alte Sachen zum Anziehen.
Während Léun blindlings durch Wald und Unwetter hechtete, kam er sich unbeschreiblich schutzlos und verletzbar vor. Die Bewohner des Grünwalds waren entweder auf der Flucht oder hatten sich tief in ihre Höhlen verkrochen. Er fühlte sich wie ein Tier unter Tieren, nackt und voller Furcht – hoffentlich hatte ihn nicht längst irgendein Wind und Wetter trotzender Räuber zur Beute auserkoren. Wenn er es sich recht überlegte, schien sein Alptraum jetzt erst gnadenlose Wirklichkeit geworden zu sein.
Die Lage der beiden Waldpfade hatte er ungefähr im Kopf; Héranons Behausung befand sich einige Meilen nordöstlich der Löwenquelle. Léun folgte dem Hügelkamm nach Norden und bog irgendwann auf gut Glück in Richtung Grüntal ab. Als er glaubte, weit genug gelaufen zu sein, wandte er sich nach rechts, den Hang hinunter. Hoffentlich verpasste er die Hütte nicht. Mittlerweile war der Waldboden vom Regen so durchweicht, dass er mit jedem Schritt fast bis zu den Knöcheln in matschiges Laub und ekelhaft weiche Erde einsank. Noch dazu holte er sich im dicht wuchernden Strauch- und Nadelgehölz neue blutige Schrammen an Schultern, Armen und Schenkeln.
Nach etwa drei Steinwürfen stieß er auf eine kleine Lichtung. Léun hielt an und verschnaufte. Hier war der Wind schon weniger spürbar, dafür schaukelten die Baumkronen über ihm bedrohlich hin und her. Seine triefnassen Haare klebten ihm an Stirn und Schläfen, und der ständige kalte Regen ließ ihn trotz des anstrengenden Laufs mittlerweile erbärmlich frieren. Flüchtig überlegte er, ob er sich nicht einfach im Unterholz verkriechen und dort besseres Wetter abwarten sollte.
Auf der anderen Seite brach etwas krachend durchs Geäst. Léun fuhr herum.
Ein Wildschwein.
Als das Tier ihn bemerkte, stieß es ein erschrockenes Quieken aus, schlug einen jähen Haken und verschwand raschelnd im Tannengehölz. Léun beeilte sich, ihm das Revier nicht länger streitig zu machen, und rannte in entgegengesetzter Richtung los.
Das war sein Glück. Kaum fünfzig Schritte weiter stieß er auf einen Pfad, der, den zahlreichen Trittspuren nach zu urteilen, regelmäßig benutzt wurde. Léun folgte ihm für weitere hundert Schritte. Nacheinander kam er an einer grob gezimmerten leeren Futterkrippe, einem Holzblock mit Hackspuren und einer auf einem Holzgestell montierten Zisterne vorbei.
Und endlich sah Léun die Hütte.
Er wollte schon aufatmen, da krachte ein Donnerschlag hernieder, der ihm durch Mark und Bein ging. Er beschleunigte seine Schritte, rannte wie um sein Leben und blieb erst stehen, als er die dicke Bohlentür erreicht hatte. Mit beiden Fäusten hämmerte er dagegen.
»Mach auf, Waldhüter!«
Abrupt wurde die Tür aufgerissen.
Léun ließ die Hände gerade noch rechtzeitig sinken. Notdürftig seine Blöße bedeckend, trat er von einem Fuß auf den anderen. Er schlotterte vor Kälte.
»Wer bei allen Göttern …«, rief Héranon über das Getöse des Sturms hinweg. »Léun aus Grünhag? Was führt dich her? Mach schon, komm rein, Kerl! Oder willst du da draußen Wurzeln schlagen?«
Im Haus des Waldhüters war es warm und gemütlich. Auf dem Herd in der Ecke brodelte ein Kessel Suppe vor sich hin. Der Tisch im linken Bereich der Wohnstube war gedeckt; ein Laib Brot, ein gefüllter Krug und ein paar tönerne Becher standen bereit.
Von der Galerie, die über eine steile Holztreppe zu erreichen war, hingen Decken und Wäschestücke herab. Quer durch den Raum spannte sich eine Leine, an der getrocknete Kräuter und Blumen, verschrumpelte Pilze und ein Dachsfell befestigt waren. An der Wand neben der Tür stand ein Regal mit grobem Geschirr. Den rechten Teil des Raums nahmen ein erhöhtes, fellbehangenes Lager und eine hölzerne Truhe ein. Darüber an der Wand hingen eine Trommel, ein Wanderstock, ein Hirschgeweih und eine Art Pergament mit wilden Kritzeleien.
Héranon selbst war ein breitschultriger Mann, stark wie ein Bär, mit blauen Augen, Stoppelbart und von der Arbeit schwieligen Pranken. Er steckte in einem ärmellosen Lederhemd, knielangen Arbeitshosen und sandalenartigen Hausschuhen, außerdem hatte er eine kalte Pfeife im Mundwinkel. Seine dunklen Haare waren kurzgeschoren, das wettergegerbte Gesicht kantig, aber nicht unfreundlich. Léun war nicht gut im Schätzen, aber so alt wie sein Vater mochte der Waldhüter mindestens sein.
»Hier.« Héranon zerrte eine Wolldecke von der Galerie und legte sie ihm um die Schultern. »Wärm dich erst mal auf, Kerl. Du siehst aus, als könntest du was Kräftiges zu essen vertragen, stimmt’s?«
Léun nickte und mummelte sich in die Decke.
»Setz dich, du bist gerade pünktlich.«
Dankbar nahm er am Tisch Platz. Héranon holte eine weitere Suppenschale und einen Löffel aus dem Regal. Er ging zum Herd hinüber und schöpfte aus dem Topf Suppe in beide Schalen. Als er fertig war, setzte er sich Léun gegenüber und schwang einladend den Löffel.
»Hau rein. Ist nichts Besonderes, macht aber satt.«
Unbeholfen griff Léun nach dem Löffel. Die Suppe war dick und so heiß, dass er sich gleich beim ersten Schluck die Zunge verbrannte. Außerdem war sie versalzen. Dafür schmeckten die darin schwimmenden Fleisch- und Gemüsebrocken ausgezeichnet. Es tat ungeheuer gut, sich den seit dem Morgen leeren Magen zu füllen. Er spürte, wie er wieder zu Kräften kam. Gierig vertilgte er auch die zweite Portion und stopfte dazu Brot in sich hinein.
»So«, sagte Héranon, als sie fertig waren, und füllte ihm einen Becher aus dem bereitstehenden Krug. »Jetzt erzähl, was dir zugestoßen ist.«
Léun nahm einen Schluck, um Zeit zu gewinnen. Honigwein, lauwarm und süß – sein Großvater hatte ihn einmal in der Dorfschenke von Mittelhag an der Leckerei schnuppern lassen. Fieberhaft überlegte er sich eine glaubwürdige Antwort.
»Hab mich im Wald verirrt«, murmelte er schließlich.
»Ach.« Der Waldhüter grinste. »Hätte ich nicht gedacht.«
Léun zog es vor zu schweigen. Säuerlich beäugte er die Kratzer an seinem rechten Unterarm.
»Vom letzten Drachenkampf?«, meinte sein Gastgeber augenzwinkernd. »Oder hat dich unterwegs ein Löwe angefallen?«
Er zuckte zusammen und hätte sich beinahe übel an seinem Honigwein verschluckt.
»Nicht direkt«, druckste er herum. »Grantis Hofhunde.« Er hustete verstohlen.
Héranon wurde ernst.
»Haben sie dich gebissen?«
Statt einer Antwort schob Léun seinen Stuhl zurück und streckte missmutig ein Bein unter der Decke hervor.
»Ziemliche Schrammen …« Héranon erhob sich. »Ich koche dir erst mal einen Kräutersud gegen Wundfieber. Und zur Sicherheit noch einen zum Trinken.«
»Brauch ich nicht«, winkte Léun ab. »Ist doch halb so wild!«
»Nichts da, Kerl. Nachher entzündet sich was. Du liegst mit Krämpfen auf der Nase und redest wirres Zeug. Was glaubst du, wie mir Lóhan da die Hölle heiß machen würde. Also sorg ich lieber gleich dafür, dass sein Lieblingsenkel schön gesund bleibt.«
Léun musste grinsen und griff nach seinem Becher. Der Waldhüter war schneller.
»Erst der Kräutersud, klar?«
Léun verkniff sich allzu deutlichen Protest. Er beobachtete, wie Héranon mit zügigen Bewegungen die Suppe zum Abkühlen auf ein Gestell hängte und einen weiteren Topf auf den Herd stellte. Während das Wasser zu sieden begann, pflückte der Waldhüter scheinbar völlig willkürlich Blüten und Kräuter von der Trockenleine herunter und warf sie in den Topf. Kurz darauf nahm er das Gebräu vom Feuer und tunkte summend eine Art Schwamm hinein – vielleicht war es auch ein Baumpilz, wer konnte das wissen. Schließlich kniete er sich neben Léun hin.
»Das wird jetzt wehtun«, sagte er zur Warnung. »Versuch stillzuhalten!«
Mit unsanftem Druck tupfte Héranon ihm die Wunden ab. Léun unterdrückte ein Ächzen,