Norbert Wibben

Raban und Röiven Der Feuervogel


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      Etwa zwei Wochen zuvor: Dunkle Qualmwolken steigen quirlend in den strahlend blauen Himmel hinauf. Der beißende Geruch verdeckt zwar zum Großteil die seltsamen, süßlichen Spuren eines anderen Duftes, jedoch nicht komplett. Einige Raubtiere werden davon magisch angezogen. Gibt es hier etwas zu Fressen für sie? Sie halten zögernd Abstand zu den an einigen Stellen noch brennenden Resten des zusammengefallenen großen Gebäudes. Sie huschen aufgeregt hin und her, wobei sie sich gegenseitig mit gefletschten Zähnen anknurren. Sie sträuben dabei drohend ihr getüpfeltes Fell und halten die Ohren angelegt. Ein besonders mutiges Tier setzt eine Pfote auf einen schwarzen Balken, um näher an die verlockend riechende Quelle in diesem Wirrwarr zu gelangen. Aufjaulend zieht es sich sofort wieder zurück. Noch ist die Hitze des verkohlten Holzes zu groß.

      Plötzlich sind menschliche Stimmen und Hufgetrappel zu vernehmen, die schnell näher kommen. Die Tiere zögern. Sollen sie sich die Nahrung entgehen lassen, oder können sie es mit den Ankommenden aufnehmen? Sie drehen sich in die Richtung, aus der die Geräusche erschallen. Jetzt erscheint ein hochgewachsener Reiter auf einem der hier verwendeten, extrem widerstandsfähigen und edlen Pferde im vorsichtigen Schritt auf dem Pfad zwischen den Büschen. Abrupt zügelt er sein Tier, als er das Geschehen auf dem weiten Platz erblickt.

      »Kommt hierher«, ruft er, sich kurz zurückwendend, »und macht ordentlich Radau, denn die ersten Raubtiere stehen bereit und hoffen auf Aas.« Der Jüngling wendet sein Reittier zur Seite und überzeugt sich mit einem schnellen Blick zu den Überresten der Gebäude, dass von Menschen keine Gefahr droht. Er behält die drohend grollenden Raubtiere im Blick, während er sich aus dem Sattel schwingt. Er steht kaum auf dem Boden, da macht er einen schnellen Schritt auf die ihn starr anblickenden Tiere zu und klatscht mehrmals in die Hände. Blendend helle Blitze leuchten dadurch auf und fliegen in Richtung der abwartenden Bestien. Die zusätzlich entstehenden, scharfen Knallgeräusche lassen sie zusammenzucken. Als jetzt drohende Rufe und Pferdegetrappel ganz nah erklingen, die die Ankunft weiterer Menschen verkünden, hält die Räuber nichts mehr an diesem Ort. Sie flüchten knurrend in verschiedene Richtungen.

      Der blonde Mann mit den langen Haaren ist ein Sucher, der seine Begleiter, die jetzt ebenfalls zwischen den Büschen hervor geritten kommen, zu diesem Ort geführt hat. Seine blauen Augen leuchten hell, während er die anderen selbstbewusst anschaut. Es sind fünf wild aussehende Männer und eine genauso martialisch wirkende Frau. Die Haare der Männer sind ebenso lang wie die des Jünglings, aber schwarz, und sie werden durch graue Bänder eng an ihre Köpfe fixiert. Die etwas längeren Haare der Frau reichen bis auf den Rücken, sind mittelblond und werden von einem dunkelroten Haarband gehalten. Eine leuchtend rote Haarsträhne ist auf ihrer linken Seite zu sehen. Gekleidet sind sie in graue Hosen und Hemden. Auf dem Kragen der Frau sticht wiederum etwas Rotes ins Auge. Es ist ein verschnörkeltes Symbol, das sie trotz ihres noch geringen Alters als eine der oberen Jäger der Darkwings ausweist. Die sechs steigen schwungvoll von ihren Tieren und binden sie an den Büschen fest, von denen diese sofort die grünen Blätter naschen. Die Neuankömmlinge treten zu dem Jüngling.

      Der Sucher hat auch lange Haare, die aber von keinem Stirnband gebändigt werden, sie fallen in leichten Locken bis auf seine Schultern. Seine Bekleidung besteht aus einer Hose und einem Hemd, die aus weichem, dunkelgrün gefärbtem Leder gefertigt sind. Auf seinem linken Hemdkragen ist ein goldenes Symbol in Form einer Feder zu sehen, auf dem rechten eine Flamme. Bewaffnet ist er, im Gegensatz zu den anderen, die mit Pfeil und Bogen sowie schmalen Kurzschwertern ausgestattet sind, nur mit einem Messer an seinem Gürtel.

      »Also ist es wahr«, beginnt er, auf die Überreste des Anwesens deutend, »hier wurde eine ganze Familie ausgelöscht.« Seine Worte klingen bestimmt, seine Stimme ist dabei leise, aber nicht unterwürfig. Er ist ein freier, selbstbewusster Mann, der seine Fähigkeiten den Darkwings hin und wieder zur Verfügung stellt, wenn er von dem Sinn der Aufgabe überzeugt ist.

      »Das ist nicht gesagt«, widerspricht die Frau, deren herrische Stimme ihre Position in der höheren Gesellschaftsschicht ihres Volkes unterstreicht. Sie weiß nicht warum, aber die selbstsichere Art des Suchers reizt sie. »Vielleicht konnten einer oder mehrere von ihnen fliehen und sich verstecken, bevor die Gebäude in Flammen aufgingen.«

      »Du hast natürlich Recht. Wir müssen auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Da es hier aber nicht nur nach Qualm, sondern auch nach Blut riecht, dass die Raubtiere angelockt hat, werden wir Leichen finden. Da das Blut trotz des Qualmes überhaupt zu riechen ist, deutet das auf mehrere Tote hin.«

      »Das kann auch von den Tieren herrühren, die im Stall standen. Wir sollten jetzt aber nicht länger diskutieren. Vielleicht gibt es Verletzte, die unsere Hilfe benötigen.«

      Der Sucher nickt zustimmend und alle schwärmen aus, um nach Überlebenden zu suchen.

      Nach mehreren Stunden finden sie die erste Vermutung des blonden Jünglings bestätigt. Sie entdecken zwar die Überreste toter Tiere, aber auch fünf menschliche Leichen, jedoch keine Hinweise auf Überlebende. Obwohl die Toten verbrannt werden sollten, sind an ihnen noch die Spuren von Folterungen zu erkennen, mit denen sie vor ihrem Tod gequält wurden. Zwischen den rauchenden Trümmern finden sie Hinweise darauf, dass offensichtlich etwas gesucht wurde. Selbst in den Resten des Stallgebäudes ist der Boden aufgegraben worden. Ob der oder diejenigen, die das getan haben, fündig geworden sind, ist leider nicht zu erkennen.

      Die sieben Menschen bestatten die Toten und stärken sich dann mit Wasser und trockenem Brot. Der blonde, junge Mann schließt seine Augen und konzentriert sich. Seine Lippen murmeln unverständliche Worte. Als er eine Art Traumbild sieht, hat er die gesuchte Spur. Er stößt einen zufriedenen Laut aus und deutet auf den Pfad, auf dem sie hierhergekommen sind.

      Wehe den Übeltätern, wenn sie gefasst werden. Auf die von ihnen verübten Verbrechen steht die Todesstrafe! Und der Jüngling ist sich sicher, er wird sie finden! Ihm konnte noch kein Gegner entkommen, wenn er sich einmal auf dessen Spur gesetzt hatte. Also werden die Verbrecher vergeblich von hier fortgezogen sein, um ihre Beute zu genießen.

      Obwohl der Abend hereinbricht, macht sich die Gruppe mit neuer Energie an die Verfolgung. Sie binden ihre ausgeruhten Pferde los und sitzen auf. Der Sucher murmelt mit geschlossenen Augen eine Beschwörung und setzt sein Tier mit einem leisen Ruf in leichten Trab. Er lenkt es lediglich mit Schenkeldruck in die gewünschte Richtung und übernimmt erneut die Spitze. Ihm folgen die Anführerin und die anderen in jeweils kurzem Abstand.

      Raban schüttelt nach kurzer Zeit den Kopf. Er bekommt keine gedankliche Verbindung zu Ilea. Ob es daran liegt, dass sie selbst versucht, diese herzustellen oder ob sie vielleicht …

      »Ich muss sofort nach Ilea schauen«, beginnt er aufgeregt, »es könnte ihr etwas passiert sein. Ich bekomme jedenfalls keinen Kontakt. Ich bin gleich wieder …« Schon flirrt die Luft und Röiven schaut erstaunt auf den leeren Platz neben sich.

      »Das ist ja … Warum nimmt er mich nicht mit? Wir sind doch immer als Team unterwegs.« Der schwarze Vogel überlegt kurz, ob er die letzten Schokoladenbrocken wirklich liegen lassen kann, dann flirrt auch schon die Luft.

      Der Kolkrabe hat sich in der Eile, seinem Freund schnell zu folgen, etwas verschätzt. Er saß eben noch auf der Wiese unter der Linde, jetzt fällt er vom Himmel über dem Haus im Weidenweg. Er schlägt aufgeregt mit den Flügeln und fängt damit seinen Sturz ab. Röiven blickt suchend um sich.

      »Raban, wo steckst du?« Keine Antwort. »Los, antworte schon. Ist etwas passiert? Ich kann dir helfen.«

      »Ich bin bei Ilea. Sie ist auf der Weide am Berghang, bei den Ziegen.«

      Sofort fliegt der schwarze Vogel in Richtung der Wiese den Bergrücken hinauf und landet kurz danach auf der Bank in dem Unterstand.

      »Zum Glück ist Ilea nichts passiert!«, krächzt er erleichtert.

      »Nein, mir nicht«, bestätigt