unsympathisch: Diese Selbstgefälligkeit, diese amour propre, das ging ihr manchmal einfach zu weit. Ich bin allen haushoch überlegen und hab es nur mit armseligen Trotteln zu tun.
»Suchen Sie sich einen sicheren Unterschlupf. Wo auch immer. Überall, wo Sie sich für eine gewisse Zeit aufhalten, brauchen Sie Ihren persönlichen Zufluchtsort. Den dürfen Sie nicht mir, den dürfen Sie keinem verraten. Einfach ein Ort, zu dem Sie immer Zugang haben, wo Sie anonym bleiben, wo Sie sich, wenn nötig, verstecken können.«
»Romers Regeln«, sagte sie. »Haben Sie noch mehr davon?«
»Oh, jede Menge«, erwiderte er, ohne auf ihre Ironie einzugehen, »aber da wir schon beim Thema sind, nenne ich Ihnen die wichtigste Regel, Regel Nummer eins, die man nie vergessen darf.«
»Welche wäre?«
»Traue niemandem«, sagte er ohne jedes Pathos, eher mit einer beiläufigen Gewissheit, als würde er sagen: Heute ist Freitag. »Trauen Sie niemandem. Niemals«, wiederholte er, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an, nachdenklich, mit einem Gesicht, als wäre er von seinem eigenen Scharfsinn überrascht. »Vielleicht ist das die einzige Regel, die Sie brauchen. Vielleicht sind die anderen, die ich Ihnen noch nennen werde, nur Varianten dieser einen. Die Regel der Regeln. Trauen Sie keinem, nicht mal dem Menschen, dem Sie am allermeisten trauen würden. Der Verdacht, das Misstrauen muss immer bleiben.« Er lächelte, aber es war nicht sein warmes Lächeln. »Dann sind Sie immer auf der sicheren Seite.«
»Ich werd’s mir merken.«
Seinen restlichen Brandy kippte er mit einem Schluck. Er trank viel – das war ihr bei den wenigen Treffen schon aufgefallen.
»Dann sehen wir mal zu, wie wir Sie zurück nach Lyne bekommen«, sagte er und verlangte die Rechnung.
An der Tür gaben sie sich die Hand. Sie könne ganz bequem mit dem Bus fahren, sagte Eva. Sie hatte den Eindruck, dass er sie intensiver musterte als sonst, und ihr fiel ein, dass sie ihr Haar gelöst hatte – wahrscheinlich hat er mich nie mit offenem Haar gesehen, dachte sie.
»Ja … Eva Delektorskaja«, sagte er versonnen, als wäre er mit den Gedanken woanders. »Wer hätte das gedacht.« Er machte eine Handbewegung, wie um ihr auf die Schulter zu klopfen, dann entschied er sich anders. »Alle sind sehr beeindruckt von Ihnen. Wirklich.« Er blickte in den Nachmittagshimmel, wo sich bedrohliche graue Wolkentürme zusammenschoben. »Nächsten Monat gibt’s Krieg«, sagte er im gleichen beiläufigen Ton, »oder übernächsten. Der große europäische Krieg.« Er lächelte ihr zu. »Wir werden das Unsere tun. Keine Sorge.«
»Im Assekuranz- und Abrechnungsservice.«
»Ja … Waren Sie schon mal in Belgien?«, fragte er unvermittelt.
»Ja. Einmal in Brüssel. Warum?«
»Es könnte Ihnen dort gefallen. Bye, Eva.« Er hob die Hand, halb salutierend, halb winkend, und schlenderte davon. Eva hörte ihn pfeifen. Sie drehte sich um und ging gedankenverloren zum Busbahnhof.
Wenig später, als sie auf den Bus nach Galashiels wartete, ertappte sie sich dabei, dass sie alle, die in dem kleinen Warteraum saßen, Männer, Frauen, ein paar Kinder, einer Einschätzung unterzog. Sie musterte, verglich, ordnete ein. Und sie dachte: Wenn ihr nur wüsstet, wer ich bin und was ich hier mache. Mit einem Schreck kam es ihr zu Bewusstsein, und beinahe hätte sie aufgeschrien, denn plötzlich war ihr klar, dass sie sich tatsächlich geändert hatte, dass sie die Welt mit anderen Augen sah. Als hätten sich die Nervenbahnen in ihrem Gehirn neu verschaltet, und sie wusste nun, dass ihr Lunch mit Romer das Ende ihrer alten Existenz und den Beginn einer neuen markierte. Jetzt begriff sie mit fast enttäuschender Klarheit, dass die Welt und die Menschen für einen Spion nicht dasselbe waren wie für andere Menschen. Mit einem kleinen Schock – und auch, das musste sie zugeben, mit einer gewissen Erregung – stellte sie in diesem Edinburgher Warteraum fest, dass sie ihre Umgebung mit den Augen eines Spions betrachtete. Sie dachte an Romers Worte, an die Regel aller Regeln. War dies das besondere, das einzigartige Schicksal des Spions? In einer Welt ohne Vertrauen zu leben? Würde sie jemals wieder fähig sein, einem Menschen zu vertrauen?
3 Bitte nicht nackt
Ich wachte zu früh auf, verstört und wütend über meinen üblichen Traum – den Traum, in dem ich tot bin und zuschaue, wie Jochen ohne mich zurechtkommt, meist ohne Probleme und quietschvergnügt. Diese Träume stellten sich ein, als er zu sprechen begann, und ich hasse mein Unterbewusstsein dafür, dass es mir diese Angst, diese abartige Neurose immer mal wieder vor Augen führt. Warum träume ich meinen eigenen Tod? Von Jochens Tod träume ich nie, ich denke nur manchmal daran, selten, eine Sekunde oder zwei, bis ich den Gedanken erschrocken verscheuche. Ich bin fast sicher, dass jedem solche Gedanken kommen, bei Menschen, die man liebt. Das ist die düstere Kehrseite dessen, dass man jemanden wirklich liebt: Man ist gezwungen, sich ein Leben ohne ihn vorzustellen, man muss sich diesen Schrecken, diesen Horror für einen kurzen Moment ausmalen, muss kurz durchs Schlüsselloch schauen, in die große Leere, das große Nichts dahinter. Wir können nicht anders – zumindest ich nicht, und voller Schuldbewusstsein sage ich mir, dass es allen so geht, dass es eine sehr menschliche Reaktion ist. Und ich hoffe, dass ich recht habe.
Ich kroch aus dem Bett und tapste in sein Zimmer hinüber, um zu sehen, was er trieb. Er saß im Bett und malte in seinem Malbuch, Buntstifte und Wachsstifte um sich verstreut.
Ich gab ihm einen Kuss und fragte, was er da male.
»Einen Sonnenuntergang«, sagte er und zeigte mir das Bild voller flammender Gelb- und Orangetöne, die durch blutig düsteres Purpur und Grau begrenzt waren.
»Ein bisschen traurig«, sagte ich, weil ich noch unter dem Eindruck meines Traums stand.
»Nein, ist es nicht, es soll schön aussehen.«
»Was möchtest du zum Frühstück?«, fragte ich.
»Knusprig gebratenen Speck, bitte.«
Ich öffnete für Hamid – heute trug er nicht die neue Lederjacke, nur seine schwarzen Jeans und ein weißes kurzärmliges Hemd und wirkte wie aus dem Ei gepellt, wie ein Pilot. Normalerweise hätte ich ihn damit aufgezogen, aber nach meinem Fauxpas vom Vortag und weil Ludger hinter mir in der Küche war, war es wohl besser, einfach nur nett und freundlich zu sein.
»Hallo, Hamid! Was für ein schöner Morgen!«, rief ich mit allem Frohsinn, den ich aufzubieten hatte.
»Die Sonne scheint wieder«, sagte er mit Grabesstimme.
»So ist es. So ist es.«
Ich drehte mich um und winkte ihn herein. Ludger saß am Küchentisch, in T-Shirt und Shorts, und löffelte seine Cornflakes. Ich ahnte, was in Hamid vorging – sein künstliches Lächeln, sein steifes Benehmen –, aber in Ludgers Gegenwart konnte ich ihm den Unterschied zwischen Schein und Sein nicht erklären, also beschränkte ich mich darauf, die beiden einander vorzustellen.
»Hamid, das ist Ludger, ein Freund von mir aus Deutschland. Ludger – Hamid.«
Am Vortag hatte ich es nicht getan. Ich war zur Haustür hinuntergegangen, hatte Ludger heraufgeholt, im Wohnzimmer abgesetzt und – unter einigen Schwierigkeiten – mit Hamid weitergearbeitet. Als die Stunde zu Ende und Hamid weg war, ging ich zu Ludger – er lag auf dem Sofa und schlief.
Jetzt streckte Ludger die Faust in die Höhe und sagte »Allahu akbar«.
»Sie erinnern sich doch an Ludger?«, sagte ich munter. »Er kam gestern, während unserer Stunde.«
Hamids Gesicht zeigte keine Regung. »Nett, Sie kennenzulernen«, sagte er.
»Wollen wir nach hinten gehen?«, fragte ich.
»Ja. Bitte nach Ihnen, Ruth.«
Ich führte ihn ins Arbeitszimmer. Er war ganz anders als sonst. Er wirkte ernst, fast gequält in gewisser Weise. Ich stellte fest, dass er seinen Bart gestutzt hatte – das machte ihn jünger.
»So«, sagte ich, noch immer im Ton falscher Jovialität, und setzte mich