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Zwischen Orient und Europa


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Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein von den politischen und imperialistischen Auswirkungen des Orientalismus weitgehend ausgeschlossen blieb, waren die deutsche Wissenschaft und Philologie an der Hervorbringung eines Wortschatzes, eines Wissens und eines hegemonialen Denkens über den Forschungsgegenstand ,Orient‘ beteiligt. Methoden und Ergebnisse der deutschen Wissenschaft trugen zur Etablierung kolonialer Machtverhältnisse erheblich bei. Im deutschsprachigen Raum haben Wissenschaftler deshalb auf Saids zugleich einengende und verallgemeinernde Verwendung des Begriffs ,Europa‘ verwiesen, der bei ihm mit Großbritannien oder Frankreich gleichzusetzen ist,14 und ihm die Ausblendung der Orientalistik im 18. Jahrhundert („insensitivity to eventual differences between eighteenth- and nineteenth-century scholarship and nation-states“)15 vorgeworfen, die ja andere Fragestellungen aufwirft und einen ausdifferenzierteren Zugang erfordert. Diese Kritik trifft teilweise auch auf Susanne Zantops Konzept der colonial fantasies16 zu, das im Wesentlichen Saids Thesen – vor allem im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen einem manifesten und einem latenten Orientalismus – zu teilen scheint.17 In ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Saids Orientalismus-Theorien hat Andrea Polaschegg 2005 deshalb den Begriff eines „anderen Orientalismus“ geprägt. Ihr zufolge habe Said seine Thesen, die fast ausschließlich aus der Erforschung der englischen und französischen Kultur- und Wissensschaftslandschaft zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert hervorgehen, auf das gesamte Spektrum der westlichen Beziehungen mit dem Orient angewandt. Die deutsche Literatur- und Kulturgeschichte scheint jedoch seinem Konzept nicht zu entsprechen. Autoren wie Wieland, Herder, Voss, Hammer-Purgstall, Goethe, Platen, Rückert oder Hauff weisen eine „deutsch-morgenländische Imagination“ auf, deren Regeln sich durch eine nicht hegemonisch geprägte Auseinandersetzung mit dem in seiner Eigenheit anerkannten Orient auszeichnen und zu einer produktiven Anverwandlung und Übersetzung von Texten aus nicht westlichen Kulturen führen.18 Konstruiert wird auf diese Weise nicht nur das Fremde, sondern auch das Eigene.

      Die kritischen Revisionen, denen der Orientalismus-Begriff in seiner ursprünglichen Prägung durch Said und die postkoloniale Kritik unterzogen worden ist, haben einen nachhaltigen Einfluss nicht nur auf die Erforschung der Beziehungen zwischen Osten und Westen ausgeübt. Sie haben seinen ausdifferenzierteren Zugang zum Verständnis der Beziehungen zwischen Mehrheiten und Minderheiten in unterschiedlichen Ländern und politisch-gesellschaftlichen Kontexten ermöglicht. Gerade im Hinblich auf das, was Ulrike Brunotte, Anna-Dorothea Ludewig und Axel Stähler den deutschen „colonial exceptionalism“19 nennen, gilt es, den Blick auf die Verflechtungen zwischen den politischen und ökonomischen Aspekten des Kolonialismus und der Wahrnehmung des Fremden sowohl außerhalb als auch innerhalb nationaler und kultureller Grenzen zu lenken. Hier kommt man an den Knotenpunkt von Orientalismus- und Antisemitismusdiskursen, auf den auch Said in seinem Vorwort zu Orientalism verwiesen hat.20 Vor allem in den USA sind die Jewish Studies vor dem Hintergrund der Multikulturalismusdebatte diesen Verflechtungen nachgegangen und haben ihre Auswirkungen auf die Entwicklung zionistischer Diskurse und auf die Bildung des Staats Israel erforscht. Susannah Heschel hat beispielweise behauptet: „although the Jews did not constitute a territory colony of Europe, they formed an internal colony within Europe, under the domination of christian powers.“21 Aufgrund ihrer weit zurückliegenden orientalischen Wurzeln wurden Juden häufig (nicht immer im positiven Sinn) als Orientalen bezeichnet und verwendeten nicht selten diese Benennung als Selbstdefinition. Bedenkt man außerdem die Rolle der jüdischen Minderheiten innerhalb der deutschsprachigen Länder, scheint es von Belang, die Bedeutung von ,Orient‘ und ,Orientalismus‘ sowohl als theoretisch-wissenschaftliche Begriffe als auch als Leitbilder der deutsch-jüdischen Beziehungen zu hinterfragen und die Rolle zu analysieren, welche sie in der Selbstdefinition der jüdischen Minderheit spielten. So hat etwa die Historikerin Shulamit Volkov die Spezifizität des jüdischen Lebens im deutschsprachigen Raum vor dem Zweiten Weltkrieg als einen „dritten Raum“ zwischen der Loyalität zur eigenen Tradition und Kultur und der Sehnsucht nach Integration in die Mehrheitkultur aufgefasst: „Die meisten von ihnen [den Juden, scil.] lebten in einer dritten Sphäre, die sich während des Jahrhunderts langsam entwickelte. Sie lebten in ihrem eigenen deutsch-jüdischen Kultursystem […], vertraten eine Vielzahl widerstreitender ideologischer Positionen und versuchten, eine gemeinsame jüdische Tradition zu konstruieren.“22 In diesem Raum verkörpern Juden die ambivalente Rolle der Kolonisierten und der Kolonisierer, der insiders und der outsiders zugleich.23 Sie werden vom zeitgenössischen Diskurs über den ,Orient‘ und den ,Orientalen‘ beeinflusst und gehen affirmativ oder ablehnend damit um. Auf mehr oder weniger tiefgreifende Weise interiorisierten Juden die stereotypischen Bilder, Vorurteile und Klischees ihrer Umgebung und setzten sich damit auseinander.24

      Im Hinblick darauf nehmen die Werke deutscher Orientalisten jüdischer Herkunft, deren Leistungen Said in seinem Werk kaum würdigt, einen Stellenwert ein. Erst mit der Entstehung und Etablierung einer Wissenschaft des Judentums im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurden die in der deutschen Orientalistik zum Stereotyp geronnenen Vorstellungen des Orients neu thematisiert und hinterfragt. Zu dieser Zeit eröffneten deutsch-jüdische Intellektuelle und Wissenschaftler, die gleichzeitig Hebräisch, Arabisch und selbstverständlich Deutsch beherrschten, neue Perspektiven auf den Orient und insbesondere auf den kulturellen Austausch zwischen dem Osten und Westen, vor allem im Hinblick auf die wechselseitigen Einflüsse zwischen beiden Welten im Mittelmeerraum. Sie propagierten ein meist positiv besetztes Bild des Orients. Angesichts des prekären Status deutsch-jüdischer Gelehrten und Wissenschaftler an deutschen Universitäten, entschieden sich einige von ihnen für die Emigration nach Frankreich, wo sie günstigere Arbeitsbedingungen fanden.25 Ihnen ist die Etablierung der Jüdischen Studien als eigenständiges Fach an den europäischen Universitäten zu verdanken. Dieses Projekt, das 1818 mit der Gründung des Vereins für die Wissenschaft des Judentums von Leopold Zunz initiiert wurde, wurde zunächst von Zunz selbst und dann von Salomon Munk in Frankreich fortgesetzt. Für Zunz und seine Schüler und Mitgründer der Wissenschaft des Judentums stellte jede Manifestation jüdischen Lebens und jüdischer Kultur den Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung dar. Linguistik und Komparatistik, Philologie, Geschichte, Archäologie und Philosophie bildeten das Instrumentarium, mit dessen Hilfe die deutsch-jüdischen Gelehrten ihre Ziele realisieren wollten. Nach der Gründung des Vereins konzipierte Zunz gemeinsam mit Abraham Geiger und Eduard Gans das Projekt einer Reihe von kommentierten Übersetzungen jüdischer und arabischer Texte in die jeweiligen europäischen Zielsprachen (Deutsch und Französisch). Salomon Munk war z.B. derjenige, der die erste Übersetzung von Maimonides’ Führer der Unschlüssigen aus dem judäoarabischen Original ins Französiche anfertigte. Seine Übertragung bildet – neben Ibn Tibbons hebräischer Übersetzung – bis heute einen durchaus wichtigen Bezugstext zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Maimonides. In vieler Hinsicht leisteten deutsch-jüdische Wissenschaftler Pionierarbeit, indem sie nicht nur die wichtigsten religiösen und philosophischen Strömungen innerhalb des Judentums und des Islams untersuchten, sondern auch auf die Beziehungen dieser Strömungen zu christlichen Denktraditionen eingingen.

      Ziel des vorliegenden Bandes ist es, der Vielfalt der deutsch-jüdischen Auseinandersetzung mit den Orient- und Orientalismusdiskursen im 19. und 20. Jahrhundert in einer fachübergreifenden Perspektive auf die Spur zu kommen. Deutsch-jüdische Intellektuelle hinterfragten die Grenzen zwischen orientalischer und westlicher Kultur und situierten sich an der Schnittstelle von linguistischen, ethnischen und nationalen Identitäten. Ihre Perspektive dynamisierte herkömmliche, in Dichotomisierungen gesetzte nationale Grenzziehungen.

      Der vorliegende Sammelband vereint zwanzig Beiträge. Ihre Reihenfolge richtet sich nach der Chronologie der behandelten Themen. Der Band setzt mit Dominique Bourels (Paris) Beitrag zur Geschichte der deutsch-jüdischen Orientalistik ein. Er erläutert dabei die Rolle, die deutsch-jüdische Intellektuelle im Umkreis der Wissenschaft des Judentums bei der Herausbildung einer eigenständigen, vom Studium der klassischen Philologie unabhängigen Wissenschaft der orientalischen Sprachen und Kulturen spielten. Er hebt dabei auch den Beitrag hervor, den deutsch-jüdische Wissenschaftler (Derenbourg, Oppert, Munk, um nur einige Beispiele zu nennen) im Kulturtransfer zwischen Deutschland und Frankreich leisteten. Deutsch-jüdische Orientalisten (Horovitz, Weil) spielten ebenfalls eine bedeutende Rolle bei der Etablierung ihres Faches an den Hochschulen in Palästina und später in Israel.

      Anknüpfend an Bourels Schilderung der deutsch-jüdischen