Reinhold Ziegler

Überall zu Hause, nirgendwo daheim


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hinten hinein.«

      Das, was er mit dort hinten meinte, war kein Haus, es waren allenfalls die Reste eines Hauses, angebaut an den Kuhstall, mit seiner hinteren Ecke versteckt im Dunkel hinter dem Ge-

      räteschuppen, der offensichtlich später irgendwann einmal davorgestellt worden war.

      Ich muss wohl ziemlich entsetzt stehengeblieben sein, als mir schlagartig klar wurde, wo ich, durch den einmaligen Akt christlicher Nächstenliebe, meine neue Heimat finden sollte, jedenfalls zog mich der Bürgermeister geschäftig am Ärmel weiter. Wir gingen auf den Eingang des Hauses zu, nur ein schmaler Trampelpfad schlängelte sich zwischen rostigen Ge­räten aller Art der schiefen Eingangstür entgegen. Ich war schon beim Anblick des Hauses kurz davor, in Panik zu ver­fallen. Der Firstbalken hing durch, und mehrere Fensterstürze waren in der Mitte gesprungen, im Untergeschoß hingen zer­splitterte Fensterflügel schief in den Angeln, und nur der Anblick eines ehemals altrosa-weiß lackierten Opel-Olympia- Rekord-Caravan-Autowracks mitten im Schrottberg vor dem Haus konnte mich minimal mit der Gegend versöhnen.

      Ich bewegte mich trotzdem nicht weiter. »Ist das Ihr Ernst?« fragte ich den Bürgermeister, aber er versuchte mich immer weiter auf das Haus zuzuziehen. Ich hasse es, wenn mich je­mand rumzerrt, also bockte ich direkt vor der offenstehenden Tür des Kellers, aus der ein Geruch wie aus einer schlecht verschlossenen Grabkammer drang.

      Der Bürgermeister ließ von mir ab und brüllte jetzt zu einem Dachfenster hoch: »He, ist da jemand?«

      Es dauerte eine Weile, dann tauchte hinter der Scheibe ein Gesicht auf, aber erst als das dreckige Fenster geöffnet wurde, erkannte ich ihn, es war der halb verrückte Alte aus der Post.

      »Grüß dich, Opa Alfred!« rief der Bürgermeister hoch. »Du hast uns doch mal einen Zettel reingeworfen, dass du ein Zim­mer vermieten willst, weißte das noch?«

      »Was hab ich?«

      »Ein Zimmer zum Vermieten!« »Wenn ihr die Miete zahlt, könnt ihr mir Asylanten schicken, hab ich gesagt, Hofschmied!«

      Erschrocken drehte sich der Bürgermeister zu mir. »Hören Sie gar nicht hin, er weiß manchmal nicht mehr so recht, was er redet.« Und dann wieder hoch: »Asylanten hammer keine, Opa Alfred, aber der junge Mann hier, das ist der neue Lehrer. Dem kannste doch auch vermieten.«

      »Kann der auch putzen, den Hof kehren und Holz ma­chen?«

      »Das macht der alles, Opa«, und zu mir: »Sie wissen doch, wie man fegt und Holz spaltet, oder?«

      »Das ist nicht Ihr Ernst, oder?« fragte ich noch einmal den Bürgermeister, und nachdem der entschlossen nickte, drehte ich mich wortlos um, um die Szene zu verlassen. Er stellte sich mir in den Weg.

      »Bitte, Herr Weber, bitte. Ganz wie Sie wünschen. Aber wir haben getan, was wir konnten. Wir sind eine Gemeindever­waltung und kein Maklerbüro, schon gar nicht eines für über­zogene Komfortansprüche. Aber Sie sind ja ein freier Mann und können machen, was Sie wollen. Nur – bis heute abend ist dieses Zelt vom Fußballplatz verschwunden, sonst gebe ich mal unseren Aktiven einen Tip, die zeigen Ihnen dann, wofür wir hier ein Sportfeld benutzen – alles klar?«

      Mit dieser für seine Verhältnisse tatsächlich ungewöhnlich kla­ren Aussage machte Werner Hofschmied kehrt, stieg mühsam in seinen Wagen und fuhr vom Hof. Ich blieb alleine zu­rück.

      Wie hundertmal danach stand sie auch bei diesem ersten Mal plötzlich hinter mir, aufgetaucht aus dem Nichts.

      »Und jetzt?« fragte sie. Ich denke, dass es diese Stimme war, die mich damals sofort packte, eine rauchige, junge Frauen­stimme, aber doch viel zu alt, viel zu erfahren, zu verrucht für

      das Gesicht, aus dem sie kam. In diesem Gesicht ihre Augen, zu jung, zu naiv und kindlich, schwarze Augen, groß und offen, bereit, alles zu entdecken, unruhig und staunend. Das Mäd­chen, die Frau, das Kind – das Wesen, zu dem all das gehörte, stand neben mir, schaute hoch zu mir, offen und frech, pak- kend, krallend, festhaltend zugleich. Da war ein Sog in ihren Augen, ein Sog in ihrer Stimme. Wie alt sie wohl war? Sie brachte mich mit ihren zwei Worten »Und jetzt?« völlig aus der Fassung, ich versteinerte bei dieser ersten Begegnung unter ihrer Macht, gegen die ich damals keine Chance hatte.

      »Ich heiße Luise«, sagte sie dann. Und, als hätte ich das, was mir im Kopf herumging, tatsächlich gefragt und nicht nur ge­dacht, antwortete sie: »Ich bin sechzehn. Wenn ich siebzehn werde, machen wir ein schönes Fest.«

      Dann beugte sie sich zu Hippie runter, der anscheinend ge­nauso gebannt war wie ich, jedenfalls hatte er sie weder geküsst noch einen Muckser von sich gegeben. Sie kraulte ihm kurz das Fell und ließ ihn dann von der Leine. »Der braucht keine Leine mehr, der weiß jetzt, wo er hingehört.« Dann drehte sie sich wieder zu mir. »Komm«, sagte sie, »wir gehen jetzt mal zum Opa rein.«

      Sie ging voran, nahm mich bei der Hand wie einen Schulbu­ben, aber ich wäre ihr auf jeden Fall gefolgt. Wir schlängelten uns durch das Gerümpel zu dem alten Haus, sie drückte die Tür auf, ein modriger, kühler Geruch schlug uns entgegen. »Ich bin’s, Opa«, rief sie die alte Treppe hoch und zeigte mir dann, ohne auf Antwort zu warten, den ersten Raum auf der rechten Seite. »Hier war früher die Stube.«

      Mit meinen sonnenblinden Augen konnte ich im Halbdunkel nichts erkennen, sah nur ein heilloses Durcheinander, aufeinander getürmte Möbel und Geräte, alles graufarbig einge­staubt, ein monochromes Zerfallskunstwerk. Sie zog mich mitten rein.

      »Der Tisch ist noch der alte, den kannst du nehmen. Der Ofen ist auch noch gut, den machen wir sauber und bessern die Ausmauerung aus, dann ist der wie neu. Und siehst du die Tür da, das ist die Küche. Da können wir nur jetzt nicht rein, weil der Papa seinen ganzen Dünger da drin liegen hat – aber ich kann dir beim Ausräumen helfen.«

      Und dann plötzlich, als habe ihre Vertrautheit sie selber über­rascht: »Ich kann doch du sagen, oder?«

      Ich nickte nur, hielt sie noch immer bei der Hand und suchte im Chaos meiner Gedanken vergeblich nach etwas, aus dem ich einen Satz oder wenigstens ein Wort formen konnte.

      Sie war schon wieder woanders. »Und dann ist hier unten noch ein Schlafzimmer, das ist aber nicht mehr so gut, und ein Bad, hinten an der Küche. Und oben sind auch noch drei Zimmer – komm mit hoch!

      Ich bin’s, Opa«, rief sie wieder nach oben.

      Der Alte saß bewegungslos auf einem schmuddeligen Leder­sessel in einem der oberen Zimmer, die Tür stand offen, sein Blick war stier auf uns gerichtet.

      »Lassen Sie sofort meine Enkelin los«, blaffte er, noch bevor wir ganz oben waren. Erst jetzt merkte ich, dass sie noch immer meine Hand hielt, wollte sie zurückziehen, aber sie hielt mich fest.

      »Ich bring dir deinen neuen Mieter«, sagte sie zu ihm.

      Ich erwartete einen neuen Blaffer, aber erstaunlicherweise blieb er ganz ruhig. Was seine Enkelin Luise sagte, schien für ihn unangreifbar zu sein, er machte nicht einmal mehr einen matten Versuch, die Tatsache eines neuen Mieters anzuzwei­feln.

      »Aber gehascht wird bei mir nicht, und keine Sauereien. Das ist mein Haus, das kann ich beweisen, und ich bestimme hier.« Und zu Luise: »Macht der sein Klo sauber? Und schreit der nachts auch nicht?«

      »Ist schon gut, Opa«, sagte sie liebevoll zu ihm, da gab er Ruhe. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und beobachtete uns.

      »Opa, hör mal zu, der Lehrer will das ganze untere Stockwerk, wir richten das wieder her – wieviel Miete willst du dafür?« »Mindestens tausend Mark!« sagte er gierig.

      Das war für mich wie ein Schwall kalten Wassers, der mich endlich aus dieser irrealen Theatervorstellung erlöste. Ich ließ die Hand des fremden Mädchens namens Luise los, drehte mich um, stolperte die Treppe runter, raus in den Hof. Die Hitze schlug mir dumpf entgegen. Ich suchte Hippie, ent­deckte ihn dann vor der Hundehütte. In Spielhaltung, den Hintern weit hochgereckt und wild mit dem Schwanz wedelnd, versuchte er Agathe aus ihrem Haus zu locken.

      Wieder war sie plötzlich hinter mir. »Ich will, dass