William Boyd

Ruhelos


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      Als ich am nächsten Morgen von Grindle’s zurückkam, saß Hamid auf der obersten Stufe unserer Treppe. Er trug eine kurze schwarze Lederjacke, die neu war und nicht zu ihm passte, wie ich fand, er wirkte in ihr kastenförmig und bullig. Hamid Kazemi, Anfang dreißig, Bartträger, war ein stämmiger iranischer Ingenieur mit den breiten Schultern eines Gewichthebers. Und er war mein dienstältester Schüler.

      Er hielt mir die Küchentür auf, wies mich mit seiner gewohnt höflich-akkuraten Geste hinein, machte mir ein Kompliment wegen meines guten Aussehens (mit denselben Worten wie vierundzwanzig Stunden zuvor) und folgte mir durch die Wohnung ins Arbeitszimmer.

      »Sie haben nichts zu meiner Jacke gesagt«, sagte er auf seine direkte Art. »Gefällt sie Ihnen nicht?«

      »Sie gefällt mir ganz gut«, erwiderte ich, »aber mit dieser Sonnenbrille und den schwarzen Jeans sehen Sie aus wie ein SAVAK-Agent.«

      Er versuchte zu verbergen, dass er den Vergleich alles andere als lustig fand – und ich sah ein, dass der Scherz für einen Iraner vielleicht ein bisschen geschmacklos war, also entschuldigte ich mich. Hamid hasste den Schah von Persien, und das mit ganz besonderer Leidenschaft, wie mir jetzt einfiel. Er zog die Jacke aus und hängte sie sorgfältig über die Stuhllehne. Ich roch das neue Leder und dachte an Geschirrkammern und Sattelpolitur – ein Geruch, der mich an meine fernen Mädchenjahre erinnerte.

      »Ich habe den Bescheid über meine Versetzung erhalten«, sagte er. »Ich werde nach Indonesien gehen.«

      »Ich gehe nach Indonesien. Ist das gut? Freuen Sie sich?«

      »Ich gehe … Ich wollte Lateinamerika, sogar Afrika …« Er zuckte die Schultern.

      »Für mich klingt Indonesien ganz aufregend«, sagte ich und griff nach den Ambersons.

      Hamid arbeitete bei Dusendorf, einer internationalen Ölgesellschaft. Die Hälfte aller Schüler bei Oxford English Plus kamen von Dusendorf und lernten Englisch, die Sprache der Erdölindustrie, damit sie an allen Ölquellen der Welt eingesetzt werden konnten. Ich unterrichtete Hamid nun schon seit drei Monaten. Er war als voll ausgebildeter Ingenieur für Petrochemie aus dem Iran gekommen, aber praktisch ohne Fremdsprachenkenntnisse. Doch acht Stunden täglicher Einzelunterricht, aufgeteilt auf vier Lehrer, hatten ihn, wie es die Broschüre von Oxford English Plus vollmundig versprach, in kürzester Zeit zum kompletten Zweisprachler gemacht.

      »Wann reisen Sie ab?«, fragte ich.

      »In einem Monat.«

      »Mein Gott!« Der Ausruf war echt und unbeabsichtigt. Hamid war so sehr zum Teil meines Alltags geworden, von Montag bis Freitag, dass ich mir nicht vorstellen konnte, plötzlich ohne ihn dazustehen. Und weil ich seine erste Lehrerin gewesen war, weil ich ihm die erste Englischstunde gegeben hatte, war ich immer in dem Glauben geblieben, dass er sein flüssiges Englisch allein mir zu verdanken habe.

      Ich stand auf und holte einen Kleiderbügel vom Türhaken, um seine Jacke aufzuhängen.

      »Auf dem Stuhl verliert sie die Form«, sagte ich, um den kleinen Gefühlsaufruhr zu kaschieren, den die Nachricht von seiner baldigen Versetzung in mir ausgelöst hatte.

      Als ich ihm die Jacke abnahm, schaute ich aus dem Fenster und sah unten auf dem kiesbestreuten Vorplatz neben Mr Scotts Dolomite einen Mann stehen. Einen schlanken jungen Mann mit Jeans und Jeansjacke, mit dunklem, schulterlangem Haar. Er sah mich hinabblicken und hob die Daumen – mit breitem Grinsen.

      »Wer ist das?«, fragte Hamid, der meine Überraschung und meinen Schock bemerkte.

      »Er heißt Ludger Kleist.«

      »Warum schauen Sie ihn so an?«

      »Weil ich dachte, er sei tot.«

      Die Geschichte der Eva Delektorskaja

      Schottland 1939

      Eva Delektorskaja lief über federndes Gras auf den Talgrund und den dunklen Baumstreifen zu, der einen kleinen Fluss säumte. Jenseits des Glens begann die Sonne zu sinken, also wusste sie wenigstens, wo Westen war. Sie schaute nach Osten, ob der Lkw von Staff Sergeant Law noch zu sehen war, der zwischen den gewundenen Berghängen zurückfuhr, ins Tal des Tweed, wie sie vermutete, doch in der dunstigen Abendluft ließen sich Felswände und Nadelwälder nicht mehr auseinanderhalten, sodass es unmöglich wurde, den Zweitonner aus dieser Entfernung zu erkennen.

      Sie marschierte drauflos, auf den Fluss zu, bei jedem Schritt stieß ihr der Rucksack ins Kreuz. Das ist eine »Übung«, sagte sie sich, sie muss mit dem richtigen Elan ausgeführt werden. Die Ausbilder hatten ihnen erklärt, das sei kein Wettkampf, eher ein Test, ob sie damit zurechtkamen, im Freien zu übernachten, ob sie Orientierungssinn zeigten und welche Initiativen sie in der Zeit entwickelten, die sie brauchten, um zurückzufinden, ohne zu wissen, wo sie sich befanden. Zu diesem Zweck hatte Law ihr die Augen verbunden und sie mindestens zwei Stunden lang umhergefahren, wie sie aus dem Stand der rötlichen Sonne schloss. Während der Fahrt war Law auffallend gesprächig gewesen – um sie am Zählen zu hindern, wie sie jetzt begriff –, und als er sie oberhalb des Glens absetzte, sagte er: »Es können zwei Meilen oder zwanzig Meilen Entfernung sein.« Er zeigte sein dünnes Lächeln. »Sie werden es nicht erraten. Also bis morgen, Miss Dalton.«

      Das Flüsschen im Talgrund war seicht, das braune Wasser floss schnell dahin. Beide Ufer waren dicht bewachsen, hauptsächlich von kleinen, belaubten Bäumen mit blassgrauen, knorrigen Stämmen. Eva lief mit festem Schritt flussabwärts, die safranfarbene Sonne betupfte das Gras und Gesträuch mit goldenen Flecken. Über den Pfützen standen Mückenwolken, und während der schottische Tag zur Neige ging, wurde der Gesang der Vögel immer munterer.

      Als die Sonne hinter dem Westrand des Glens verschwunden war und das Licht im Tal grau und gestaltlos wurde, beschloss Eva, ihr Nachtlager aufzuschlagen. Sie hatte bestimmt mehrere Meilen zurückgelegt, aber noch immer kein Haus oder irgendeine menschliche Bleibe entdeckt, keine Scheune oder Hütte, in der sie Unterschlupf gefunden hätte. Ihr Rucksack enthielt einen Regenmantel, ein Umhängetuch, eine Wasserflasche, eine Kerze, eine Schachtel Streichhölzer, ein kleines Päckchen Toilettenpapier und ein paar Käsesandwiches, eingewickelt in Butterbrotpapier.

      Sie suchte sich eine bemooste Mulde zwischen den Wurzeln eines Baumes, zog den Regenmantel über und kroch in ihr provisorisches Bett. Ein Sandwich aß sie, die anderen hob sie auf. Bis jetzt machte ihr dieses Abenteuer ziemlichen Spaß, sie freute sich beinahe auf ihre Nacht unter freiem Himmel. Das Rauschen des Flusses, der flink über die runden Kiesel und Steine strömte, war beruhigend; sie fühlte sich nicht ganz so allein. Und sie spürte auch nicht das Bedürfnis, mit der Kerze gegen die Dunkelheit anzugehen – eigentlich war sie recht froh, dass sie einmal von ihren Kollegen und Ausbildern in Lyne Manor wegkam.

      Nach der Ankunft in Edinburgh war Staff Sergeant Law mit ihr südwärts gefahren und dann am Tweed entlang, durch mehrere kleine und in ihren Augen fast identische Fabrikstädte. Nach der Überquerung des Flusses stießen sie in eine einsamere Landschaft vor. Hier und da sah man flache, massive Farmhäuser mit ihren Stallungen und blökenden Schafherden. Die Hügel ringsum, von Schafen bevölkert, wurden höher, die Wälder dichter und urwüchsiger. Dann, zu ihrer Überraschung, fuhren sie durch das schmiedeeiserne Tor eines Landguts mit hübschen Portalhäuschen zu beiden Seiten und weiter auf einem gewundenen Fahrweg, der von alten Buchen flankiert war und zu zwei großen weißen Gutshäusern führte, die von gepflegtem Rasen umgeben und so ausgerichtet waren, dass sie eine westwärts gelegene Schlucht überblickten.

      »Wo sind wir?«, fragte sie Law, stieg aus dem Auto und betrachtete die kahlen, runden Bergrücken zu beiden Seiten.

      »Lyne Manor«, sagte er, ohne weitere Erklärungen abzugeben.

      Die zwei Häuser waren, wie sie jetzt sah, Teile eines einzigen. Was wie ein zweites ausgesehen hatte, war tatsächlich der Seitenflügel, ebenfalls stuckverziert und weiß getüncht, aber offensichtlich jüngeren Datums als das ein Stockwerk höhere Haupthaus mit seinen dicken Festungsmauern und kleinen, unregelmäßigen Fenstern unter einem dunklen Schieferdach. Sie hörte das Rauschen eines Flusses und sah hinter Bäumen,