William Boyd

Ruhelos


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da sie im Wurzelbett ihres Baumes lag, schläfrig vom beständig wechselnden Rauschen des Flusses, dachte sie an die zwei seltsamen Monate in Lyne Manor, an die Dinge, die sie dort gelernt hatte. Sie betrachtete das Ausbildungslager als eine Art exzentrische Internatsschule, und es war eine sonderbare Ausbildung, die sie dort erhielt: zuerst morsen, morsen ohne Ende, bis zur fortgeschrittensten Stufe, auch Stenografie und das Schießen mit diversen Handfeuerwaffen. Sie hatte Autofahren gelernt, sie konnte Karten lesen und den Kompass gebrauchen. Sie wusste, wie man Kaninchen und andere Nager fing, häutete und zubereitete, wie man Spuren verwischte und falsche Fährten legte. In weiteren Kursen hatte man ihr beigebracht, einfache Codes zu entwickeln und zu knacken. Sie hatte gelernt, wie man Dokumente fälschte, konnte Namen und Daten mit verschiedenen Spezialtinten und winzigen Schabwerkzeugen verändern und wusste, wie man mit einem zugeschnittenen Radiergummi amtliche Stempel nachmachte. Sie wurde mit der menschlichen Anatomie vertraut gemacht, lernte, wie der Körper funktionierte, worin sein Nahrungsbedarf und seine vielen Schwachstellen bestanden. In den ahnungslosen Fabrikstädtchen war sie zu belebter Stunde darauf trainiert worden, Verdächtige zu beschatten, allein, zu zweit oder zu mehreren. Sie wurde auch selbst verfolgt und allmählich vertraut gemacht mit den Anzeichen einer Beschattung sowie allen möglichen Methoden, ihr zu entgehen. Sie lernte, wie man unsichtbare Tinte herstellte und wie man sie sichtbar machte. All das war interessant, gelegentlich faszinierend, aber das »Scouting«, wie man diese Fähigkeiten in Lyne nannte, war nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen konnte: Sobald der Eindruck entstand, dass ihnen das Training gefiel oder gar Spaß machte, wurden Law und seine Ausbilderkollegen mürrisch und abweisend. Aber gewisse Besonderheiten ihrer Ausbildung gaben ihr Rätsel auf. Wenn die anderen, die mit ihr »studierten«, zum Flugplatz Turnhouse bei Edinburgh fuhren, um Fallschirmspringen zu lernen, durfte sie nicht mit.

      »Warum nicht?«, fragte sie.

      »Mr Romer sagt, das ist nicht nötig.«

      Aber offenbar legte Mr Romer Wert auf andere Fähigkeiten. Zweimal in der Woche fuhr Eva allein mit dem Zug nach Edinburgh, wo sie bei einer schüchternen Frau in Barnton Sprechunterricht erhielt, bis langsam, aber sicher alle Spuren ihres russischen Akzents getilgt waren. Jetzt sprach sie wie die Schauspielerinnen in englischen Filmen, ein steifes, abgehacktes Englisch mit seltsamen Vokalen: Statt »man« sagte sie »men«, statt »hat« sagte sie »het«, ihre Konsonanten waren scharf und präzise, ihre R ein wenig rollend. Sie lernte sprechen wie eine junge Mittelstandsengländerin mit Privatschulbildung. Niemand fragte nach ihrem Französisch oder ihrem Russisch.

      Dieselbe Spezialbehandlung wurde ihr zuteil, als die anderen zu einem dreitägigen Selbstverteidigungskurs nach Perth geschickt wurden. »Mr Romer sagt, das ist nicht nötig«, hieß es, als sie sich wunderte, weil sie keinen Marschbefehl erhielt. Dann kam ein seltsamer Mensch nach Lyne, der ihr Einzelunterricht erteilte. Er hieß Mr Dimarco, war ein kleiner, sehr gepflegter Herr mit scharf getrimmtem und pomadisiertem Schnurrbart, und er zeigte ihr seinen Vorrat an Gedächtnistricks – früher hatte er auf Jahrmärkten gearbeitet, wie er sagte. Eva lernte, Zahlen mit Farben zu verbinden, und bald zeigte sich, dass sie sich mühelos bis zu zwanzig Sequenzen fünfstelliger Zahlen merken konnte. Sie spielten komplizierte Varianten von Gedächtnisübungen mit über hundert Gegenständen, die auf einem langen Tisch versammelt waren – und nach zwei Tagen war sie zu ihrer eigenen Überraschung in der Lage, sich mehr als achtzig dieser Gegenstände zu merken. Man zeigte ihr einen Film und unterzog sie danach einer ausführlichen Befragung: Hatte der dritte Mann von links in der Kneipe einen Hut auf oder nicht? Wie lautete das Kennzeichen des Fluchtautos? Trug die Frau an der Hotelrezeption Ohrringe? Wie viele Stufen führten zur Haustür des Schurken? … Sie begriff, dass man ihr beibrachte, Augen und Verstand in völlig neuer Weise zu gebrauchen, sodass sie sich mit ihren Methoden des Beobachtens und Erinnerns gänzlich von der Masse der Menschen unterschied. Und anhand dieser neuen Fähigkeiten sollte sie die Welt mit einer Präzision und Systematik beobachten und analysieren, die nichts mehr mit gewöhnlicher Neugier zu tun hatten. Alles, aber auch wirklich alles sollte zum potenziellen Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit werden. Niemand sonst bekam diese Ausbildung bei Mr Dimarco, nur Eva. Auch das sei eine von Mr Romers Spezialanforderungen, gab man ihr zu verstehen.

      Als es schließlich dunkel war am Fluss, so dunkel, wie eine schottische Sommernacht nur sein konnte, knöpfte sie ihren Regenmantel zu und faltete das Umhängetuch zum Kissen. Das Licht des Halbmonds hatte die Farben des Tages in die Monochromie der Nacht überführt und verwandelte den Fluss mit den knorrigen Bäumen in eine Szenerie von geisterhafter Schönheit.

      Nur zwei andere »Gäste« waren schon so lange in Lyne wie sie: ein junger, hagerer Pole, genannt Jerzy, und eine Frau Mitte vierzig, Mrs Diana Terme. Es gab nie mehr als acht oder zehn Gäste zur selben Zeit, auch das Personal wechselte regelmäßig. Sergeant Law schien zum festen Inventar zu gehören, aber selbst er wurde für zwei Wochen von einem wortkargen Waliser namens Evans abgelöst. Die Gäste bekamen täglich drei Mahlzeiten in der Kantine des Haupthauses, von der man einen weiten Blick über das Tal und den Fluss hatte, und bedient wurden sie von jungen Rekruten, die kaum ein Wort sagten. Untergebracht waren die Gäste im neueren Flügel; Frauen in der einen Etage, Männer in der anderen, jeder hatte sein eigenes Zimmer. Es gab sogar einen Clubraum mit Radio, Teebereiter, Zeitungen und ein paar Illustrierten – aber Eva hielt sich selten dort auf. Ihre Tage waren ausgefüllt: Das Kommen und Gehen und der niemals artikulierte, aber allen bekannte Grund ihres Hierseins sorgten dafür, dass gesellige Kontakte riskant erschienen und irgendwie nicht gediehen. Aber es gab noch andere Gründe, private Beziehungen zu vermeiden oder mit Vorsicht zu genießen.

      Am Tag nach ihrer Ankunft führte ein freundlicher Mann mit Tweedanzug und sandfarbenem Schnurrbart im Dachgeschoss des Haupthauses ein Gespräch mit ihr. Er nannte weder seinen Namen noch gab es irgendwelche Hinweise auf seinen Dienstrang. Sie konnte nur vermuten, dass es sich um jenen »Laird« handelte, den Law und andere Ausbilder gelegentlich erwähnten. Wir mögen keine Freundschaften hier in Lyne, erklärte der Laird, sehen Sie die anderen als Reisebekanntschaften – es gibt keinen Grund, sich näher kennenzulernen, weil Sie sich nicht wiedersehen werden. Seien Sie freundlich, plaudern Sie miteinander, aber je weniger andere über Sie wissen, desto besser. Bleiben Sie lieber für sich und machen Sie das Beste aus Ihrer Ausbildung, denn dafür sind Sie schließlich hier.

      Nachdem er sie schon entlassen hatte, rief er sie zurück: »Ich möchte Sie noch warnen, Miss Dalton. Nicht alle unsere Gäste sind das, was sie scheinen. Es könnte sein, dass der eine oder andere für uns arbeitet – nur um sicherzustellen, dass die Regeln eingehalten werden.«

      Also misstrauten alle Gäste von Lyne Manor einander und waren so diskret, höflich und verschlossen, wie es sich der Laird nicht besser hätte wünschen können. Mrs Terme fragte Eva einmal, ob sie Paris kenne, und Eva, die sofort Verdacht schöpfte, antwortete: »Nur sehr flüchtig.« Dann sprach Jerzy sie einmal auf Russisch an und entschuldigte sich sofort. Im Verlauf der Wochen kam sie zu der Überzeugung, dass diese beiden die »Gespenster« von Lyne waren, wie man die Doppelagenten nannte. Die Lyne-Schüler wurden dazu angehalten, das in Lyne übliche Vokabular zu verwenden. Man redete nicht von der »Firma«, sondern sagte »Zentrale«. Agenten waren »Krähen«, »Schatten« waren die, die einen verfolgten – solche Bezeichnungen galten, wie sie später erfuhr, als linguistische Erkennungszeichen oder als eine Art Freimaurer-Gruß, mit dem sich Lyne-Absolventen einander zu erkennen gaben.

      Das eine oder andere Mal meinte sie bemerkt zu haben, dass Law mit einem Neuankömmling einen wissenden Blick wechselte, und ihre Vermutungen setzten von Neuem ein: Waren das die wirklichen Informanten, und hatten Mrs Terme und Jerzy einfach nur aus Neugier gefragt? Nach kurzer Zeit begriff sie, dass all das genau so beabsichtigt war – die Warnung allein reichte schon aus, um die Gäste zu Vorsicht und Wachsamkeit zu veranlassen: Ständiges Misstrauen war ein wirksames Instrument der inneren Sicherheit. Eva war überzeugt, dass sie den anderen genauso verdächtig vorkam wie ihr diejenigen, die sie glaubte, entlarvt zu haben.

      Zehn Tage hatte sich ein junger Mann namens Dennis Trelawny in Lyne aufgehalten. Eine blonde Locke fiel ihm in die Stirn, und am Hals hatte er eine frische Brandnarbe. Bei ihren wenigen Begegnungen – in der Kantine, beim Morsetraining – merkte sie, dass er sie beobachtete, auf die gewisse Art. Er machte nur die unverfänglichsten Bemerkungen – »sieht ganz nach Regen aus«, »ich bin