Schon als sie sein Zimmer betrat, spürte er, dass etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht. Und schon zu diesem Zeitpunkt, als er noch nichts von dem ahnte, was da alles auf ihn zukommen sollte, wäre es ihm lieber gewesen, sie hätte kehrtgemacht und alles beim Alten belassen. Es einfach so belassen, wie es war. Der einzige Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, war: die Kinder. Was ist mit ihnen? Was ist mit den Kindern?
Jeannine schien seine Gedanken zu erraten.
„Nein, nein, nicht die Kinder.“
Da das so ziemlich alles war, was ihm einfallen wollte, entspannte er sich etwas und atmete aus. Doch ihr Blick, der jetzt noch bekümmerter wirkte, verriet ihm, dass die traurige Nachricht (und um eine solche handelte es sich zweifellos) noch keineswegs aufgedeckt war. Er sah sie an mit großen, fragenden Augen und war sich nicht mehr sicher, ob er es überhaupt noch wissen wollte.
Ihre Augen hatten noch immer diesen todtraurigen Ausdruck. Doch obwohl sich zu der Träne noch eine zweite gesellt hatte, drückten sie noch immer eine gewisse Hoffnung aus. Was, zum Teufel, will sie mir sagen, fragte er sich. Ihm wurde immer unbehaglicher in seiner Haut, und nervös rutschte er auf seinem Stuhl herum, als hätte er ein übles Brennen zwischen den Arschbacken.
Paul fragte noch einmal, was los war. Sie räusperte sich und machte Anstalten zu sprechen. Jetzt wäre er am liebsten aufgesprungen und hinausgerannt. Er wollte es gar nicht wissen. Aber ihr Blick fesselte ihn an seinen Platz.
„Paul“, begann sie mit stotternder und zugleich weinerlicher Stimme, bei der ihm schlecht wurde, „wir müssen reden.“
Sein Körper verkrampfte sich, aber sein Gesicht strahlte sie dümmlich an. Er wollte dieses Grinsen abstellen, konnte aber nichts dagegen tun. Es blieb wie in sein Gesicht gemeißelt, also grinste er weiter. Seine Hände waren schweißnass, und da sie auf den Oberschenkeln ruhten, war die Hose schon ein wenig klamm.
„Nun sag schon! Was bedrückt dich? Du kannst mir alles sagen, das weißt du.“
In ihren Augen blitzte kurz etwas auf.
„Paul, ich … ich werde dich verlassen.“
Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Und war auch mindestens ebenso verheerend. Vor Überraschung erschlaffte sein Körper wie Butter in der Sonne. Seine Beine waren plötzlich weich wie zu lange gekochte Spaghetti. Er wollte sich an den Armlehnen festhalten, aber er war zu keiner Bewegung imstande. Er konnte nur hoffen, nicht wie ein Kartoffelsack zu Boden zu sinken. Sogar das blöde Grinsen war von seinen Lippen verschwunden. Was hat sie da eben gesagt? Wir lieben uns doch! Wie kann sie so etwas sagen? Weiß sie denn nicht, wie weh sie mir damit tut?
Sein Gesicht musste eine Sekunde abwesend gewirkt haben, denn sie fragte jetzt: „Paul, hörst du mir überhaupt zu? Hast du verstanden, was ich gesagt habe?“ Die Stimme klang wütend, und Paul konnte es nachvollziehen. Sie konfrontierte ihn mit der Wahrheit, mit etwas, was sie beide anging. Und ihm schien es gar nicht zu interessieren. Aber was sollte er tun? Er stand unter Schock, wie ein Mann, der gerade einen schweren Verkehrsunfall überstanden hat und der über die Straße irrt ohne zu wissen, wer er ist und wo er ist.
Er hob schwach den Arm; er wusste nicht, was er antworten sollte. Er schien zehn Tonnen zu wiegen. Was sollte man in so einer Situation sagen? Und selbst wenn er etwas hätte sagen wollen: Er war außerstande, auch nur ein Wort zu sprechen. Sein Mund war so trocken wie Wüstenstaub.
Jeannine, die davon nichts bemerkte, sagte schließlich mit einem so ernsten Ton, dass man meinen konnte, sie verläse einen Exekutionsbefehl: „Ich nehme die Kinder mit. Und gehe. Unter diesem Dach ist kein Platz mehr für mich. Versuch bitte nicht, mich aufzuhalten. Es wäre sinnlos. Erspar uns diese peinliche Szene.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um, verließ das Zimmer und das Haus, ging, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, zu ihrem Wagen und fuhr davon, die Kinder auf der Rückbank. Während sie das tat, hätte Paul Zeit gehabt, aufzuspringen, hinter ihr herzujagen, sie nach dem verdammten Grund zu fragen. Er hätte versuchen können, sie aufzuhalten. Aber er tat nichts dergleichen. Seine Knochen waren noch immer weich wie warmer Gummi, und bewegungslos blieb er auf dem Stuhl.
Es war still. Nur hin und wieder fuhr draußen ein Wagen vorbei, was klang wie das Summen einer Mücke. Deshalb hatten sie damals dieses Grundstück gekauft: wegen der Ruhe. Weil es hier am Wald so schön abseits der Straße lag, dass man sie fast vergessen konnte.
Beim ersten Motorgeräusch hatte er noch geglaubt, sie käme zurück, wäre wieder zur Besinnung gekommen. Als der Fahrer aber keine Anstalten machte, langsamer zu werden und der Motor nicht lauter wurde, sondern leiser, begriff er allmählich, was geschehen war. Sie hatte ihn verlassen. Sie war weg, endgültig weg. Mit den Kindern.
Jetzt war es, als reiße ein Knoten in ihm, und er begann zu weinen. Die Tränen rannen ihm nur so die Wangen hinunter, brannten auf seiner Haut und schmeckten scheußlich. Er wollte sie wegwischen, wagte es nicht, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Noch immer war er außerstande, sich zu bewegen. Stattdessen schniefte er nur und blieb sitzen wie ein Angeklagter, über den ein unbarmherziges Urteil gesprochen worden ist.
Eine Mücke summte heran. Er konnte ihre Flugbahn mit den Augen verfolgen, aber es war ihm unmöglich, auch nur den kleinen Finger zu rühren, geschweige denn, den Arm, um sie wegzuscheuchen. Das Mistvieh schwirrte noch eine Weile um seinen Kopf, als überlege es, ob Gefahr bestand. Schließlich ließ es sich auf seiner Unterlippe nieder. Anscheinend war es zu dem Ergebnis gekommen, dass es ungefährlich war. Dann bohrte es seinen Saugrüssel in seine dünne, von Tränen aufgeweichte Haut. Paul konnte es spüren, aber er konnte nichts dagegen tun. Die Mücke blieb, bis sie sich vollgesogen hatte. Dann flog sie davon, deutlich träger als zuvor. Ihr Bauch war rot und fett.
Nach und nach löste sich seine Starre. Zuerst spürte er in den Zehen und Fingern, dass Leben in ihn zurückkehrte. Er begrüßte diese Empfindung und wackelte mit ihnen. Und während er das tat, löste sich auch die Starre im Rest seines Körpers. Endlich konnte er aufstehen. Wie ein Blitz rannte er zum Fenster und sah auf die Straße. Doch es war zu spät. Sie war schon weit weg.
Arme und Beine kribbelten noch, als wären sie gerade eben erst erwacht, während er noch am Fenster stand und hilflos hinausschaute. Die Straße war, abgesehen war von wenigen Autos, leer und trostlos. Er schwitzte plötzlich, obwohl es gar nicht warm war. Dennoch lief ihm die Brühe nur so runter, als wäre er ein Gewichtheber, der in der zwölften Wiederholung eine Zweihundertkilo-Hantel stemmt.
Gedankenverloren starrte er in den Garten, beobachtete, wie der Wind mit den Blättern spielte, sie ausgelassen umhertrieb. Wie schnell die Dinge sich verändern konnten. Gerade eben noch hatte er an seinem Schreibtisch gesessen und seine Welt war in Ordnung gewesen, und jetzt, nur Minuten später, musste er mit ansehen, wie sein Leben vor seinen Augen zu Trümmern zerfiel. Hastig drehte er sich um und verließ das Zimmer, wobei er sich immer noch an allem, was er erreichen konnte, festhielt.
Auf einmal war seine Kehle trocken und rau wie Sandpapier. Er begrüßte dieses Gefühl fast, denn es lenkte ihn ab von den seelischen Schmerzen. Mit jeder Sekunde wurde es unangenehmer, und er befürchtete schon, jämmerlich zu verdursten, wenn er nicht bald etwas zu trinken bekam. Also stürmte er in die Küche, öffnete den Kühlschrank, glotzte hinein und griff schließlich nach dem erstbestem, was ihm in die Finger kam – eine Flasche Cola. Die Kohlensäure kribbelte in seiner Kehle, und er trank gierig. Er spürte Schmerzen wie spitze Dolche hinter seiner Stirn. Es war eindeutig zu kalt, aber er konnte nicht mit dem Trinken aufhören. Das Ziehen und Stechen hinter seiner Stirn wurde stärker, aber es war einfach zu köstlich, fühlte sich zu gut an, um aufzuhören. Leider verging dieses Wohlgefühl schnell, und zurück blieb nur eine quälende, dunkle Leere.
Paul sah noch einmal in den Kühlschrank. Diesmal wollte er etwas Härteres, etwas, das seine Stimmung hob. Zuerst übersah er es und wollte schon lautstark fluchen. Es war aber auch schwer zu finden – vor allem hinter tonnenweise Pudding und halbleeren Punica-Flaschen. Dann, auf den zweiten Blick, sah er es endlich. Als ob die Flasche Jack Daniels sich vor ihm verstecken könnte, ha, da lachten ja die Hühner! Mit einer einzigen Bewegung war der Verschluss abgeschraubt, die Flasche zum Mund geführt und ein langer Schluck genommen.