Strich durch die Rechnung zu machen, stand sie auf. »Ich muss los«, sagte sie. »Ich komme zu spät ins Kino.«
Irgendwie gelangte Romer vor ihr zur Tür, seine Finger ergriffen ihren rechten Ellbogen.
»Mr Delektorski«, sagte er zu ihrem Vater, »kann ich irgendwo unter vier Augen mit Eva sprechen?«
Sie wurden in sein Arbeitszimmer geleitet, eine kleine Kammer am Ende des Flurs, die mit steif wirkenden Porträtfotos der Familie Delektorski ausgestattet war, einem Schreibtisch, einem Diwan und einem Regal voller Bücher seiner russischen Lieblingsautoren: Lermontow, Puschkin, Turgenjew, Gogol, Tschechow. Es roch nach Zigarren und der Pomade, die sich ihr Vater ins Haar rieb. Sie trat ans Fenster und sah Madame Roisanssac beim Wäscheaufhängen. Plötzlich war ihr mulmig zumute. Sie hatte geglaubt, spielend mit Romer fertigzuwerden, aber nun, allein mit ihm im Zimmer ihres Vaters, sah alles ganz anders aus.
Und als hätte er das gespürt, veränderte sich auch Romer: Seine maßlose Selbstsicherheit wich einer direkteren, verbindlicheren Art. Er drängte sie, sich zu setzen, und zog einen Stuhl für sich hinter dem Schreibtisch hervor, setzte sich ihr gegenüber, als wollte er mit ihr so etwas wie ein Verhör beginnen. Er hielt ihr sein verbeultes Zigarettenetui hin, sie nahm eine Zigarette, sagte gleich darauf: Nein, lieber nicht, und gab sie zurück. Sie verfolgte, wie er sie wieder einsteckte, offensichtlich ein wenig irritiert. Wenigstens ein winziger Sieg, dachte sie – alles zählte, wenn es galt, diese Fassade aus lässiger Arroganz zu durchbrechen, und sei es nur für einen Augenblick.
»Kolja hat für mich gearbeitet, als er umkam«, begann Romer.
»Das sagten Sie schon.«
»Er wurde von den Faschisten ermordet, den Nazis.«
»Ich dachte, es sei Raubmord gewesen.«
»Er hat … er hat gefährliche Aufträge ausgeführt – und er wurde entdeckt. Ich glaube, es war Verrat.«
Eva wollte etwas sagen, entschied sich aber dagegen. In der jetzt entstehenden Stille holte Romer sein Etui erneut heraus und durchlief das ganze Ritual – er steckte die Zigarette in den Mund, klopfte die Taschen nach dem Feuerzeug ab, nahm die Zigarette aus dem Mund, stauchte sie an beiden Enden auf das Etui, zog den Aschenbecher auf dem Schreibtisch ihres Vaters näher heran, zündete die Zigarette an, inhalierte und stieß energisch den Rauch aus. Eva verfolgte den ganzen Vorgang und versuchte, völlig unbeteiligt zu wirken.
»Ich arbeite für die britische Regierung«, sagte er. »Sie verstehen, was ich meine …«
»Ja«, sagte Eva. »Ich glaube.«
»Auch Kolja hat für die britische Regierung gearbeitet. Auf meine Anweisung hat er versucht, die Action Française zu infiltrieren. Er hat sich der Bewegung angeschlossen und mir über alle Entwicklungen berichtet, die für uns von Bedeutung sein könnten.« Er wartete ab, ob sie nachfragen würde, beugte sich vor und erklärte mit ruhiger Stimme: »Es wird Krieg geben in Europa, in sechs Monaten oder einem Jahr – zwischen Nazideutschland und etlichen europäischen Ländern, so viel ist sicher. Ihr Bruder war Teil des Kampfes gegen diesen bevorstehenden Krieg.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass er ein tapferer Mann war. Dass er nicht umsonst gestorben ist.«
Eva unterdrückte das sarkastische Lachen, das ihr in der Kehle saß, und fast im selben Augenblick spürte sie Tränen in sich aufsteigen.
»Ich wünschte, er wäre ein Feigling gewesen«, sagte sie und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, »dann wäre er noch am Leben. Dann könnte er im nächsten Moment durch diese Tür kommen.«
Romer stand auf und stellte sich ans Fenster, wo auch er nun verfolgte, wie Madame Roisanssac ihre Wäsche aufhängte, bis er sich wieder abwandte, sich auf die Schreibtischkante setzte und ihr in die Augen sah.
»Ich möchte Ihnen Koljas Job anbieten«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie für uns arbeiten.«
»Ich habe einen Job.«
»Sie bekommen fünfhundert Pfund pro Jahr. Sie werden britische Bürgerin mit britischem Pass.«
»Nein, danke.«
»Sie werden in Großbritannien ausgebildet und arbeiten in verschiedenen Eigenschaften für die britische Regierung – genauso wie Kolja.«
»Danke, nein. Ich bin sehr zufrieden mit meiner jetzigen Arbeit.«
Plötzlich wollte sie nur noch, dass Kolja hereinkam, was ja ganz unmöglich war – Kolja mit seinem ironischen Lächeln und seinem müden Charme –, und ihr sagte, was sie tun sollte, was sie dem Mann mit dem beharrlichen Blick und den beharrlichen Forderungen sagen sollte. Was soll ich machen, Kolja? Sie hörte die Frage in ihrem Kopf. Sag mir, was ich tun soll, und ich tu’s.
Romer stand auf. »Ich habe mit Ihrem Vater gesprochen und schlage vor, dass Sie es auch tun.« Er ging zur Tür, tippte mit zwei Fingern an seine Stirn, als hätte er etwas vergessen. »Ich sehe Sie morgen – oder übermorgen. Denken Sie ernsthaft über meinen Vorschlag nach, Eva, und was das für Sie und Ihre Familie bedeutet.« Dann schien seine Stimmung abrupt zu wechseln, als hätte ihn eine plötzliche Erregung gepackt, als würde er seine Maske für einen Moment fallen lassen. »Zum Teufel noch mal, Eva«, sagte er. »Ihr Bruder ist von diesen Gangstern ermordet worden, diesem widerwärtigen Pack – Sie kriegen die Chance, ihn zu rächen, sie büßen zu lassen.«
»Auf Wiedersehen, Mr Romer, es war reizend, Sie zu sehen.«
Eva schaute aus dem Zugfenster, draußen zog die schottische Landschaft vorüber. Es war Sommer, doch ihr schien, als wäre die Landschaft unter dem niedrigen weißen Himmel von den Spuren harter Winter gezeichnet – die kleinen, zähen, von einem beständigen Wind gekrümmten und deformierten Bäume, das büschelige Gras, die sanften grünen Hügel mit ihrem dunklen Schorf aus Heidekraut. Es mag ja Sommer sein, schien das Land zu sagen, aber ich bleibe lieber auf der Hut. Sie dachte an andere Landschaften, die sie aus dem Zug gesehen hatte, und tatsächlich war ihr manchmal so, als wäre ihr Leben aus vielen Zugfahrten zusammengesetzt, aus einer Abfolge fremder Gegenden, die an ihrem Fenster vorübergehuscht waren – von Moskau nach Wladiwostok, von Wladiwostok nach China … Luxuriöse wagons lits, Truppenzüge, Güterzüge, Bummelzüge auf Nebenstrecken, Tage des Wartens auf eine Ersatzlok. Mal in überfüllten Zügen, fast erstickend im Mief der zusammengepressten Leiber, dann wieder in der melancholischen Einsamkeit leerer Abteile, Nacht für Nacht das eintönige Rattern der Räder im Ohr; mal mit leichtem Gepäck, nur mit einem Köfferchen, dann wieder befrachtet mit der gesamten Habe, wie ein Flüchtling ohne Ziel. All diese Reisen: von Hamburg nach Berlin, von Berlin nach Paris und jetzt von Paris nach Schottland. Noch immer mit unbekanntem Ziel, dachte sie und sehnte sich ein wenig nach der alten Erregung, der alten Romantik.
Eva schaute auf die Uhr – noch zehn Minuten bis Edinburgh. Ein älterer Geschäftsmann saß im Abteil und nickte ständig über seinem Roman ein, der Kopf mit den hässlich erschlafften Zügen fiel von einer Seite zur anderen. Eva nahm ihren neuen Pass aus der Handtasche und betrachtete ihn vielleicht zum hundertsten Mal. Er war 1935 ausgestellt worden und trug die Einreisestempel mehrerer europäischer Länder: Belgiens, Portugals, der Schweiz und interessanterweise auch der USA. Alle diese Länder hatte sie offenbar bereist. Das Foto war unscharf und überbelichtet: Es ähnelte ihr – einer strengeren, trotzigeren Eva (wo hatten sie das aufgetrieben?) –, aber selbst sie konnte nicht entscheiden, ob es wirklich echt war. Ihr Name, ihr neuer Name, lautete Eve Dalton. Aus Eva Delektorskaja war Eve Dalton geworden. Warum nicht Eva? Sie vermutete, dass »Eve« englischer klang, aber Romer hatte ihr ohnehin keine Wahl gelassen.
An dem Abend, als sich Romer so abrupt verabschiedet hatte, war sie in den Salon gegangen, um mit ihrem Vater zu reden. Ein Job für die britische Regierung, sagte sie, fünfhundert Pfund jährlich, ein britischer Pass. Er tat überrascht, aber es war klar, dass Romer ihn bis zu einem gewissen Grad eingeweiht hatte.
»Du wärst englische Staatsbürgerin, mit Pass«, sagte ihr Vater mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck, der schon fast tölpelhaft wirkte – als wäre es undenkbar,