Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil


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»Fliehe nur, wenn dir's dein Herz gebeut«, rief ihm Agamemnon zu, »ich habe genug Helden ohne

       dich, du bist doch einer der zanksüchtigsten! Aber wisse, die Tochter des Chryses erhält zwar ihr

       Vater wieder, ich dagegen hole mir selbst die liebliche Brisëis aus deinem Zelte, damit du lernest,

       wieviel ich höher als du sei, und keiner mehr es wage, mir ins Antlitz zu trotzen, wie du tust!« Achill

       entbrannte, sein Herz ratschlagte unter seiner Männerbrust, ob er das Schwert ziehen und den

       Atriden auf der Stelle niederhauen oder seinen Zorn beherrschen solle. Da stand plötzlich unsichtbar

       hinter ihm die Göttin Athene, enthüllte sich ihm allein, indem sie ihn am braunen Lockenhaar faßte

       und sprach flüsternd: »Fasse dich, zücke das Schwert nicht, schelten magst du immerhin. Wenn du

       mir gehorchst, verspreche ich dir dreifache Gabe!«

       Auf diese Mahnung hemmte Achill seine Rechte am silbernen Hefte seines Schwertes und stieß es in

       die Scheide zurück; aber seinen Worten ließ er freien Lauf. »Unwürdiger«, sprach er, »wann hat dein

       Herz dir eingegeben, mit den Edelsten Griechenlands in einen Hinterhalt zu ziehen oder in offener

       Schlacht zuvorderst zu kämpfen? Viel bequemer dünkt es dir, hier im Heereslager sein Geschenk dem

       zu entwenden, der es wagt, dir zu widersprechen! Aber ich schwöre dir bei diesem Fürstenzepter, so

       gewiß er nie wieder als Baumast grünen wird: hinfort siehest du den Sohn des Peleus nicht mehr in

       der Schlacht; umsonst wirst du Rettung suchen, wenn der männermordende Hektor die Griechen

       scharenweise niederwirft; umsonst wird alsdann an deiner Seele der Gram fressen, daß du den

       edelsten der Danaer keiner Ehre wert geachtet hast!« So sprach Achill, warf seinen Zepter auf die

       Erde und setzte sich nieder. Vergebens suchte der ehrwürdige Nestor die Streitenden mit milder

       Rede zu versöhnen. Endlich rief Achill, sich aus der Versammlung erhebend, dem Könige zu: »Tue,

       was du willst, nur mute mir keinen Gehorsam zu. Nie werde ich des Mägdleins wegen gegen dich

       oder andere die Arme zum Streit erheben. Ihr gabet sie mir, ihr könnt sie mir auch wieder nehmen.

       Aber laß dir nicht einfallen, das mindeste sonst bei meinen Schiffen anzutasten, wenn du nicht willst,

       daß dein Blut von meiner Lanze triefe!«

       Die Versammlung trennte sich. Agamemnon ließ die Tochter des Chryses und die Hekatombe zu

       Schiffe bringen, und Odysseus führte beide ihrer Bestimmung zu. Dann aber berief der Atride die

       Herolde Talthybios und Eurybates und befahl ihnen, die Tochter des Brises aus dem Zelte des Peliden

       zu holen. Die Herolde gingen ungerne, jedoch dem drohenden Wort ihres Herrschers gehorchend

       zum Schiffslager. Sie fanden den Achill vor seinem Zelte sitzend, und er wurde ihres Anblickes nicht

       fröhlich; sie selbst aber wagten vor Scheu und Ehrfurcht nicht, zu verkündigen, weswegen sie kämen.

       Aber Achill hatte es ihnen im Geiste schon abgelauscht. »Freude sei mit euch«, rief er ihnen zu, »ihr

       Herolde des Zeus und der Menschen! Nahet euch immerhin; nicht ihr traget die Schuld eurer

       Forderung, sondern Agamemnon. Wohlan denn, Freund Patroklos, führe die Jungfrau heraus und

       übergib sie ihnen. Aber sie selbst sollen mir Zeugen sein vor den Göttern, den Menschen und jenem

       Wüterich: wenn man je wieder meiner Hilfe bedarf, so ist es nicht meine Schuld, sondern die Schuld

       des Atriden, wenn ich nicht erscheine.«

       Patroklos brachte das Mädchen, die den Herolden widerstrebend folgte; denn sie hatte ihren milden

       Herrn liebgewonnen. Achill aber setzte sich weinend an den Strand, schaute hinunter in die dunkle

       Meeresflut und flehte seine Mutter Thetis um Hilfe an. Da ertönte ihre Stimme aus der Tiefe: »Wehe

       mir, mein Kind, daß ich dich gebar; so kurz währet dein Leben, und nun sollst du auch noch soviel

       Tränen und Kränkung erfahren! Aber ich selbst gehe hinauf zum Donnerer und flehe für dich um

       Hilfe. Zwar ist er gestern zum Mahle der frommen Äthiopier an den Strand des Okeanos gegangen,

       und erst nach zwölf Tagen wird er wiederkehren; dann aber eile ich hinauf zu ihm und umfasse ihm

       die Knie. So lange setze du dich zu deinen Schiffen, zürne den Danaern und enthalte dich des

       Krieges.« Achill verließ mit der Antwort seiner Mutter im Herzen den Strand und setzte sich grollend,

       mit verschlungenen Armen, in seinem Zelte nieder.

       Inzwischen war Odysseus mit dem Schiffe zu Chryse angekommen und übergab dem freudig

       überraschten Vater sein holdseliges Kind. Dankbar hob Chryses seine Hände gen Himmel und flehte

       zu Phöbos um Abwendung der Plage, die er den Griechen zugesandt, und in diesem Augenblicke

       hörte die Pest unter dem griechischen Heere auf, und als Odysseus mit dem Schiffe ins Lager der

       Griechen zurückkam, fand er diese des Übels ledig.

       Der zwölfte Tag, seit Achill sich in seine Lagerstätte zurückgezogen hatte, war angebrochen, und

       Thetis hatte ihr Versprechen nicht vergessen. Im frühesten Morgennebel tauchte sie aus dem Meere

       und stieg empor zum Olymp. Hier fand sie auf der höchsten Kuppe des gezackten Berges, abseits von

       den andern Göttern, den wartenden Zeus gelagert, setzte sich zu ihm, und mit der Linken seine Knie

       umschlingend, mit der Rechten nach der Sitte Flehender sein Kinn berührend, sprach sie zu ihm:

       »Vater Zeus, wenn ich dir je mit Worten oder Taten gedient habe, so gewähre mir mein Verlangen:

       Ehre meinen Sohn, dem vom Geschicke so früh zu welken bestimmt ist; Agamemnon hat ihn jetzt

       eben aufs tiefste gekränkt und ihm das Ehrengeschenk entzogen, das er selbst erbeutet hatte.

       Deswegen bitte ich dich, Göttervater, gib den Trojanern so lange den Sieg, bis die Griechen meinem

       Sohne wieder die verdiente Ehre erweisen!« Lange blieb Zeus unbeweglich und schweigend. Aber

       Thetis schmiegte sich ihm immer fester ans Knie und flüsterte: »So gewähre mir doch meine Bitte,

       Vater, oder verweigere sie mir rundweg, damit ich es wisse, ob ich mehr als alle andere Götter einer

       Ehre von dir gewürdigt werde!« So nötigte sie endlich den Vater der Götter zu der unmutigen

       Antwort: »Es ist nicht zum Heile, daß du mich zwingst, mit der Göttermutter Hera zu hadern, die

       ohnehin mir immer zuwider ist. Eile nur hinweg, daß sie dich nicht bemerke, und es genüge dir der

       Wink meines Hauptes, welcher der untrüglichsten Verheißung gleich ist.« So sprechend, nickte Zeus

       mit den Augenbrauen, und die Höhen des Olymps erbebten von dem Nicken seines Hauptes.

       Zufrieden fuhr Thetis hinab zur Meerestiefe. Hera aber, welche die Ratschlagung ihres Gemahles mit

       der Göttin wohl beachtet hatte, trat heran zu Zeus und reizte ihn mit Vorwürfen. Doch dieser

       antwortete der Göttin ruhig: »Getraue dir nicht, einzusehen, was ich beschließe; schweig und

       gehorche meinem Gebote!« Da erschrak Hera vor dem Wort ihres Gemahls, des Götter‐ und