Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil


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schrie er; »wessen bedarfst du denn? Ist nicht dein Zelt voll von edlem Erz und

       voll von Weibern? Du lässest es dir wohl sein, und wir sollen uns von dir in allen Jammer

       hineinführen lassen? Viel besser tun wir, auf den Schiffen heimzusegeln und diesen hier allein vor

       Troja sich mit Ehrengeschenken mästen zu lassen! Hat er doch jetzt selbst den mächtigen Achill

       verunehrt und vorenthält ihm seine Ehrengabe. Aber der träge Pelide hat keine Galle in der Leber,

       sonst hätte der Tyrann zum letzten Male gefrevelt!«

       Während Thersites so schalt, stellte sich Odysseus neben ihn und maß ihn mit finsterem Blick, dann

       hub er sein Zepter, bleute ihm Rücken und Schultern und rief. »Find ich dich noch einmal im

       Wahnsinne toben wie jetzt, du Schuft, so soll mein Haupt nicht auf meinen Schultern stehen und

       Telemachos nicht mein Sohn sein, wenn ich dir nicht die Kleider bis auf die Blöße vom Leibe ziehe

       und dich, mit Geißelhieben gestäupt, nackt zu den Schiffen sende!« Thersites krümmte sich unter

       den Streichen des Helden, mit blutigen Striemen auf Schulter und Nacken, und lief dann tobend vor

       Schmerz und heulend vor Wut von dannen. Im Volk aber stieß ein Nachbar den andern lachend an

       und freute sich darüber, daß der ekelhafte Mensch die verdiente Strafe erhielt.

       Jetzt aber trat der Held Odysseus vor das Volk, neben ihn Pallas Athene, welche die Gestalt eines

       Herolds angenommen hatte und den Völkern Stillschweigen gebot. Er selbst hob seinen Fürstenstab

       in die Höhe, daß die Umstehenden aufmerkten, und sprach: »Sohn des Atreus! Wahrhaftig, so weit

       ist es gekommen, daß die Griechen dir Schmach bereiten und ihren Verheißungen ungetreu werden,

       sie, die versprochen haben, nicht eher von dannen zu ziehen, als bis sie Troja vertilgt hätten. Nun

       jammern sie wie Weiber und kleine Kinder nach der Heimkehr und klagen einander ihr Leid! Aber

       welche Schande wäre es für uns, nachdem wir so lange hier verweilt, leer heimzukehren! Darum, ihr

       Freunde, geduldet euch doch noch ein weniges; erinnert euch an das Zeichen, das uns vor unserer

       Abfahrt von Aulis zuteil wurde, als wir auf geweihten Altären, um jenen Sprudelquell her,

       Hekatomben unter dem schönen Ahornbaume opferten. Mir ist, als wäre es erst gestern geschehen!

       Ein gräßlicher Drache mit dunkelfarbigen Schuppen schlüpfte unter dem Altar hervor und fuhr

       schlängelnd an dem Ahornbaume hinauf. Dort hing ein Sperlingsnest mit nackten Jungen

       schwankend auf einem Aste: ihrer achte schmiegten sich in die Blätter, das neunte aber war die

       brütende Mutter der Vögel. Die umflog mit kläglichem Zwitschern die Kleinen, bis der Drache sein

       Haupt hindrehte und die Jammernde am Flügel erhaschte. Nachdem er die Mutter samt den Jungen

       verzehrt, verwandelte ihn Zeus, der den Drachen gesandt hatte, zum offenbaren Wunderzeichen in

       einen Stein; und ihr Achiver sahet es mit staunendem Grauen. Kalchas aber, der Seher, rief euch zu:

       ›Was stehet ihr verstummt, ihr Griechen? Wisset ihr nicht, daß dies Wunder eine Wahrsagung des

       Zeus ist? Die neun Sperlinge sind neun Jahre, die ihr um Troja kriegen werdet: im zehnten aber sollet

       ihr die prachtvolle Stadt erobern.‹ So weissagte damals Kalchas. Nun aber wird ja alles vollendet! Die

       neun Jahre des Kampfes sind vorüber, das zehnte Jahr ist erschienen, und der Sieg muß mit ihm

       kommen. So harret denn die kleine Weile miteinander noch aus, ihr Griechen! Bleibet, bis wir die

       Feste des Königes Priamos zerstört haben!«

       Ein Jubel der versammelten Argiver beantwortete die Rede des Odysseus; der weise Nestor benützte

       die umgewandelte Stimmung der Völker und riet dem Könige Agamemnon, sofort, wenn sich etwa

       noch einer unbändig nach der Heimkehr sehnte, einem solchen nicht zu verweigern, zu Schiffe zu

       gehen und von dannen zu fahren. Dann aber sollte er die Männer nach Stamm und Geschlecht

       absondern und kämpfen lassen: so würde er am sichersten erfahren, wer von Kriegern und Führern

       der Mutigere oder der Feigere sei und ob Göttergewalt oder Furcht oder mangelnde Kriegserfahrung

       die Eroberung Trojas verhindere. Erfreut antwortete auf diesen Vorschlag der Völkerfürst:

       »Fürwahr, Nestor, du, der Greis, übertriffst unsere Männer alle durch Einsicht. Hätte ich im Rate der

       Griechen noch zehn deinesgleichen, so sollte mir Trojas hochragende Burg bald zertrümmert in den

       Staub sinken! Ich selbst muß gestehen, daß ich unbesonnen gehandelt habe, mich mit Achill wegen

       des Mädchens zu entzweien. Zeus hatte mich damals mit Blindheit geschlagen. Versöhnen wir beide

       uns je wieder, so wird der Untergang Trojas nicht länger säumen! Doch nun wollen wir uns zum

       Angriffe rüsten; stärke sich jeder mit einem Mahl, bereite Schild und Lanze, füttre und tränke seine

       Rosse, besichtige den Streitwagen und gedenke der Schlacht, die bis zum Abend dauern wird. Bleibt

       mir einer absichtlich bei den Schiffen zurück, dessen Leib soll den Hunden und Vögeln nicht

       entgehen!«

       Als Agamemnon ausgeredet, schrien die Danaer laut auf, daß es tönte wie die Meerflut, wenn sie sich

       beim Südwind am hohen Felsenstrande bricht. Das Volk sprang auf, jeder eilte zu seinen Schiffen,

       und bald sah man den Rauch des Frühstücks aus den Lagerhütten dampfen. Agamemnon selbst

       opferte dem Zeus einen Stier und lud die edelsten Achiver zum Mahle ein. Als dies vorüber war,

       gebot er den Herolden, die Griechen zur Schlacht zu rufen; und bald stürzten die Haufen, Scharen

       von Kranichen oder Schwänen gleich, die am Flußufer hinflattern, auf die Skamandrische Wiese. Die

       Führer, an ihrer Spitze der Atride, ordneten die Reihen. Herrlich war der Fürst der Fürsten

       Agamemnon anzuschauen, an Augen und Haupt dem Göttervater gleich, an breiter Brust dem

       Poseidon und gerüstet wie der streitbare Kriegsgott selbst.

       Paris und Menelaos

       Das Heer, auf Nestors Rat nach Volksstämmen geordnet, stand in Schlachtordnung, als man endlich

       den Staub der aus ihren Mauern heranziehenden Trojaner gewahr wurde. Nun setzten sich auch die

       Griechen in Bewegung. Als beide Heere einander nahe genug waren, daß der Kampf beginnen

       konnte, schritt aus der Reihe der Trojaner der Königssohn Paris vor, in ein buntes Pantherfell

       gekleidet, den Bogen um die Schultern gehängt, sein Schwert an der Seite, und indem er zwo spitze

       Lanzen schwenkte, forderte er den tapfersten aller Griechen heraus, mit ihm den Zweikampf zu

       wagen. Als diesen Menelaos aus den sich heranwälzenden Scharen hervorspringen sah, freute er sich

       wie ein hungriger Löwe, dem eine ansehnliche Beute, ein Gemsbock oder ein Hirsch in den Weg

       kommt, und schnell sprang er in voller Rüstung von seinem Wagen zur Erde herab, den frevelhaften

       Dieb seines Hauses zu bestrafen. Dem Paris graute beim Anblick eines solchen Gegners, und er

       entzog