Lars Burkart

Die letzte Seele


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ich nur falsch, fragte er sich und trank den letzten Schluck Bier.

      Sein wackliger Freund war kaum zur Stelle, da hatte er auch schon Bier bestellt: eines für sich, eines für Paul und natürlich auch für seine Damen. Und noch ehe Paul sich bedanken konnte, wurde er mit den vier Bier alleingelassen. Der Freund verschwand einfach wankend, wie er gekommen war. Er schien die Bestellung vergessen zu haben.

      Paul sah ihm stirnrunzelnd hinterher. Aber da er offenbar Wichtigeres zu tun hatte (und das hatte er garantiert, wenn man sah, wie begeistert er die Zunge mal der einen, mal der anderen in den Mund steckte), kümmerte er sich nicht mehr um ihn. Er würde das schon allein schaffen. Derartig beruhigt, widmete er seine Aufmerksamkeit den vier Biergläsern, die nur darauf warteten, getrunken zu werden. Nur fünf Minuten später hatte er bereits das erste geleert und schickte sich an, die Finger nach dem zweiten auszustrecken, als seine Hand plötzlich blieb, wo sie war – in der Luft hängend, wie auf einem Foto.

      Seine Augen waren über die Tanzfläche gewandert, von dort zum Ausgang, wo gerade eine wüste Schlägerei entbrannte und von dort zur Bar gegenüber. Und genau in diesem Moment war die Bewegung erstarrt, als wäre er zu Stein geworden.

      Der ältere Paul verlor den Boden unter den Füßen, und während er fiel, merkte er, dass sein Herz raste, sein Blut kochte, seine Muskeln zum Zerreißen gespannt waren, seine Nerven vor Aufregung zitterten und sogar sein Atem aussetzte. Obwohl er gewusst hatte, was ihn erwartete, war es, als es schließlich geschah, einfach zu viel für ihn. Und während ihm das noch durch den Kopf ging, kehrte er wieder auf den Jahrmarkt zurück, und das war ohne Zweifel ein Glück für ihn, so bemerkte er wenigstens die unsanfte Landung nicht.

      Der jüngere Paul saß noch immer so da, er hatte sich keinen Millimeter bewegt. Seine Hand hing ungefähr fünfzehn Zentimeter vom Bierglas entfernt in der Luft. Das einzige an ihm, was sich geändert hatte, waren seine Augen. Die waren so groß wie Scheunentore und glotzten ungläubig an die Bar. Und mit einem Mal war es still um ihn. Nur weit hinter ihm, es schien am anderen Ende des Universums zu sein, dudelte leise Musik.

      Das erste, was er sah, waren diese langen, blondgelockten Haare. Sie leuchteten heller als die Sonne. Eine einzelne Strähne war schwarz gefärbt und hing ihr mitten übers Gesicht. Sie hatte vereinzelt kleine Sommersprossen (er fragte sich einen Moment, wie es möglich war, dass er all diese Kleinigkeiten aus dieser Entfernung entdeckte), und Paul sah, dass ihre Augen ruhelos mal hierhin, mal dorthin wanderten. Auch sie konnte er genau sehen. Sie waren grün und, in der linken oberen Pupillenhälfte war ein kleines braunes Dreieck. Er hatte etwas Derartiges noch nie zuvor gesehen.

      Jetzt sah sie ihn direkt an.

      Vor Schreck blieb Paul die Spucke weg. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er wusste noch nicht einmal, ob er den Mut hatte, ihrem Blick standzuhalten. Er kam sich vor wie ein scheues Reh, das in die Gewehrmündung des Jägers blickt. Und während ihm dieser Vergleich in den Sinn kam, sah er hastig zu Boden und schimpfte sich einen Idioten. Super, echt erste Sahne, das hast du mal wieder großartig hingekriegt! Phänomenal! Ohne Scheiß, da kann man nicht meckern! Kannst stolz auf dich sein!

      Er glotzte zu Boden wie jemand, der etwas Wichtiges verloren hat und es unbedingt wiederhaben muss. Dabei wäre er am liebsten in diesem Boden versunken. Nur weg von hier, egal wohin!

      Mit einem Mal tauchten am oberen Rand seines Sichtfeldes ein Paar Stiefel auf. Schwarze Cowboystiefel. Eigentlich waren sie viel zu klein und zierlich, um sich Stiefel zu nennen. Aber es waren welche. Ein Paar von dieser Größe konnte nur zu einer Frau gehören. Fieberhaft überlegte Paul, ob eines der Mädchen aus seinem Freundeskreis derartige Schuhe trug. Negativ, er musste passen.

      Er schluckte den Speichel runter. Dann schluckte er noch einmal. Und es half ihm sogar ein wenig – so, als hätte er damit einen Teil seiner Unsicherheit weggeschluckt.

      Nun hatte er zwei Möglichkeiten. Die erste (bei weitem die leichteste) sah ungefähr so aus: Er beließ es so, wie es war und steckte weiter wie ein Vogel Strauß den Kopf in den Sand. Oder aber (und das war die zweite, ungleich schwierigere): Er packte den Stier bei den Hörnern. Nach einem kurzen, aber heftigen Disput mit sich selbst entschied er sich für die Torero-Methode. Dabei hoffte er immer noch, dass es sich nur um irgendein Mädchen handelte, die sich etwas zu trinken bestellte. Nicht etwa, um …

      Zu den Schuhen gesellte sich jetzt eine Blue Jeans. Er ließ den Blick höher wandern und sah lange nur Hosenbeine. Wie wohl die Beine darunter aussahen? Endlich war sein Blick höher gewandert, unterhalb der Taille. Oh ja, es handelte sich zweifelsfrei um ein Mädchen, und um was für eins, Junge, Junge! Saftige straffe Schenkel, schöne lange Beine! Kerl, reiß dich zusammen! Reiß dich bloß zusammen!

      Er ließ den Blick weiter aufwärts wandern. Das Mädchen trug ein rotkariertes Holzfällerhemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Nun wusste er endlich, wer sie war, und vor Überraschung schluckte er erneut. Auch diese verdammte Unsicherheit war plötzlich wieder da. Dafür schien seine Fähigkeit, sich zu bewegen, verschwunden zu sein. Er kauerte auf dem Barhocker, hatte den Blick auf ihr Dekolleté gerichtet und bemerkte entzückt, dass die obersten zwei Knöpfe offen waren. Paul wusste, dass es ein dämliches, vor allem unhöfliches Benehmen war, so zu starren. Es war ihm aber einfach nicht möglich, wegzusehen. Seine Halsmuskulatur verweigerte ihm den Dienst.

      „Hast du inzwischen gefunden, wonach du gesucht hast?“

      Die Stimme klang freundlich, und obwohl die Besitzerin genau wusste, wohin er seinen Blick gerichtet hatte (sie hätte schon so blind sein müssen wie ein Maulwurf, um es zu übersehen), schien sie keineswegs erbost. Ja, es klang sogar fast ein wenig so, als wäre sie amüsiert. In Pauls Mund lief der Speichel zusammen. Literweise. Hektoliterweise. Ein ganzer Ozean. Zumindest fühlte es sich so an. Er drohte daran zu ersticken und kam nicht mehr mit dem Schlucken hinterher. So konnte er nie und nimmer etwas sagen. Bei diesen Mengen würde er ihr eine Dusche verpassen, bei der ihr alles verginge. Sogar die Hilfsbereitschaft.

      „Du scheinst mir ja ein richtiger Draufgänger zu sein, was? Ich hoffe, dass ich mit dir mithalten kann.“ Die Besitzerin der Stimme kicherte. „Wie bitte? Du fragst, ob du mir einen Drink spendieren darfst? Aber hallo, da sage ich doch nicht nein!“

      Paul stöhnte. Seine Beine hatten mittlerweile die Konsistenz von Gelatine. Alles an ihm zitterte wie Laub im Herbstwind. Noch nie zuvor war er sich so hilflos vorgekommen – und gleichzeitig so überschwänglich glücklich.

      „Hi, ich bin Jeannine. Und du?“

      Ihre Stimme klang warm, weich. Als sänge ein wunderschöner Vogel nur für ihn. Er war außerstande, zu antworten. Es war nun schon das zweite Mal an diesem Tag, dass er vor Scham am liebsten im Erdboden versunken wäre.

      „Sag mal, hast du Genickstarre oder so was? Oder was gibt’s da unten zu sehen?“

      „Ich … ich …“ Sein Mund schloss sich wieder. Hatte er etwas gesagt? War das seine Stimme gewesen, die da gerade Perlen der Weisheit von sich gegeben hatte?

      „Na, das war schon ein Anfang. Wer weiß, vielleicht sprichst du ja in ein paar Jahren schon erste zusammenhängende Sätze? Ich wette, mit Übung brichst du jeden Rekord! Und erst dein Vater, Junge, Junge, Junge, der muss vor Stolz ja platzen!“

      Obwohl Paul diese Neckereien durchaus in den falschen Hals hätte kriegen können, war er keineswegs sauer. Im Gegenteil – ihre freche, offene Art amüsierte ihn. Er grinste sogar.

      „Ja, was ist denn das? Was müssen meine entzündeten Augen da sehen? Oh Gott, oh Gott, das kann ja gar nicht sein!“ Sie schwieg einen Moment, um sich eine Zigarette anzuzünden. „Es bewegt sich, also lebt es! Ist das zu fassen? Dass ich das noch erleben darf! Mir kommen die Tränen!“ Mit einer theatralischen Handbewegung wischte sie sich übers Gesicht.

      Erst als er den Sinn ihrer Worte verstand, bemerkte er, dass er langsam den Kopf hob. Es konnte höchstens eine oder zwei Sekunden gedauert haben, bis er direkt in ihre Augen sah. In dieser kurzen Zeit stürzte alles auf ihn ein mit der Stärke eines Tornados. Die Musik war plötzlich viel zu laut und die Beleuchtung zu grell. Komischerweise lächelte ihr Mund. Ein freundliches Lächeln. Und auch ihre Augen strahlten.