Emile Zola

Germinal


Скачать книгу

Familie lebte, benehmen solle.

      »Du bist vierzehn Jahre alt?« fragte er, als er sich wieder an sein Brot machte.

      Sie war erstaunt, fast beleidigt durch diese Frage.

      »Was, vierzehn Jahre? Ich bin fünfzehn alt!... Groß bin ich allerdings nicht... Die Mädchen wachsen hier langsam.«

      Er fuhr fort, sie auszufragen. Sie sagte alles nicht dreist und nicht scheu. Ihr war nichts mehr unbekannt vom Manne und vom Weibe, obgleich er sehr wohl merken konnte, daß sie an ihrem Körper jungfräulich war, ein jungfräuliches Kind, in der Reife seines Geschlechtes zurückgeblieben in dieser Umgebung von schlechter Luft und Mühsal, in der sie lebte. Sobald er wieder auf die Mouquette zu sprechen kam, um sie in Verlegenheit zu bringen, erzählte sie ruhigen, heiteren Tones geradezu entsetzliche Geschichten. Die trieb es bunt! Als er zu erfahren wünschte, ob sie selbst nicht schon einen Liebsten habe, antwortete sie scherzend, daß sie ihre Mutter nicht kränken wolle, daß dies aber doch notwendigerweise eines Tages werde geschehen müssen. Sie hatte die Schultern eingezogen, denn sie fror ein wenig in ihren von Schweiß durchtränkten Gewändern. Ihre Miene war sanft und ergeben; sie schien bereit, Menschen und Dinge ruhig hinzunehmen.

      »Man findet leicht einen Schatz, wenn man so beisammen lebt, nicht wahr?« fragte er.

      »Ganz gewiß.«

      »Auch schadet das niemandem... Nur dem Pfarrer darf man nichts davon sagen.«

      »Oh, ich kümmere mich wenig um den Pfarrer! Aber der schwarze Mann!...«

      »Was? Der schwarze Mann?«

      »Der alte Bergmann, der in die Grube zurückkommt und den schlimmen Mädchen den Hals umdreht.«

      »Du glaubst an solche Dummheiten! Weißt du denn nichts?«

      »Doch, ich kann schreiben und lesen... Das ist bei uns von Nutzen; denn zur Zeit von Vater und Mutter lernte man nichts.«

      Er fand sie entschieden sehr nett und gedachte, sobald sie mit ihrer Brotschnitte zu Ende sei, sie zu fassen und auf die dicken, roten Lippen zu küssen. Es war die Entschlossenheit eines Schüchternen, ein gewaltsamer Gedanke, der ihm die Kehle zuschnürte. Diese Knabenkleidung, die Jacke und das Beinkleid auf diesem Mädchenleibe, sie erregten und belästigten ihn. Er hatte seinen letzten Bissen hinuntergewürgt, trank von der Flasche und gab ihr diese zurück, damit sie den letzten Rest trinke. Jetzt war der Augenblick zu handeln gekommen, und er warf einen ängstlichen Blick nach den im Hintergrunde sitzenden Arbeitern, als plötzlich ein Schatten vor der Galerie erschien.

      Chaval stand seit einer Weile da und betrachtete sie von ferne. Jetzt kam er näher und versicherte sich durch einen Blick, daß Maheu ihn nicht sehen könne; da Katharina noch immer auf der Erde saß, packte er sie bei den Schultern, beugte ihren Kopf zurück und preßte einen wilden Kuß auf ihre Lippen, ganz ruhig, augenscheinlich unbekümmert um die Anwesenheit Etiennes. Dieser Kuß war gewissermaßen eine Besitzergreifung, eine Art eifersüchtigen Entschlusses.

      Doch das junge Mädchen hatte sich dagegen gewehrt.

      »Laß mich, hörst du?« rief sie.

      Er hielt ihren Kopf fest und schaute ihr tief in die Augen. Sein roter Schnurr- und Geißbart flammte in seinem schwarzen Gesichte mit der großen Adlernase. Endlich ließ er sie los und ging wortlos seines Weges.

      Ein Frösteln überlief Etienne. Es war dumm von ihm, daß er gewartet hatte. Nein, gewiß, jetzt wollte er sie nicht mehr umarmen; sie könnte sonst glauben, er sei so wie der andere. Er war ordentlich trostlos in seiner verletzten Eitelkeit.

      »Warum hast du gelogen?« sagte er mit leiser Stimme. »Das ist dein Liebhaber.«

      »Aber nein, versichere ich dir!« rief sie. »Es gibt nicht die geringste Gemeinschaft zwischen uns. Manchmal treibt er Spaß mit mir ... Er ist auch gar nicht aus unserer Gegend; vor sechs Monaten ist er aus dem Pas-de-Calais hierhergekommen.«

      Beide hatten sich erhoben. Man ging wieder an die Arbeit. Als sie ihn so kühl sah, schien sie darüber verdrossen. Ohne Zweifel fand sie ihn hübscher als den anderen und würde ihn vielleicht vorgezogen haben. Es plagte sie der Gedanke, sich ihm freundlich zu zeigen, gleichsam um ihn zu trösten, und als der junge Mann erstaunt seine Lampe betrachtete, die mit blauer Flamme brannte und einen breiten, blassen Kragen hatte, versuchte sie wenigstens, ihn zu zerstreuen.

      »Komm, ich will dir etwas zeigen«, flüsterte sie mit kameradschaftlicher Miene.

      Als sie ihn in die Tiefe des Schlages geführt hatte, zeigte sie ihm einen Spalt in dem Kohlenlager. Ein leises Brodeln tönte da hervor, ein schwaches Geräusch, das dem Pfeifen eines Vogels glich.

      »Tu deine Hand da her, spürst du den Schwaden? Das sind die bösen Gase, davon entstehen die Grubenbrände.«

      Er war erstaunt. Die furchtbare Sache, die schlagenden Wetter: die alles in die Luft sprengten: war's nichts weiter als das? Sie erwiderte lachend, es müsse sich davon heute viel angesammelt haben, weil die Lampen mit so blauer Flamme brannten.

      »Habt ihr bald genug geschwätzt, Faulenzer!« rief die rauhe Stimme Maheus.

      Katharina und Etienne beeilten sich, ihre Karren zu füllen, und schoben sie nach der schiefen Ebene, mit steifem Nacken unter der verzimmerten Decke des Weges dahinkriechend. Schon bei der zweiten Fahrt waren sie von Schweiß bedeckt, und ihre Knochen krachten von neuem.

      In dem Schlage hatten die Häuer ihre Arbeit wiederaufgenommen. Oft kürzten sie ihr Frühstück ab, um sich nicht zu erkälten; und ihre »Ziegel«, die sie fern von der Sonne mit stummer Gier verzehrt hatten, lagen ihnen bleischwer im Magen. Auf der Seite liegend, hieben sie jetzt fester darauflos und hatten keinen anderen Gedanken als den, möglichst viele Hunde zu füllen. Alles verschwand in der wilden Gier nach dem Erwerb, der ihnen so schwer gemacht wurde. Schließlich fühlten sie das Wasser nicht mehr, das auf sie herabfloß und ihre Glieder anschwellen ließ, noch die durch die gezwungenen Stellungen verursachten Krämpfe, noch endlich die erstickende Luft der Finsternis, in der sie bleich wurden wie Kellerpflanzen. Doch in dem Maße, wie der Tag vorrückte, verdarb die Luft immer mehr und erhitzte sich durch den Rauch der Lampen, durch die schlechten Ausatmungen der Arbeiter, durch die Stickluft der bösen Gase; sie lag trübe vor den Augen wie Spinngewebe und konnte nur durch die nächtliche Lüftung weggefegt werden. Die Häuer in ihrem Maulwurfsloche, gleichsam von dem ungeheuren Gewichte der Erde erdrückt, hieben immer darauflos, bis sie schließlich keinen Atem mehr in der keuchenden Brust hatten.

       Fünftes Kapitel

      Ohne auf seine Uhr zu schauen, die er in seinem Kittel gelassen, hielt Maheu in der Arbeit inne und sagte:

      »Es ist bald ein Uhr ... Zacharias, bist du fertig?«

      Der junge Mann war seit einer Weile mit der Verholzung beschäftigt. Er war bei dieser Arbeit auf dem Rücken liegen geblieben, schaute mit stieren Augen drein und dachte an die Kugelpartien, die er gestern gespielt. Aus seinem Brüten auffahrend, erwiderte er:

      »Ja, es wird schon genügen; morgen wollen wir weiter sehen.«

      Damit nahm er seinen Platz im Schlage wieder ein. Auch Levaque und Chaval hatten die Spitzhaue aus der Hand gelegt. Es trat eine Ruhepause ein. Alle trockneten sich das Gesicht mit ihren nackten Armen und blickten dabei zu dem Dachfelsen empor, dessen glimmerige Masse sich in Blättern spaltete. Sie sprachen nur von der Arbeit.

      »Wieder so ein Glückszug, daß wir auf ein abstürzendes Lager gestoßen sind«, brummte Chaval. »Auf dem Büro haben sie es nicht in Rechnung gezogen.«

      »Das sind Gauner«, schimpfte Levaque. »Sie denken nur daran, wie sie uns prellen können.«

      Zacharias lachte; ihm war die Arbeit und alles andere gleichgültig, aber es machte ihm Spaß, wenn er über die Unternehmung schimpfen hörte. Maheu erklärte mit seiner ruhigen Miene, daß alle zwanzig Meter die Beschaffenheit des Erdreiches sich ändere. Man müsse gerecht sein; das könne man nicht vorhersehen. Als die beiden anderen weiter