Lars Burkart

Die letzte Seele


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und sahen sich um. Von überallher dröhnte Musik. Kinder liefen mit Luftballons in den Händen und tonnenweise Zuckerwatte im Gesicht vorbei. Sie waren auf dem Jahrmarkt. Über den Festplatz verteilt standen Karussells, Losbuden, Würstchenbuden und Eiswagen. Und vor jedem Stand pries der Inhaber lautstark seine Waren an: „Knackige heiße Würstchen! Knackige, heiße Würstchen! …Versuchen Sie Ihr Glück! Jedes zweite Los gewinnt! Versuchen Sie ihr Glück! … Lecker Eis für die Kleinen, probieren Sie! Nur fünfzig je Kugel! Probieren Sie! … Die Kinder lieben dieses Karussell! Nur einmal mitfahren und Sie sind begeistert!“

      Es roch nach Pferdeäpfeln und frisch gemähtem Gras. Sie standen inmitten des Treibens und sahen sich ratlos an. Das, was sich um sie herum abspielte, war ganz und gar nicht, was sie erwartet hatten. Wie auf Kommando steckte sich jeder eine Kippe in den Hals, zündete sie an und versuchte cool auszusehen. Sie waren hier fehl am Platz. Sie trugen die falschen Klamotten. Sie hatten sich für eine Disco angezogen, nicht für einen Kindergeburtstag.

      „Also“, begann einer (mit einem Mal konnte Paul sich wieder an seinen Namen erinnern), „entweder sind wir zu früh oder wir haben uns hier verlaufen.“ Jerome war sein Name, und Paul erinnerte sich deshalb so genau, weil sein Agent und späterer Freund genauso hieß – aber vor allem, weil dessen Gesicht so von Akne verunstaltet war, dass er sich wunderte, wie er ihn überhaupt hatte vergessen können. Soweit er sich erinnerte, hatte er sein Leben lang niemanden mehr gesehen, dessen Gesicht auch nur annähernd so von dieser Krankheit gezeichnet war wie das von Jerome.

      Jerome zog einmal kräftig an seiner Zigarette, spuckte zu Boden und sah die anderen an. Auch sie wussten nicht so recht, was sie davon halten sollten und blickten fragend zurück.

      „Auch das noch!“, meinte Jerome missmutig. „Hat denn keiner einen Plan, wie’s weitergehen soll?“

      Eines der Mädchen (sie hatte lange braune Haare, eine Brille und eine Spange, die bei jedem Wort blitzte) fragte: „Was haltet ihr davon, erstmal eine Kleinigkeit zu essen? Allmählich hängt mir mein Magen in der Kniekehle.“

      Der ältere Paul war erstaunt, wie mühelos er sich jetzt an die Namen erinnern konnte. Sie drangen zwar noch zähflüssig zu ihm durch, doch mit jeder Sekunde kamen die Erinnerungen schneller. Das Mädchen hieß Gamelia und wäre heute so alt gewesen wie er selbst. Doch sie hatte das Pech gehabt, einmal zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein: Sie war bei einem Schiffsuntergang ums Leben gekommen. Das Tragische an der Geschichte war, dass sie die Reise bei einem Preisausschreiben gewonnen hatte. Gamelia, ein ungewöhnlicher Name. Paul hatte seinerzeit davon in der Zeitung gelesen und schon damals bestürzt festgestellt, dass er bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr an sie gedacht hatte. Da sie in die selbe Klasse gegangen waren, hatte er an der Beerdigung teilgenommen, ihr das letzte Geleit gegeben. Danach war er in seinen schwarzen Volvo geklettert, hatte sich die Krawatte abgerissen, sie auf die Rückbank gepfeffert und Gamelia wieder vergessen bis … bis heute. Auf einmal plagte ihn so etwas wie schlechtes Gewissen. Doch für diese Art von Gefühlen war jetzt keine Zeit.

      Sie standen vor einer Würstchenbude und mampften zufrieden vor sich hin. Keiner sagte etwas.

      Auf einmal begann Jan zu lachen. Er lachte so heftig, dass die Hälfte seines Würstchens in hohem Bogen davonflog. Die anderen sahen ihn fragend an. Er konnte nichts sagen, er konnte ihnen nur durch Kopfnicken verständlich machen, dass sie sich umdrehen sollten. Sie taten es und schlossen sich sogleich seinem Lachen an.

      Hinter ihnen stand ein großes Werbeplakat, und eine Horde Kinder stand davor. Vielmehr standen sie um einen Erwachsenen herum, hatten ihn förmlich eingekesselt, und der Erwachsene machten ein gestresstes Gesicht, als wüsste er nicht, wo ihm der Kopf stand. Sie tänzelten um ihn wie Indianer um den Totempfahl und kicherten und gackerten, als wäre das Leben ein einziges Wunschkonzert. Im Gesicht des Eingekesselten konnte man lesen wie in einem Buch. Er hatte Mühe, den Ameisenhaufen ruhig zu halten und schien auch nicht mehr viel Geduld zu haben. Er war ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Die Kinder ließen sich davon nicht aus der Hektik bringen und machten weiter, was dem Mann die Zornesröte ins Gesicht trieb. Er kaute nun schon auf der Luft in seinem Mund herum.

      Doch eigentlich war dieses Treiben nur Nebensache. Die Jugendlichen interessierten sich mehr für das Werbeplakat. Vielmehr für das, was es in großen schwarzen Buchstaben verkündete:

      Sonnabend, den 26.07.1978

      Diskothek am Abend

      Große Festwiese

      Beginn: 21.30 Uhr

      Einlass: 21.00 Uhr

      Eintritt frei

      Und in der linken unteren Ecke das Wichtigste von allem. Der Hauptgrund, warum vor allem die Jungen Feuer und Flamme waren:

      Striptease kurz nach Mitternacht

      Naomi lässt alle Hüllen fallen

      Der junge Paul sah auf seine Armbanduhr. Er war der einzige, der eine trug und verkündete mit gewichtiger Stimme: „Gleich zwanzig Uhr fünfundvierzig.“ Die anderen nickten zustimmend. Die restlichen paar Minuten würden sie auch noch irgendwie totschlagen.

      Auf einmal wurde es schwarz vor Pauls innerem Auge. Doch nur für einen kurzen Moment, denn einen Augenblick später zeichneten sich bereits wieder erste Konturen ab. Sie waren verschwommen, wurden klarer, verschwammen wieder und wurden wieder klarer, als könne jemand sich nicht entscheiden, welche Brille er nehmen soll. Schließlich blieben sie klar.

      Es war jetzt um einiges dunkler, und Paul brauchte keine innere Uhr, um zu wissen, dass die Party bereits in vollem Gange war. Die Musik dröhnte, etwas Rockiges. Paul kannte den Song, der Name war ihm momentan aber entfallen. Garantiert was von den Stones. Er nahm sich vor, wenn er wieder in der Realität, in seiner Zeit war, unbedingt in seiner CD-Sammlung nachzusehen. Er war überzeugt, den Song dort zu finden. Es roch nach Alkohol und Erbrochenem.

      Die Disko fand unter einer riesigen Zeltplane statt. Man wollte schließlich sichergehen, dass das Fest nicht durch einen Wolkenbruch ins Wasser fiel.

      Das Herz des älteren Paul setzte vor Vorfreude einen Moment aus und schlug dann mit doppeltem Tempo weiter. Seine Hände waren schweißnass. Er wusste, dass es jeden Moment soweit sein würde. Gleich würde das geschehen, warum er, seiner Vermutung nach, hierhergekommen war.

      Der vierundzwanzig Jahre jüngere Paul saß an der Bar und hielt sich an einem Bier fest. Er war noch nicht betrunken, aber schon angeheitert. Die Freunde hatten ihn vor einiger Zeit alleingelassen. Sie waren entweder tanzen oder in irgendeiner Ecke beim Knutschen. Er hatte sich diesen Abend anders vorgestellt und war betrübt. Aber bei weitem nicht genug, um den Kopf komplett hängen zu lassen. Warum auch? Es war Sommer, er war jung, und der Abend gehörte ihm. Da störte es auch nicht, dass er allein hier saß und Bier trank. Er schnippte die Zigarette weg, trank und zündete eine neue an. War das Leben nicht wunderschön? Dann sah er gelangweilt auf die Armbanduhr. Die Zeiger verkündeten, dass es zehn vor zwölf war.

      Von der Tanzfläche (wenn man das so nennen konnte, es waren nur Holzplatten so auf dem Boden verteilt, dass sie eine zusammenhängende Fläche bildeten) kam einer der Freunde auf ihn zugewankt. Er hatte schon ein paar mehr intus als Paul, und das sah man auf den ersten Blick. Seine Augen waren glasig, sein Gang nicht mehr sicher, und er grinste bescheuert. Obwohl er nicht mehr nüchtern war, hatte er mehr Spaß als Paul. Unter jedem Arm hatte er ein Mädchen untergehakt. Sie waren zwar keine Schönheitsköniginnen, aber ihm schien das gleich zu sein. Paul dachte an das Sprichwort: Im Suff sind alle Frauen schön. Auch die Begleiterinnen hatten schon Mühe, aufrecht zu gehen.

      „Paulchen“, lallte der Freund, als er sich mit seiner Begleitung vor ihm aufbaute, „darf ich dir diese beiden entzückenden Täubchen vorstellen?“ Er deutete mit Kopfnicken nach rechts. „Dies reizende Geschöpf hier ist Ophelia. Ist Ophelia nicht ein wunderschöner Name?“

      Paul nickte zustimmend. Nicht, weil er von dem Namen so angetan war (um ehrlich zu sein, fand er ihn scheußlich), sondern weil er nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Während sein Gegenüber ihn darüber informierte, dass das zarte Geschöpf auf der linken Seite Natascha hieß, sann er noch immer darüber