweichungen aufgefasst, da allein die homogene und kodifizierte schriftliche Varietät als das echte korrekte Deutsch galt. Wie Hobsbawm (1992: 113) schreibt, am wichtigsten ist „the written language, or the language spoken for public purposes“, denn „linguistic nationalism was the creation of people who wrote and read, not of people who spoke.“ Und diese Gruppe, das Bildungsbürgertum, war es, die im 19. Jahrhundert die Ideen von Herder, Fichte, Humboldt und anderen über die Einzigartigkeit von Sprachvölkern aufnahm: Die ethnolinguistische Einheit der Sprach- oder Kulturnation, so wie diese auf der Basis der in der Schrift verwendeten Varietät empfunden wurde, galt als Legitimierung für das Streben nach einer Staatsnation, einem Ziel, das dann durch die Reichsgründung 1871 erfüllt wurde – obwohl das kleindeutsche Reich keineswegs dem Herderschen Ideal eines ethnolinguistisch einheitlichen Staats entsprach, dem alle deutschen Muttersprachler, und nur diese, angehörten.

      4. Zu einer Neuevaluierung der Bedeutung des „Alten Reichs“ im Standardisierungsprozess

      Mit der kleindeutschen Reichsgründung unter preußischer Führung wurde jedoch dann eine narrative Teleologie assoziiert, nach der sie als Endpunkt eines natürlichen und unabänderlichen geschichtlichen Prozesses aufgefasst wurde. Diese wurde schon in den 1840er Jahren von Droysen in seinen Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege suggeriert, wo er nach Sheehan (1989: 842–843) die Meinung vertrat, dass „it belonged to the true nature of the state to be national, and to the true nature of the Volk to have a state“, und sie kommt auch nach der Reichsgründung in Treitschkes Deutsche[r] Geschichte im neunzehnten Jahrhundert sehr klar zum Ausdruck. Diese These bezeichnet Hughes (1988: 150) als „a deliberate perversion of Germany’s history designed to present it as unbroken progress towards the Prussian-led creation of Kleindeutschland in 1871“. Allerdings lebe sie nach ihm immer noch im allgemeinen Bewusstsein weiter. Nach dieser Auffassung wurde durch die deutsche Einigung 1871 das natürliche Schicksal der Nation erfüllt, das im Mittelalter durch den Zerfall des Reichs nach der Stauferzeit und später durch die Einmischung fremder Mächte vereitelt worden war, was die ungerechte Verspätung der deutschen Nationsbildung zur Folge gehabt hatte. Dies war nun überwunden, und das deutsche Volk hatte nunmehr den Nationalstaat, der ihm immer zugestanden hatte. Diese Darstellung des Laufs der deutschen Geschichte gilt heute als vollkommen überholt, obwohl Wilson (2016: 3) schreibt, dass sie „still continues as the ‘basso continuo’ of German historical writing and perception, not least because it appears to make sense of an otherwise thoroughly confusing past“, aber ein Aspekt davon lebt immer noch weiter, und zwar die Vorstellung, dass das „Alte Reich“ ein im 18. Jahrhundert völlig überholtes Staatsgebilde gewesen sei, eine strukturlose Zusammensetzung von unbedeutenden Duodezfürstentümern und dgl., die keineswegs als nationaler Staat der Deutschen angesehen werden kann.

      Damit gelangen wir jedoch zur zweiten eingangs gestellten Frage, und zwar wie bzw. warum trotz der Vielfalt der sprachlichen Variation eine einzige standardisierte Varietät der deutschen Sprache in diesem zerbröckelnden Reich ohne Hauptstadt und ohne zentrale Machtbasis entstehen konnte. Eine Antwort lässt sich nur finden, wenn wir die heute noch verbreiteten Vorstellungen über das „Alte Reich“ und den Verlauf der deutschen Geschichte in der frühen Neuzeit hinterfragen sowie auch die damit verbundene These, dass die sprachliche Einigung der politischen Einigung vorausging und erst die Basis für diese schuf. Dazu ist eine grundsätzliche Neubewertung des herkömmlichen Bilds des Heiligen Römischen Reichs nötig, indem wir erkennen müssen, dass das traditionelle in der deutschen Geschichtsschreibung kolportierte Konstrukt auch zur besprochenen „deliberate perversion of German history“ (Hughes 1988: 150) beiträgt, und zwar zur Darstellung der Reichsgründung unter preußischer Führung als Überwindung des Partikularismus, unter dem die deutsche Nation nicht nur nach dem Wiener Kongress gelitten hatte, sondern auch während des ganzen Bestehens des „Alten Reichs“.

      Diese herkömmliche Darstellung des Verlaufs der deutschen Geschichte seit dem Mittelalter wurde jedoch in letzter Zeit stark revidiert. In der einleitenden Zusammenfassung des Inhalts von Evans et al. (2011) heißt es:

      Over the last forty years or so, research on the history of the Holy Roman Empire of the German Nation (1495–1806) has been transformed almost beyond recognition. Once derided as a political non-entity, a chaotic assemblage of countless principalities and statelets that lacked coercive power and was stifled by encrusted structures and procedures, the Reich has been fully rehabilitated by more recent historiography. […] The multi-layered, federal structure of the old Empire and its system of collective decision-making have been held up as a model for a peace-loving, multi-ethnic Europe, a European Union avant la lettre. Other historians have described the Reich as the first German nation-state, a political configuration based not on power and expansion, but on rights and liberties, the rule of law and a structural lack of capacity for aggression.

      Ausführliche Darstellungen dieser Neubewertung findet man außer bei Evans et al. (2011) vor allem bei Schmidt (1999), Whaley (2012) und Wilson (2016). In diesen Arbeiten wird z.B. die Ansicht vertreten, dass das Reich genauso gut als ein zusammenhängender, kohärent organisierter Staat zu betrachten sei wie andere, die zu dieser Zeit in Europa existierten, insbesondere nach der Reichsreform am Wormser Reichstag 1495. Es war natürlich kein Staat im modernen Sinne, aber wir müssen uns davor hüten, geschichtliche Staatsgebilde nach modernen politologischen Kriterien zu beurteilen. Insbesondere sind die Bemerkungen von Whaley (2012: 650) für unsere Diskussion relevant: „The constructed memories after 1871 came to overlay any sense of the Reich as it had actually existed“ sowie (2012: 441): „Diversity and complexity was no obstacle to a sense of belonging to a larger system or to identifying this system with the wider national community of the Germans. […] the overwhelming majority of educated Germans seems to have associated the Reich with the ‚nation‘.“ Wilson (2016: 7) beurteilt die Situation ähnlich: „Germans already saw themselves as a political nation well before unification in 1871, identifying the Empire as their natural home“. Eine ausführlichere Darstellung der sprachlichen Verhältnisse im „Alten Reich“ bietet Wilson (2016: 259–262).

      Diese neuen Forschungsergebnisse führen unabdingbar zu dem Schluss, dass die These einer politischen Einigung auf der Basis einer schon vorhandenen sprachlichen Einigung auch ein ideologisches Konstrukt der nationalistischen Geschichtsschreibung um die Zeit der Reichsgründung war, mit dem Ziel, diese durch nicht-politische Argumente zu rechtfertigen. Die Neubewertung der Geschichte des „Alten Reichs“ lehrt uns aber, dass man sich als Deutscher vornehmlich durch die