Idee, man könnte in einem Spessartkaff auf dem Schulsportplatz in einem Zelt liegen, aber so allmählich kam die Erinnerung zurück. Da waren Stimmen, leise Stimmen, und das unverkennbare Brabbeln eines großen Mercedes. Hippie saß inzwischen kerzengerade auf meiner Brust und machte wieder dumpf Wuff.
»Mach doch mal aus«, hörte ich eine Stimme flüstern, dann ging der Motor aus. Jemand stieg aus dem Wagen. Mit einem satten Plopp fiel die Wagentür ins Schloss, was mich darin bestätigte, dass es ein Mercedes sein musste. Schritte kamen näher.
»Ich hab den ganzen Abend versucht, dich anzurufen«, sagte die eine Stimme, und ich erkannte sie als die Stimme des Hausmeisters. »Da, schau’s dir an, da steht's, mittendrin. Jetzt mach was!«
Eine unangenehme Stimme antwortete, hoch und weich, sie erzeugte in meiner Phantasie das Bild eines kleinen, fetten Mannes mit undefinierbarem Händedruck:
»Mach was!« antwortete sie. »Mach was! Ich bin Bürgermeister und kein Rausschmeißer. Ich hab’s dir doch schon am Telefon gesagt, Kurt, den kann nur die Polizei rausschmeißen.«
Wuff wollte Hippie machen, aber ich rang ihn auf die Iso-Matte nieder und hielt ihm die Schnauze zu, so dass nur noch ein Pff herauskam.
Der Hausmeister jammerte: »Versteh doch, Werner, das ist ein Lehrer. Ich kann doch einen neuen Lehrer nicht mit der Polizei vom Schulgelände holen lassen.«
»Schöne Lehrer habt ihr, muss man sich nicht wundern, dass aus unseren Kindern nichts wird«, muffelte die Stimme, die wohl zum Bürgermeister von Waldweibersbach gehörte. »Und das Ding da ist wohl sein Auto, was?«
Sie entfernten sich jetzt wieder, liefen die Einfahrt runter, wo ich mein Goggo geparkt hatte. Endlich konnte ich Hippie wieder loslassen. Wuff machte der dankbar. Ich musste mich anstrengen, um die Unterhaltung der beiden noch zu verstehen. Sie redeten über meinen Wagen. Irgendein Albert aus dem Dorf musste wohl so ein Coupe gehabt haben, und der Bürgermeister erzählte mit seifiger Stimme von den Zeiten, als dieser Albert deswegen der Traum aller Dorfschönen gewesen sei.
»Du glaubst gar nicht, Kurt, was der Albert mit seinen Schnallen alles in dem Wägelchen veranstaltet hat!«
»Sag du mir lieber mal«, zischte der Hausmeister hörbar ungeduldig, »was ich mit dem Knaben da auf dem Sportplatz veranstalten soll.«
Sie kamen noch mal den Weg hoch, die Tür des Mercedes wurde wieder geöffnet. »Da machste heut gar nichts mehr, Kurt. Morgen früh, bevor der ganze Ort Bescheid weiß, komm ich her und regel die Sach.«
Dann brabbelte der Wagen den Weg bis zur Einfahrt runter und verschwand. Wuff machte Hippie.
Als er mich das zweite Mal aus dem Schlaf riß, hatte die Morgensonne das Innere meiner Nylonhütte schon blutrot ausgemalt. Der Hund hockte jaulend vor dem Zeltausgang, er trippelte von einem Bein aufs andere, viel hätte nicht gefehlt, und er hätte den Reißverschluß mit den Zähnen geöffnet. Dieser verrückte Hund hatte es in drei Lebensjahren noch nicht gelernt, sein Morgengeschäft statt um halb sieben erst um acht oder später zu verrichten. Da machte er keine Ausnahmen. Wenn ich in Berlin zur Arbeit in die Verlagsauslieferung musste, war halb sieben in Ordnung. Ein kleiner Spaziergang in aller Herrgottsfrühe im hastig übergezogenen Jogginganzug, vielleicht war’s ja sogar gesund. Aber Hippie kannte keine Samstage und Sonntage, ihm waren nicht mal die seltenen Morgen heilig, an denen ich mit Christine im Arm erwachte. »Dein Scheißhund muss raus«, sagte sie, wenn das unumgängliche Kratzen an der Tür begann, und das war zuverlässig das Ende aller Zärtlichkeiten.
Mein Scheißhund muss raus, dachte ich sofort, noch bevor ich mich richtig orientiert hatte, dann verstand ich zum zweiten Mal in dieser Nacht, wo ich war, und zog ihm den Reißverschluß auf. Wie ein Blitz schoß er raus, ich sah ihm hinterher. Das Gras war feucht vom Tau, die Morgensonne überglitzerte alles, kein Mensch war zu sehen. Hippie saß mitten auf der Tartanbahn, die hier Tarzanbahn hieß, und produzierte einen Haufen. »Du Schweinehund«, schimpfte ich mit ihm, obwohl ich wusste, dass er, durch und durch ein Stadthund, nie lernen würde, sein Häufchen nicht mitten auf die Straße oder den Bürgersteig zu setzen. »Wiese, Gebüsch, Sand, und du musst mitten auf die Bahn kacken!« Seine Ohren, Lefzen, Schwanz, alles schlappte schuldbewußt nach unten. Wieder was falsch gemacht, das wusste er, nur verstand er nie, was es war.
Ich zog mich an, so gut es ging. Meine Turnschuhe hatte ich vor dem Zelt vergessen, sie waren feucht und kalt. Unten im Dorf hatte ich gestern eine Bäckerei gesehen, hoffte nur, dass sie schon geöffnet hatte.
Ich drückte die Tür zu dem Laden auf, stellte mich als achter in eine Reihe von sieben. »Moin«, sagte ich müde, das war der erste Fehlgriff des Tages. Sieben hellwache Gesichter drehten sich stumm zu mir, nur leichtes, kaum merkliches Zucken und Nicken deuteten an, dass man zumindest von meiner Existenz Notiz genommen hatte.
»Grüß Gott!« sagte schließlich die Bäckersfrau sehr bestimmt, ich nickte verschämt. Als ich endlich an der Reihe war, beging ich den zweiten Fehler des Morgens. »Vier Schrippen«, sagte ich aus alter Berliner Gewohnheit, korrigierte mich aber blitzschnell: »Brötchen, meine ich.«
»Stöllsche oder Runde?«
Auch wenn ich inzwischen stolz drauf sein kann, zum privilegierten Kreis der Waldweibersbacher Stöllchen-Bezieher zu gehören, so waren mir, wie ich zugeben muss, damals die Vorzüge dieser Backwaren völlig unbekannt. Ich verlangte also einfach mal Runde.
»Gottlob Runde«, sagte die Bäckersfrau. »Stöllsche sind ja schon fast wieder aus, gell. Aber Runde hamme immer.« Sie packte mir vier Brötchen in die Tüte, ließ mich, grinsend, nicht aus den Augen. »Mir sind der neue Lehrer, gell?«
Ich spürte, wie sich in der Schlange hinter mir die Ohren spitzten. Nur ja nichts verpassen.
»Hamme noch kein Platz zum Wohnen gefunden, oder?« »Ne«, sagte ich, »scheint ja ein richtiges Problem hier zu sein- wissen Sie nicht vielleicht was?«
»Leider net«, sagte sie bedauernd, »macht einszwanzig.«
Ich verließ den Laden, band Hippie draußen los.
An der Schule sah ich schon von weitem den landmanngrünen Mercedes in der Einfahrt zum Sportplatz stehen. Wuff machte Hippie. Ein untersetzter Mann mit schlecht passendem Anzug stand mit dem Rücken zu uns vor meinem Zelt, rüttelte vorsichtig an der Zeltstange und redete mit hoher Stimme auf den geschlossenen Reißverschluß ein:
»Hallo, hören Sie! Guten Morgen! Ich würde gerne mal ein paar Worte mit Ihnen reden. Hallo, Herr Weber, hallo!« »Fehlt Ihnen was – Herr Bürgermeister?« fragte ich von hinten.
Er fuhr erschrocken herum, eine leichte Röte flackerte über sein Gesicht, dann plusterte er sich wichtig auf, Brust raus, Bauch rein, rückte sein zu enges Jackett zurecht. »Herr Weber, ich bin ...«
Er brachte den Satz nicht zu Ende, denn Hippie sprang dem Mann, was bei dessen Statur kein großes Problem war, bis in Augenhöhe, um ihm dann quer übers Gesicht zu schlecken. »Ich bin der Bürgermeister Werner Hofschmied«, brachte der Mann schließlich doch raus, als er sich erholt hatte.
»Freut mich sehr«, sagte ich, »ich bin der neue Lehrer, darf ich Sie zu einem Salamibrötchenfrühstück einladen?«
Der Bürgermeister schüttelte den Kopf, einen Moment lang war er wie weggetreten, anscheinend legte er sich eine längere Rede zurecht. »Warum nur, Herr Weber, sind Sie denn gestern nicht, anbetracht Ihrer Ankunft, gleich zu mir gekommen? Sehen Sie, in einer kleinen Dorfgemeinschaft lassen sich doch alle gemeinschaftlichen Probleme, also, ich meine, man kann doch darüber sprechen. Da brauchen wir doch keine solchen« – er deutete auf das Zelt -, »also, wir müssen da nicht provozieren, oder?«
»Sie werden’s nicht glauben«, sagte ich, »aber nachdem ich erst im Ochsen war – Betriebsurlaub bis Ende September -, dann im Bergblick – alles voll mit Urlaubern -, bin ich sogar aufs Rathaus gegangen. Aber Ihre Gemeindedame meinte, Sie seien nicht zu sprechen. Und ich musste irgendwo schlafen, das sehen Sie doch wohl ein, Herr Bürgermeister.«
»Schon gut, vergessen wir