war es nicht real. Es waren nur Geister, Gespenster, Illusionen aus der Vergangenheit. Paul schüttelte sich, als wolle er eine Kälte auf seiner Haut abschütteln. Dann lief er eilig hinter ihnen her.
Er blieb etwa auf ihrer Höhe, um kein Wort zu verpassen.
Und dann tat er etwas, was er weder geplant noch bedacht hatte: Er kniff die Augen zusammen, hielt den Atem an und lief durch die Gruppe hindurch. Warum er das tat, wusste er nicht. Er vermutete, dass es intuitiv geschah. Abermals griff Kälte nach ihm, doch intensiver als ein Windhauch. So mussten sich die Stürme auf der Venus anfühlen. Nicht nur die Kälte irritierte ihn. Er hatte für einen Moment den Eindruck, den Boden unter den Füßen zu verlieren, zu fliegen. Dann war es auch schon wieder vorbei, und er war durch sie hindurch.
Paul drehte sich um, öffnete die Augen und sah sich verdattert um. Er lief jetzt vor ihnen her; ihre Stimmen im Rücken hatten nichts von ihrer Fröhlichkeit eingebüßt. Er entschied sich, rückwärts zu gehen. Das war zwar einerseits beschwerlich, andererseits aber konnte er so wenigstens die Gesichter sehen, von denen er die meisten seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Während er das tat, versuchte er sich an die Namen zu erinnern und war entsetzt, dass es ihm nicht gelang. Waren vierundzwanzig Jahre denn eine so lange Zeit?
Ihn beschlich ein schlechtes Gewissen. Ehe er sich davon ablenken lassen konnte, besann er sich und kam zu der Erkenntnis, dass es vielleicht normal war. Wer weiß, vielleicht erginge es den anderen, träfe er sie im realen Leben, ebenso? Er konzentrierte sich wieder auf die lärmende Meute vor ihm und war bemüht, höchstens zehn Schritte Abstand zu ihnen zu haben, um ihre Gesichter zu sehen. Er wollte die jugendlichen Gesichter in sich aufsaugen; wie ein Vampir das Blut seiner Opfer in sich aufsaugt, wollte er den Anblick der Jugend in sich aufnehmen.
Zwei Mädchen (sie sahen noch jünger aus als der Rest) kreischten angeekelt, als zwei Jungen, die vor ihnen liefen, ihre Hosen herunterließen und ihnen ihre nackten Hinterteile präsentierten. Der Rest kreischte so laut, dass das Kreischen der Mädchen darin fast unterging.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis es langsam wieder abebbte. Ein Junge, er trug einen Dreitagebart (wenn man den Flaum auf seiner Oberlippe so nennen wollte) sagte grinsend, als müsse er gleich wieder losbrüllen: „Oh Mann, oh Mann, hat einer von euch diesen Megapickel auf der Arschbacke gesehen? Das Ding war so riesig, dass er schon einen eigenen Mond hatte, der in einer Umlaufbahn um ihn kreiste. Igitt, wenn ich nur dran denke, muss ich kotzen!“
Wieder lachten alle. Sogar die beiden Mädchen.
„He, Jan“, schrie ein zweiter spöttisch, „ich will ja nicht in deiner Nähe sein, wenn die Dämme brechen! Der ist imstande und spült uns weg!“
Das Gelächter wurde noch lauter, und die Gesichter liefen rot an wie Hummer im Kochtopf. Nur eines nicht. Es wirkte vielmehr wie versteinert. Aha, kombinierte Paul, wenn mich nicht alles täuscht, ist der Bengel mit dem säuerlichen Gesichtsausdruck da besagter Jan und somit rechtmäßiger Besitzer des mächtigsten Pickels unter der Sonne. Auch Paul grinste, allerdings nicht halb so breit wie die anderen. Wahrscheinlich bin ich einfach zu alt für diese Scheiße, dachte er.
Das Gelächter schwoll immer mehr an, und der Junge, der den Grund dieses Freudenfeuerwerkes auf dem Arsch trug, es sozusagen ausgebrütet hatte, schien den Tränen nahe zu sein. Er stand da wie ein Häufchen Elend. Die Schultern hingen schlaff an ihm herunter, und seine Hände fuhren immer wieder über den Stoff seiner Hose. Die anderen konnten sich immer noch nicht beruhigen, und so bemerkte keiner von ihnen, dass ihm schon die erste Träne die Wange herunterlief. Das Licht der untergehenden Sonne reflektierte sich in ihr, und kurz meinte Paul, einen Regenbogen in ihr zu sehen. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah er ein ganzes Farbspektrum in der Träne.
Vier oder fünf Minuten später war der Witz verflogen, und das Gelächter senkte sich langsam auf einen erträglichen Level. Und Jan heulte wie ein Schlosshund.
Jetzt erst bemerkten es die anderen und hielten inne. Sie näherten sich ihm, und die so plötzlich aufgetretene Stille war direkt unheimlich. Aber das war nur ein Moment, denn noch ehe man die Ruhe richtig begreifen konnte, wurde sie von einem herzzerreißenden Jammern unterbrochen. Die anderen sahen einander ratlos an, zuckten mit den Schultern und fragten sich flüsternd, was für eine Laus ihm über die Leber gelaufen war. Als sie schließlich bei ihm standen, wurde sein Jammern leiser, brach aber nicht ab.
Einer legte den Arm auf seine Schulter (Paul sah, dass er selbst derjenige war, der es tat) und fragte ihn: „Was ist mit dir?“
„Ich … ich … ich … ihr Arschgeigen macht euch immer über mich lustig!“ Jan schluchzte wieder.
„Was?“, fragte der vierundzwanzig Jahre jüngere Paul verdutzt, „und deshalb heulst du wie ein Weib?“
„Nana, ich muss doch bitten“, protestierte ein Mädchen. „Von uns hier jammert keine!“
Paul verdrehte die Augen. „Ach, vergiss es einfach.“
„Warum soll ich es vergessen? Los, dreh dich um! Ich rede mit dir!“
Sie ging langsam auf ihn zu. Doch noch ehe sie ihn erreichen konnte, boxte eine Freundin sie in die Seite und zischte: „Lass ihn doch! Verdammt, er versucht doch nur, die Heulboje zu beruhigen.“ Das leuchtete ihr ein. Paul konnte sich wieder um Jan kümmern.
„Hör mal“, begann er wieder, und das Jammern wurde eine Nuance leiser, „ich weiß gar nicht, warum du so eingeschnappt bist.“
„Na, weil … na, weil …“
„Jetzt krieg dich doch wieder ein, Menschenskind! Ist doch kein Weltuntergang, so ’n blöder Pickel auf ’m Arsch! Hatten wir alle schon mal, richtig, Jungs?“
Ein Raunen ging durch die Runde. Einer murmelte: „Na ja, ein gottverdammter Vulkan ist schon ein Scheißdreck gegen dieses Unikum“, und ein anderer, er schien der Älteste der Truppe zu sein, meinte: „Also, ich für meinen Teil pflege meinen Körper täglich mit Cremes und so `nem Zeug“, und noch einer murmelte etwas, das ungehört unterging.
„Siehst du“, fuhr Paul fort und tat, als hätte er die anderen gar nicht gehört, „ist alles kein Beinbruch. Jetzt wisch deine Tränen weg!“
Jan beruhigte sich.
„Jan, alter Junge, wir haben dich nur verarscht. Sollte nur ein Scherz sein.“
Das Schluchzen wurde leiser.
„Nun komm schon. Wir konnten ja nicht ahnen, dass du gleich so ein Drama draus machst.“
Das Schluchzen war jetzt zu einem Wimmern geworden. Der junge Paul setzte noch eins drauf: „Jetzt reiß dich aber mal zusammen, ja? Wir sind gleich auf dieser doofen Party und, mal ehrlich, willst du da mit tränenüberlaufenen Augen antanzen? Die Mädels riechen das zehn Meilen gegen den Wind! Dann kannst du gleich wieder abmarschieren, dann lässt dich nämlich garantiert keine mehr von ihrem Sahnetörtchen kosten, wenn du verstehst, was ich meine!“ Er grinste verschmitzt.
Hoffnungsvoll sahen alle Jan an.
Zwei, drei Sekunden passierte gar nichts. Paul fürchtete schon, sein Enthusiasmus war umsonst gewesen. Jetzt verstummte auch das Wimmern. Er sah ihn an, versuchte in den Augen Pauls zu ergründen, ob das auch stimmte. Doch eigentlich war es sonnenklar. Die Mädels wollten harte Kerle – solche, die mit dem rechten Arm Blumen für die Angebetete pflückten und mit dem linken Bäume mitsamt Wurzeln ausrissen. Solch Kerle wollten sie haben und keine Laschies. Und genau das wäre er in ihren Augen, wenn er seine Schleusen nicht bald wieder unter Kontrolle brachte.
Jan schniefte noch einmal, spuckte Rotz auf die Straße, kramte verlegen nach einem Tempo, fand sogar eins (Paul hätte um ein Haar gekotzt, als er es sah, es wurde nur noch von Popeln zusammengehalten) und wischte sich hastig die Tränen weg. Der jüngere Paul speicherte in seinem Gehirnhinterstübchen: Jan bei nächster Gelegenheit mal ein neues Taschentuch schenken.
Wenig später lief die Truppe weiter. Keiner verlor mehr ein Wort über das gigantische Furunkel. Zwanzig Minuten später erreichten sie ihr Ziel. Einigen war es in dieser Zeit schwer gefallen, keine Witze mehr über einen