Manuel Charisius

Weltenlied


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Reis kommt nicht einfach so angeflogen, falls du das denkst. Er muss gesät, bewässert, entwässert, geerntet, gedroschen, gewaschen und gezuckert werden. Das dauert Monate. Familien wie unsere verdienen damit ihren Lebensunterhalt, und das über Generationen hinweg.«

      Léun war verunsichert.

      »Was sind Generationen?«

      »Er wird in Säcke abgefüllt und ins ganze Umland verfrachtet«, fuhr Arrecs Vater fort. »Das besorgen Leute wie ich. Reiche Leute. Die Bauern geben mir ihren wertvollen Reis ja nicht für gute Worte mit auf den Weg. Und dann muss er weiterverkauft werden, schließlich will auch ich nicht am Bettelstab enden.«

      »Oder als Hungerleider«, ergänzte Arrec mit gezwungenem Lachen. Er deutete in Richtung Speisekammer. Hinter der halb angelehnten Tür sah Léun mehr aufgestapelte Reissäcke, als er auf Anhieb zählen konnte.

      »Wer es als Reishändler zu etwas bringen will, braucht Geschick und körperliche Ausdauer. Das Geschäft ist hart! Viele brave Leute – wie zum Beispiel Lóhan aus Grünhag – wollen pünktlich beliefert werden, bevor die Ware verdirbt oder von Motten befallen wird. Dank Hunderter von Fleißigen, in deren Kette ich nur das letzte Glied bin, landet der Reis endlich auf deinem Mittagstisch.« Mit beiden Händen, als enthielte sie das Wasser des Lebens, stellte Erric die Schale langsam wieder ab.

      Léun war der Appetit vergangen. Er ließ den Löffel sinken.

      »Andere arbeiten doch auch«, sagte er, während Arrec weiter Reisbrei löffelte und abwechselnd seinem Vater und ihm ratlose Blicke zuwarf. »Die Talwarte haben eigentlich immer zu tun. Genau wie die Jäger. Héranon, der Waldhüter, muss neue Pfade anlegen und alte freihalten und die wilde Sau erlegen. Drüben in Waldhag wohnt der Tischler Gáret. Ständig kommen Leute zu ihm, denen er irgendwas reparieren soll. Ich weiß das, weil er ein Vetter meines Großvaters ist, der übrigens nicht zu den armen Leuten gehört, weil …«

      »Und was hat dein Großvater schon davon?«, fiel ihm Erric ins Wort. »Die Frau ist ihm vor Zeiten weggelaufen, der Sohn war ein Träumer und Tagedieb. Jetzt bleibt ihm nur sein Enkel – ein Taugenichts mehr, den er noch nicht einmal satt bekommt.«

      Ein paar Herzschläge lang herrschte Stille. Dann regte sich etwas in Léun.

      Láhen, dieser Nichtsnutz!

      Ein Träumer und Tagedieb!

      Du bist ein Taugenichts, genau wie er!

      Er sprang auf. Die Zorneswelle war so heiß, dass jeder Funken von Dankbarkeit und Höflichkeit schlagartig davon verzehrt wurde. Ein Gefühl plötzlicher Auflösung überkam ihn, viel stärker und unaufhaltsamer als in der Nacht vor Grantis Grundstück. Die Angst war von unsäglicher Pein. Léun glaubte das Hütteninnere wabern und verschwimmen zu sehen, während sein Körper von einem Sog erfasst und aus der Form geschleudert wurde.

      Bis alles um ihn herum urplötzlich wieder klare, deutliche Kontur annahm.

      Das war eindeutig der Holzboden von Errics Hütte, den er da unter seinen Sohlen spürte. Und doch war alles anders. Er strotzte vor unbändiger Kraft und feurigem Zorn. Es fühlte sich großartig an.

      Mein Vater war kein Nichtsnutz!, brüllte er – und sprang. Wie ein goldener Blitz schoss er auf Erric zu.

      Er hatte seine Sprungkraft unterschätzt. Sein Stuhl wurde durch die Hütte gewirbelt und zerbrach an der gegenüberliegenden Wand. Der Tisch kippte zur Seite, Löffel und Besteck flogen umher, Reisbrei spritzte in alle Richtungen. Léun erwischte Erric bei den Schultern, warf ihn rücklings um, war über ihm, blickte ihm in die entsetzten Augen, wollte ihm die Beleidigungen heimzahlen …

      Er öffnete den Rachen.

      Nein!, schrie jemand wie aus weiter Ferne.

      Etwas Hartes traf ihn am Kopf, es verwirrte ihn. Er ließ von Erric ab und wandte sich um.

      Lass meinen Vater in Ruhe, du Ungeheuer!, schrie Arrec mit sich überschlagender Stimme und holte aus, um die nächste Schale nach ihm zu werfen.

      Mit einem Satz sprang Léun zur Seite und eilte auf seinen Freund zu.

      Spinnst du?, brüllte er. Ich bin’s doch!

      Arrec war an die Hüttenwand zurückgewichen. Er kniff die Augen zusammen und keuchte verängstigt, als Léun sich ihm bis auf Armeslänge näherte. Schweißperlen traten ihm auf Stirn, Wangen und Oberkörper. Léun konnte es sehen und riechen. Er konnte hören, wie jeder Herzschlag seines Freundes dessen Todesangst vervielfachte. Abwehrend hob Arrec eine Hand, sein Unterkiefer bewegte sich wie vor Schmerzen.

      Was soll das?, knurrte Léun.

      Arrec stieß einen leisen Schrei aus.

      Ein klappendes Geräusch.

      Léun spürte die Anwesenheit eines dritten menschlichen Wesens.

      Káor!, donnerte eine tiefe Männerstimme. Káor ý bóhin!

      Léun stutzte. Er wandte den Kopf.

      Zeig ihm keine Furcht, befahl sich der Waldhüter in Gedanken. Bloß keine Furcht zeigen.

      Breitbeinig und mit geballten Fäusten stand er im Eingang, die Augen weit aufgerissen, die Zähne drohend entblößt. Gegen das Licht, das von außen in die Hütte fiel, wirkte seine Erscheinung hoffentlich furchteinflößend. Natürlich roch die Raubkatze seine Angst, das wusste er. Hauptsache, er lenkte sie von dem Jungen und seinem Vater ab. Letzterer kauerte mittlerweile wimmernd in einer Ecke.

      Bei allen Göttern, dachte Héranon, was für ein prächtiges Tier.

      Káor – es konnte nur Káor sein – hatte kurzes, seidiges Fell und eine herrlich ausladende, goldene Mähne. Zum Bauch hin wurde sie dunkler, um im selben Schwarzbraun auszulaufen, das quastenartig seine Schwanzspitze zierte. Das Gesicht des Löwen war breit, die Nase dreieckig wie bei allen Katzen. Fingerlange Reißzähne ragten aus den halbgeschlossenen Lefzen hervor. Mit einem einzigen Biss seiner massigen Kiefer könnte Káor mühelos Héranons Oberschenkel zermalmen.

      Jetzt zog er sich unbeholfen in den Schatten der offenstehenden Tür zurück. Vielleicht blendete ihn das Licht. Umso besser, dachte der Waldhüter, schließlich brauchten die Leute, die draußen schon zusammenliefen, den Löwen nicht unbedingt zu sehen. Das war die Gelegenheit, um den Jungen und seinen Vater aus ihrer misslichen Lage zu befreien.

      »Raus«, sagte Héranon leise.

      Die beiden rührten sich nicht. Der beruhigende Tonfall stand wohl in zu großem Widerspruch zu seinem Befehl.

      »Raus aus der Hütte«, wiederholte er in unveränderter Stimmlage. »Geht zügig an mir vorbei. Los!«

      Der Junge war weniger begriffsstutzig als sein Vater. Er rückte von der Wand ab, fuhr sich durch das strähnige Haar und näherte sich dem Reishändler.

      Der Löwe merkte es, nahm ihn mit dem Blick ins Visier, kräuselte den Nasenrücken und fauchte halb verunsichert, halb angriffslustig.

      »Káor ý bóhin!«, brüllte Héranon.

      Das half. Der Löwe senkte das Hinterteil ab und blieb, auf die Vordertatzen gestützt, sitzen. Mit der Zunge säuberte er sich die Nase und starrte den Waldhüter an wie ein Hund, der sich von seinem Herrn eine Leckerei erhoffte.

      Langsam und mit einem letzten ängstlichen Blick auf Káor schlurfte der schwarzhaarige Junge auf seinen Vater zu, der unverständliche Laute winselte. Er nahm ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her auf den Eingang zu.

      Kaum waren die beiden an Héranon vorbei nach draußen getreten, schloss er die Tür, ohne dem Löwen den Rücken zuzukehren.

      »Wie ich es mir dachte«, raunte er. »Káor hat dich erwählt. Respekt, Kerl – was hätte ich darum gegeben, an deiner Stelle zu sein. Nicht dass ich mich beklagen will …«

      Der Löwe hörte auf, sich die Nase zu schlecken, und schloss die Augen halb.

      Héranon