Reinhold Ziegler

Überall zu Hause, nirgendwo daheim


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drauf und fuhren es zusammen zur Müllkippe. Es war das erste Mal, dass ich auf einem Traktor mitfahren durfte, Lui merkte es und fühlte sich stolz und über­legen.

      Das größte Problem aber war der verdammte Dünger in der Küche. Ich hab sie nicht gezählt, aber es müssen Hunderte von Säcken gewesen sen. Vierzig Kilo pro Sack, Heiner kam mir immer lächelnd mit der Last auf der Schulter entgegen, wenn ich schnaufend und dem Ende nahe zurück wankte, um den nächsten Sack auf meinen geschundenen Städterkörper zu la­den. Der Nitrophoska-Gestank in der Küche blieb mir ewig erhalten, in den ersten Wochen meinte ich, ihn auf jedem Bröt­chen, in jedem Glas Bier zu schmecken, später nahm ich ihn nur noch wahr, wenn ich von draußen kam und meine Riech­zellen sich resensibilisiert hatten. Wer immer mich besuchen kam, rümpfte die Nase.

      Der Alte im Dachgeschoß war nicht bereit, auch nur eine müde Mark für sein Haus auszugeben. Ich brauchte zwei neue Fenster und musste den Türsturz austauschen lassen. Aber Lui reagierte schnell, informierte ihren Vater, und der sprang kommentarlos in die Bresche. Leute kamen vorbei, irgend­welche Freunde und Handwerker aus dem Dorf, und ein paar Tage später waren die Sachen in Ordnung.

      Immerhin schafften wir es bis zum Montagmorgen der Leh­rerkonferenz, die drei unteren Räume zumindest auszuräu­men und zum Tapezieren vorzubereiten. Leer waren sie größer, als es am Anfang ausgesehen hatte, ich fing an, mein Leben in sie hineinzudenken, und begann mein Häuschen zu mögen.

      Am Morgen vor der Lehrerkonferenz war ich von Aufregung wie durchgeschüttelt. Ich hatte seit Jahren keine Schule mehr von innen gesehen. Nur mühsam konnte ich mich zwingen, zwischen den fremden Kollegen auf einem der klebrigen roten Kunstledersessel still zu sitzen. Die vier Tische des Lehrerzim­mers waren zu einer langen Tafel zusammengeschoben, am Kopfende thronte Rektor Ludwig Klein, ein unscheinbares, profilloses, faltiges Wesen kurz vor der Pensionierung, den niemand ernst zu nehmen schien, der aber beständig bemüht war, seine vermeintliche Wichtigkeit und Kompetenz durch langwierige Erläuterungen zu untermauern.

      Sein Versuch, mich »in aller Kürze« den Kollegen vorzustel­len, verlor sich in umständlichen Erklärungen, warum das Kollegium überhaupt vergrößert werden musste, so, als hätte er sich zu entschuldigen, dem eingeschworenen Kreis einen Fremdkörper wie mich hinzufügen zu müssen. Dann verirrte er sich in Geschichten aus der Schulgeschichte, schwelgte in Erinnerungen an damals, früher und »vor Ihrer Zeit, verehrte junge Kolleginnen und Kollegen«, bis ihn eine dieser jungen Kolleginnen mit einem etwas schnippischen »Wollten Sie uns nicht eigentlich Herrn Weber vorstellen?« wieder auf den Bo­den der Gegenwart zurückholte.

      »Richtig, unser Herr Weber – vielleicht, wenn Sie selber ein paar Worte zu Ihrer Vorstellung sagen wollen?«

      »Mein Name ist Karl-Dietrich Weber«, sagte ich knapp, »ich habe in München studiert, war dann auf der Warteliste und habe seitdem drei Jahre in Berlin gelebt – noch Fragen?« Ein junger Typ in Jeans, etwa mein Alter – ich hatte mich neben ihn gesetzt, weil er mir von allen der sympathischste zu sein schien -, fragte halblaut: »Steht dein Zelt immer noch auf dem Sportplatz?«

      Ich grinste ihn wortlos an.

      Die sogenannte Konferenz zog sich in die Länge. Nach über zwei Stunden stand endlich fest, dass »unserem Neuen« eine dritte Klasse anvertraut werden würde. Das war im Grunde alles, was ich wissen wollte. Der Typ neben mir fand im Verlauf der rektorlichen Verirrungen genügend Zeit, sich mir als Rai­ner Klee vorzustellen und mich aufs gemeinsame Lehrerbier nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung aufmerksam zu machen.

      Endlich saßen wir im Ochsen, Rektor Klein hatte sich wegen dringender anderer Verpflichtungen entschuldigt, und nie­mand schien darüber besonders traurig zu sein. Ich hockte hinter meinem Weizenbier und lauschte. Feriengeschichten, Dorfgeschichten, Schulgeschichten, Maulzerfetzen über Rek­tor, Schulrat und Pfarrer, dann waren die Eltern dran – nach ein paar Versuchen gab ich es auf, von Rainer irgendwelche Hintergründe zu erfahren. »Zwanzig Jahre Waldweibers­bach«, sagte er, »dann verstehst du alles!«

      »Und von Ihnen hört man«, sagte plötzlich eine der älteren Kolleginnen, »Sie haben Quartier bei Opa Alfred genom­men?«

      Schlagartig verstummte das Gespräch, alle Gesichter drehten sich zu mir.

      »Es wurde mir sozusagen bürgermeisterlicherseits verord­net.«

      »Und? Schon viel Spaß gehabt?« Alle sahen mich in spötti­scher Erwartung an.

      »Was soll sein?« fragte ich. »Der Alte hat sie nicht mehr alle. Hat Verkalkung oder Alzheimer, man muss ihm immer wieder sagen, wer man ist, und einfach nicht hinhören, was er so absondert, dann läuft alles bestens.«

      »Na, viel Glück «, meinte jemand und fragte dann in die Run­de: »Was ist eigentlich mit dem Rest der Familie?«

      Nun waren plötzlich die Reusten zum Thema geworden, die alte Geschichte von Martha und Adolf kam wieder hoch, ei­nige der Älteren hatten auch Heiner und Luise in der Schule gehabt, halfen den anderen auf die Sprünge. »Weißt doch, der Heiner, der jetzt beim FCW den Tormann macht, so ’n bisschen Stärkerer. Und die Luise war so ’ne merkwürdige, dunkle, die kam ganz nach ihrer Mutter, sie ist später auf die Realschule.« – »Ach die, ja klar, die immer mit der durchgedrehten Martina vom Bürgermeister zusammenhing. Die konnte ’ne ganze Klasse aufscheuchen, wenn sie mit ihrem komischen Gerede anfing. Die hab ich übrigens neulich mal gesehen, ist ein hüb­sches Ding geworden, vierzehn, fünfzehn muss die doch jetzt auch schon sein, oder?«

      »Siebzehn«, sagte ich und wusste gar nicht, warum ich log. Einen Tag später dann, Dienstag morgen, stand ich vor meiner neuen Klasse. Erwartungsvolle Gesichter von achtundzwanzig Achtjährigen, denen ich groß an die Tafel schrieb: »We­ber«.

      Ich musste meine Tafelschrift wieder in den Griff kriegen, mein altes Problem, x-mal gerügt von Seminarleitern und Schulrä­ten, ein Vorbild sollte ich sein, und mein Tafelanschrieb sah aus wie das verwahrloste Heft des schlechtesten Schülers. Ein kleiner Steppke meldete sich. »Meine Mama hat gesagt, dass Sie in einem Zelt wohnen, stimmt das?«

      »Nein«, sagte ich, »ich wohne in der Hauptstraße 113, im Reustenhof, aber ich habe die erste Nacht in einem Zelt geschla­fen, weil ich aus Berlin gekommen bin und nirgendwo ein Zimmer gefunden habe, ist das schlimm?«

      Keine Antwort, nur allgemeines Kichern.

      »Wer von euch hat schon einmal in einem Zelt geschlafen?« fragte ich.

      Gott sei Dank gingen ein paar Finger hoch, ich ließ die Zelt­schläfer erzählen. Von den Geräuschen berichteten sie, dem

      Wind und dem Regen, dass einmal Wasser oben reingelaufen sei und dass sie manchmal Angst gehabt hätten, weil man ein Zelt nicht absperren kann.

      Andere rührten sich jetzt langsam mit ihren Urlaubserinne­rungen, einer trumpfte mit Kenia auf, neun Kinder berichte­ten, dass sie noch nie im Urlaub waren, weil sie Viecher daheim haben, die man nicht alleine lassen kann.

      Einen kleinen Jungen konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, so breit redete er den fränkisch-hessischen Dialekt. Ich versuchte ihm zu erklären, warum ich immer wieder fragen musste, was er gesagt hätte, schließlich sagte ich einen Satz auf englisch und fragte dann, wer mich verstanden hätte. Alle schüttelten kichernd den Kopf.

      »Das war Englisch«, sagte ich. »Man kann eine andere Sprache nur mit dem sprechen, der sie auch versteht. Und wenn ihr euren Dialekt sprecht, dann kann ich euch nicht verstehen, weil ich ihn nie gelernt habe.«

      Wieder kicherten alle.

      »Kartoffeln heiße bei uns fei Krombeern«, rief ein Mädchen, »nur dass Sie’s glei wisse!«

      »Gut«, sagte ich, »das merke ich mir. Und für euch habe ich auch ein Wort: Schrippe. Das ist aus Berlin und heißt Bröt­chen.«

      Kennzeichen der Klasse war wohl ihr Kichern, stellte ich fest.

      Ich machte mir einen Sitzplan, schrieb Schülerlisten, versuchte die Kinder auswendig mit ihrem Namen aufzurufen und ver­wechselte, zum kichernden Vergnügen der Kinder, immer wieder Eva mit Christine und Matthias