Manuel Charisius

Weltenlied


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zu heißen und alles andere zu vergessen: Das schien ihm die einzig wirkungsvolle Reaktion zu sein, um den Herumtreiber einsichtig zu stimmen. Vielleicht würde er so von selbst erzählen, wo er untergeschlüpft war. Und wo er seine Kleider gelassen hatte.

      Das hatte Lóhan zumindest gehofft.

      Dass Léun auf den sanften Tadel hin doch aus der Haut gefahren war, stimmte ihn ratlos und traurig. Was trieb den Jungen nur um?

      Lóhan erhob sich halb und spähte zwischen den Gardinen in den Garten hinaus. Dort tauchte sein Enkel gerade auf, den Spaten auf der Schulter. Er rammte ihn in den Boden und kehrte der Hütte den Rücken. Mit einer energischen Bewegung faltete er die Decke auf, wand sie sich eng um die Hüften und verknotete sie an der Seite – fast wie ein Mann aus dem fernen Land der Steppe einen Saróŋ, das traditionelle Beinkleid der Steppenläufer.

      Offenbar hatte er vor, halbnackt und ohne Frühstück im Bauch das Beet umzugraben. Dabei hatten sie sich erst im Frühjahr darauf geeinigt, den Vorgarten von Wildblumen und Gräsern zuwuchern zu lassen. Noch dazu musste die Erde vom Regen schwer und lehmig sein.

      Lóhan beobachtete, wie sein Enkel den Spaten ansetzte, einen Fuß auf die Kante stellte, sein Körpergewicht verlagerte und das Werkzeug mit grimmigem Einsatz in den Boden hineintrieb. Er stemmte die erste Scholle heraus, warf sie herum und setzte den Spaten erneut an.

      Was bei Tióran, dem Gott der Vernunft, mochte in diesem blondmähnigen Schädel nur vorgehen? Seit jeher hatte Léun seinen eigenen Kopf. Darin glich er seinem Vater. In jüngster Zeit aber war er noch um einiges eigenwilliger geworden – was vielleicht auch seiner wachsenden Reife zuzuschreiben war. Andererseits ließ sich damit auch nicht alles entschuldigen.

      Lóhan seufzte und setzte sich wieder bequem hin. Allein, wie er war, begann er sich dem Frühstück zu widmen.

      Léun stützte sich auf den Spatenstiel. Er war erschöpft und völlig nassgeschwitzt. Das ganze Beet hatte er umgeschaufelt. Natürlich tat es ihm leid um den bunten Klee, die knospenden Wegwarten, Korn- und Ringelblumen und Fuchsschwanzgräser. Aber wenigstens hatte er mit all den Blüten auch diese unsäglichen Fußabdrücke untergepflügt. Zufrieden klopfte er sich nicht vorhandenen Staub von den Handflächen und packte den Spaten, um ihn an seinen Platz zu räumen.

      »Schöner Garten«, sagte jemand hinter ihm.

      Überrascht wandte er sich um.

      Am Rand des Grundstücks standen drei Männer. Einer steckte in Stiefeln und grüner Jägerkleidung, der nächste war an der Uniform und der schwarzroten Mütze als Talwart zu erkennen. Die Stimme gehörte dem dritten: Héranon.

      »Äh, Morgen …« Flüchtig blickte Léun an sich hinab. Hoffentlich wirkte er nicht irgendwie verdächtig.

      Die Talwartschaft sorgte in Grüntal für Ordnung, doch gerade unter den jüngeren Bewohnern war sie unbeliebt und gefürchtet. Selbst harmlose Gaunereien wurden drakonisch bestraft. Stán zum Beispiel hatte neulich ohne Erlaubnis im Mittleren See geangelt und war von einer Viererpatrouille erwischt worden. Noch an Ort und Stelle hatten sie ihn, je zwei an einem Bein, kopfüber ins Wasser gehalten und bis zur Bewusstlosigkeit scheinertränkt.

      »Guten Morgen, Kerl.« Héranon sandte ihm ein wölfisches Lächeln. »Na, hast du einen Schatz gefunden?«

      »Ich, äh … nein«, stotterte Léun verwirrt. »Nur das Beet umgegraben.«

      »Musste ja unbedingt heute sein«, brummte der Jäger. »Tja, Waldhüter, da ist nichts mehr zu machen, oder wie siehst du das?«

      Anstatt einer Antwort presste sich Héranon die Faust ans Kinn. Er ließ den Blick über die frisch aufgehäuften Erdschollen schweifen.

      »Jedenfalls hat da einer verdammt gute Arbeit geleistet …« Er zwinkerte Léun zu. »Sag mal, Kerl, ist dir was Ungewöhnliches aufgefallen, bevor du hier geackert hast? Spuren, zum Beispiel?«

      Léun tat so, als müsste er überlegen. Er zuckte die Achseln.

      »Hab nichts gesehen.«

      Der Talwart rückte seine Mütze zurecht und schüttelte gleichzeitig entnervt den Kopf.

      »Entweder bist du blinder als ein Maulwurf, Bursche«, meinte der Jäger, »oder blöd wie ein Stück Käse. Streng dein Hirn an! Bist du sicher, dass da nichts war?«

      Léun verschluckte sich, hustete und nickte.

      »Ich seh mich mal in der Nähe um.« Grüßend streckte der Jäger die rechte Handfläche nach außen und legte die Fingerspitzen an die Stirn. »Vielleicht hat das Vieh ja die Richtung gewechselt.« Er stiefelte in Richtung Dorfstraße davon.

      »Was ist denn los, Waldhüter?«, wagte Léun möglichst unbefangen zu fragen.

      »Das erzähl ich dir gleich. Muss sowieso kurz deinen Großvater sprechen. Ist er da?«

      Léun nickte wieder.

      »Ich werde überprüfen, ob Sárim in der Zwischenzeit was gefunden hat«, wandte sich der Talwart an Héranon.

      »Wir treffen uns am Nordende der Straße«, gab der Waldhüter zurück. Der Talwart nickte ihm zu und ließ ihn mit Léun allein.

      »Lass uns reingehen, Kerl.«

      Auf halbem Weg zur Hütte öffnete sich die Tür. Mit gerunzelter Stirn empfing Lóhan den unerwarteten Besuch.

      »Sieh an, Héranon«, sagte er. »Es ist eine Weile her, dass du hier warst.«

      »Ich störe nicht lange. Vielleicht können wir diese Sache rasch klären. Das kommt ein bisschen auf deinen Enkel an.«

      Mit Unbehagen spürte Léun, wie sich eine schwere Waldhüterpranke auf seine Schulter legte. Er ließ sich in die Hütte bugsieren. Héranon schloss die Tür.

      »In der Nähe des Mittleren Sees wohnt eine alte Frau«, begann der Waldhüter, kaum dass sie sich an den unabgeräumten Tisch gesetzt hatten. »Granti heißt sie. Heute Morgen hat sie ein Mordsgeschrei veranstaltet.«

      »Bitte, Héranon, verschone mich mit dem üblichen Dorfklatsch.«

      »Ihre Hunde sind nämlich tot – zerfleischt«, fuhr der Waldhüter fort. »Es muss irgendwann in den frühen Morgenstunden passiert sein. Ungefähr zur selben Zeit, als du auf dem Heimweg warst.« Er blickte Léun prüfend an. »Keine Ursache übrigens wegen der Übernachtung.«

      Léun grinste verlegen und schämte sich dafür, einfach abgehauen zu sein.

      »Danke, dass du ihm Zuflucht gewährt hast«, sagte sein Großvater spröde. »Ich hatte ihn vor dem Sturm gewarnt, aber welcher Junge in seinem Alter schert sich schon um gute Ratschläge?«

      »Wie sollte er auch sonst erwachsen werden?«, entgegnete Héranon. »Aber zurück zu Grantis Hunden. Der Talwart ließ Sárim und mich rufen, nachdem er die Spur eines großen Tieres entdeckt hatte. Eines Löwen, um genau zu sein. Vorsichtshalber haben wir ihm das erst einmal verschwiegen.«

      »Er würde euch auch auslachen«, urteilte Lóhan mit einer endgültigen, abweisenden Handbewegung. »Seit zehn Jahren hat es in den ganzen Rockenbergen keine Löwen mehr gegeben.«

      »Auslachen? Mich?« Der Tonfall des Waldhüters wurde schroff: »Erstens hast du keinen Vertreter der Dorfjugend vor dir, zweitens versteh ich vom Spurenlesen mehr als du!«

      Léun wandte den Blick zu seinem Großvater, doch dieser verzog nur leicht brüskiert die Mundwinkel.

      »Tatsache ist, dass die Spur von Grantis Zaun aus durchgängig bis nach Grünhag zu verfolgen ist«, sagte Héranon. »Bis zu eurem frisch umgegrabenen Beet. Tatsache ist auch, dass dein Enkel gestern bei der Löwenquelle war. Dort hat er wie durch Zauberei seine Kleider verloren.« Er musterte Léun. »Scheint übrigens, als hättest du grundsätzlich was gegen ordinären Anziehkram, Kerl.«

      Léun wollte widersprechen, schließlich ging die Sache mit der Löwenquelle seinen Großvater nichts an. Doch er kam nicht zu Wort.

      »Sárim