Winfried Wolf

Der andere Mann


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      1. Kapitel: Restaurant am Waldsee

      Ping, eine Nachricht von Esther auf WhatsApp: Lade dich heute zum Essen ein, es gibt was zu feiern! Wir treffen uns nach der Arbeit im Restaurant am Waldsee. Tisch ist für 18.00 Uhr reserviert, Kuss. Christoph Fuchs, der diese Mitteilung seiner Frau in der Mittagspause erhielt, war nicht wenig erstaunt. Mitten in der Woche zum Essen in ein feines Restaurant gehen, das war ungewöhnlich. Was gibt es denn zu feiern, hatte er vielleicht einen wichtigen Termin vergessen? War Esther etwa ..., nein, das hätte er gemerkt. Na gut, warum nicht. Er schickte ein Selfie mit gerecktem Daumen als Antwort zurück. Blöd war nur, dass er mit dem Rad da war; er entschloss sich, den Drahtesel in der Klinik zu lassen und den Weg zum Waldsee mit der Straßenbahn zurückzulegen, der kleine Fußweg am Schluss würde ihm nicht schaden.

      Christoph Fuchs musste nicht lange vor dem Restaurant warten, schon brauste Esther mit ihrem grauen Skoda die Straße herauf, stellte den Wagen ab und kam lachend auf ihn zu. Eigentlich hätte ich mich für dich etwas zurecht machen müssen, aber dafür war heute keine Zeit! Für mich bist du sowieso die Schönste, empfing Christoph Fuchs seine Frau. Er legte seine Arme auf ihre Schultern, zog sie an sich und drückte ihr einen dicken Kuss auf den Mund. Arm in Arm und bester Laune strebte das junge Ärztepaar dem Restaurant zu. Ihr Tisch mit Blick auf Terrasse und See lag am Fenster. Draußen war es an diesem Herbsttag schon dunkel geworden aber man konnte die Lichter der Uferpromenade im See glitzern sehen.

      Die Sicht auf den See entschädigte für das etwas sterile Ambiente des neu restaurierten Innenraums. Also, sag schon, was gibt es heute zu feiern? Nix Besonderes, feixte Esther, ich wollte dich nur einmal aus deiner Routine reißen. Christoph Fuchs, der die Sparsamkeit seiner Schwäbin kannte, wusste ganz genau, dass es einen triftigeren Grund für ein Essen zu zweit geben musste. Nun sag schon, heute ist doch etwas Besonderes, bist du vielleicht befördert worden? Frau Fuchs lächelte und sah ihren Mann mit einem verschwörerischen Blick an. In ihren Augen blitzte ein Geheimnis. Das kann sie nicht lange verbergen, dachte Fuchs. Beförderung, ja, so könnte man es auch nennen, grinste sie. Der Ober brachte die Speisekarte und fragte nach den Getränken. Wie schnell lässt sich doch eine romantische Stimmung herstellen, dachte Christoph Fuchs, ein ungewöhnlicher Termin, ein gepflegtes Restaurant und eine hübsche Frau an meiner Seite, die auch noch ein Geheimnis hat.

      Am Nachmittag noch volle Runde mit Oberarzt, Assistenten, Psychologen, Pfleger, Physiotherapeut, Ergotherapeut und Musiktherapeut. Die halbe Station wurde besprochen, Patient für Patient. Die Therapeutin mit dem Batikschal und dem Doppelnamen schilderte lautmalerisch ihre Erlebnisse mit der Patientengruppe beim Tonen und Töpfern. Dann nach vier mit dem jungen Heinrich eine Expositionsübung gemacht: „ Wir verlassen zwangsfrei das Zimmer “. Wir verteilen persönliche Gegenstände, unterhalten uns über das Wetter und sammeln dann wieder die Gegenstände ein, kein Kontrollblick zurück, das hat gut geklappt, Herr Heinrich. Esther unterbrach seine gedankliche Abschweifung: Hallo, Dienstschluss, Herr Doktor! Was nimmst du?

      Einzelne Spaziergänger waren draußen nur noch als Schattenrisse zu erkennen. Esther entschied sich zu Christophs Überraschung zuerst einmal, ohne den sonst üblichen Gesundheitscheck, für einen Prosecco. Den fragenden Blick ihres Mannes aufnehmend, fügte sie ihrer Bestellung mit schuldbewusster Miene noch ein Mineralwasser an. Also doch, eine Beförderung, obwohl, das konnte eigentlich nicht sein. Esther war als Ärztin nicht länger im Krankenhaus als er, beide hatten sie gemeinsam in Marburg Medizin studiert und sich dort auch kennengelernt. Die Laufbahn für junge Ärzte ist nach der Entscheidung für eine Fachrichtung vorhersehbar. Sie hatten sich für die Neurologie entschieden und waren beide im Raum Freiburg an verschiedenen Kliniken gelandet. Sie wird einen Forschungsauftrag an Land gezogen haben oder sie fährt zur Fortbildung nach Hamburg. Diese Gedanken hatte Christoph Fuchs im Kopf, als der Kellner nach der Essensbestellung fragte. Einen Augenblick noch, sagten beide fast gleichzeitig und mussten lachen. Esther entschied sich nach einigem Hin und Her für einen gemischten Salat mit Hühnchenbrust und Christoph wählte einen Zwiebelrostbraten. Ich glaube, heute brauche ich etwas Deftiges, lächelte er. Beim Weglegen der Speisekarte blieb sein Blick am Tisch gegenüber hängen an dem gerade zwei Herren Platz genommen hatten. Das ist doch nicht möglich, das gibt’s doch gar nicht, murmelte er und rückte mit seinem Stuhl etwas nach rechts, so dass ihm der Körper seiner Frau einen gewissen Blickschutz bieten konnte. Dreh dich nicht um, schräg hinter dir sitzt jemand, der eigentlich gar nicht hier sein dürfte. Was, von wem redest du? Vom Doppelgänger , von diesem Prager, einem meiner ehemaligen Patienten. Hatte der nicht eine wahnhafte Störung, oder wie du immer sagst, eine schizophrene Psychose? Ja, ich hab‘ bei dem neben anderen Symptomen auch den alten Begriff „Doppelgängerwahn“ diagnostiziert, eine Bezeichnung, die man heute, wie mir Professor Bürger unter die Nase reiben musste, nur noch selten verwendet, aber bei dem drängte sich das irgendwie von selbst auf.

      Ich weiß gar nicht, wie ich jetzt reagieren soll, der Mann hat einfach die Therapie abgebrochen und ist von einem Tag auf den anderen verschwunden. Hast du nicht Monate später von ihm eine Karte aus Hamburg erhalten, fragte Esther. Ja, ganz komisch, er hat sich entschuldigt und irgendwie sagen wollen, dass er jetzt einen Weg für sich gefunden habe und dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Ich hab‘ mir natürlich Sorgen gemacht, die Abrechnung mit der Krankenkasse stand ja noch aus! Esther kicherte, du denkst aber auch immer nur an das Eine! Der Mann, mit dem mein Doppelgänger plaudert, kommt mir übrigens bekannt vor. Du kennst den übrigens auch. Pass mal auf, bevor das Essen kommt, stehst du auf und gehst auf die Toilette, ich drehe mich dann etwas zur Seite und schaue zum Fenster raus. Der Prager kennt dich nicht und sein Gesprächspartner sitzt mit dem Rücken zu dir. Sag‘ mir, ob du den Mann beim Vorbeigehen erkennst, aber schau nicht so direkt hin.

      Das verspricht ja ein spannender Abend zu werden, lachte Frau Fuchs, stand auf und ging, sich etwas „frisch machen“. Beim Zurückkommen nickte sie ihrem Mann schon von Weitem zu: Das ist der Immobilienmensch, die fette Visage habe ich mir gemerkt. Frau Doktor suchen ein Haus in Hanglage? Ach, Sie wollen nur mieten? Ja, das ist in Freiburg nicht ganz einfach! Na ja, letztlich ist die Wohnung, die wir über diesen Menschen gefunden haben, für uns genau das Richtige gewesen oder denkst du schon an etwas Größeres, fragte Fuchs? Damit schlug Christoph Fuchs ein Thema an, das ihm, bevor er seinen ehemaligen Patienten im Lokal entdeckt hatte, die ganze Zeit schon durch den Kopf gegangen und nur durch das Auftauchen Pragers kurz in den Hintergrund geraten war.

      Also, bevor du mir erzählst, warum wir heute hier ganz gegen unsere Gewohnheit im Seerestaurant sitzen und auf unsere Bestellung warten, muss ich mich zwischen Pest und Cholera entscheiden. Was meinst du? Ich kann hier nicht sitzen und so tun, als ob ich den Prager nicht gesehen hätte, außerdem bin ich neugierig. Was macht der jetzt in Freiburg? Christoph Fuchs gab sich selbst die Antwort auf seine Frage: Aber klar, der will sein Haus verkaufen, darum sitzt er mit einem Immobilienmakler hier. Seine Frau besaß ja eine Villa in Littenweiler, ein Haus in Aussichtslage, mindestens eine Million wert. Er hat mich mal dorthin eingeladen, bin aber nicht hingefahren, das wäre mir zu nahe gewesen. War Prager nicht Lehrer an einem Freiburger Gymnasium? Ja, Deutsch und Geschichte am Friedrichgymnasium in der Jacobistraße. Er hat mir einmal von einem Gespräch mit seinem Direktor erzählt. Der hatte ihm nach dem Tod seiner Frau eine Auszeit vorgeschlagen. Villa und das Geld kamen ja von seiner Frau, einer geborenen Reitzenstein. Der alte Reitzenstein war Landgerichtspräsident oder so. Vielleicht sollte ich doch kurz mal rübergehen und guten Tag sagen, was meinst du? Ja, mach das, dann hast du die Initiative ergriffen. Sich jetzt weg zu ducken ist keine Alternative, Herr Doktor!

      Christoph Fuchs wandte sich um. Die beiden Herren am Tisch schräg gegenüber sprachen miteinander. So weit man es von außen beurteilen konnte, waren beide in bestem Einvernehmen. Jetzt werden sie die Gläser erheben und auf ihre gerade getroffene Abmachung trinken, dachte Fuchs und genau das trat ein.

      Fuchs erhob sich und ging auf den Nachbartisch zu. Als er dicht vor den beiden Herren stehen blieb, hoben beide gleichzeitig den Kopf und schauten ihn fragend an. In Pragers Gesicht zeigte sich kein Wiedererkennen. Grüß‘ Sie, Herr Prager, sagte Christoph Fuchs betont freundlich. Kennen Sie mich noch? Ich bin Dr. Fuchs, wir hatten vor einiger Zeit das Vergnügen. Ach, Herr Doktor, entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gleich erkannt. Ein gutes Zeichen, lachte Fuchs, und dachte gleichzeitig an das Gegenteil. Wie geht es Ihnen, Herr Prager? Ja, danke der Nachfrage.