Reinhold Ziegler

Überall zu Hause, nirgendwo daheim


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los!« Dann: »Schießen, schießen, schießen!«, danach war wie­der alles still, ich drehte mich auf die Seite, um endlich Ruhe zu finden, aber da ging es erst richtig los. Jetzt grummelte und brabbelte er nicht mehr, er schrie, schrie wie am Spieß, wie einer, der Schaum vor dem Mund bekommt, dem die Augen raustreten. »Raus da, raus da, raus da! Ihr Schweine. Macht, dass ihr da rauskommt!«

      Er wurde immer lauter, seine Stimme schnappte über, es klang, als triebe er eine Herde vor sich her, immer wieder »Alle raus da«, bis nichts mehr zu verstehen war, nur noch ein bestialisches, furchterregendes Brüllen, das all meinen Mut, rüberzugehen und ihn zu beruhigen, im Keim erstickte. Ich dachte an sein Gewehr und zog mir die Decke über den Kopf, bereit abzuwarten, bis er von alleine aufhören würde, und wenn es erst am Morgen wäre.

      Aber dann wurde unten die Tür aufgerissen. »Opa, Opa!« Es war Lui. Sie stürmte die Treppe hoch, anscheinend schüttelte sie ihn. Drei-, vier-, fünfmal klatschte es, dann war plötzlich

      Ruhe. Heftiges Atmen nur noch, Schluchzen, Weinen, Wim­mern, dazu ihre Stimme.

      »Ist gut, Opa, war nur ein Traum, schläfste wieder ein. Nimmste noch ’nen Schluck Bier und schläfst wieder. Ist alles in Ordnung, niemand will dich holen, kein Mensch. Trinkst noch ein Bier und schläfst wieder.«

      Das Wimmern wurde leiser. Sie redete auf ihn ein, bis sein Schluchzen in gleichmäßiges Schnarchen übergegangen war. Dann hörte ich ihre Schritte über die knarzenden Bodendie­len. Sie ging aus seinem Raum, zog leise die Tür zu, schlich über den Gang, blieb vor meiner Tür stehen. Nach dem Ge­brüll der letzten Viertelstunde war alles unwirklich ruhig. Ich spürte sie mehr vor meiner Tür, als dass ich sie hörte, wartete, dachte schließlich, sie sei vielleicht doch schon fort, glaubte dann wieder ihren Atem zu hören, vielleicht war es auch mei­ner, oder mein Herzschlag.

      Zweimal holte ich Luft und hielt mich doch selbst zurück, beim dritten Mal wollte ich mich nicht mehr wehren. »Ich bin wach«, sagte ich leise.

      Die blankgewetzte Messingklinke senkte sich, dann quietschte die Tür. Sie stand im Raum, barfuß, nur mit einem dünnen Nachthemd über dem Körper. »Hast du alles mitgekriegt?« fragte sie, und ohne eine Antwort abzuwarten: »Tut mir leid, er hat das ab und zu – hattest du Angst?«

      »Es ist nicht gerade das, was ich mir nachts um eins wün­sche.«

      »Es ist nicht oft«, sagte sie.

      »Ich denke, es ist vielleicht besser, ich suche mir woanders eine Wohnung. Ohne Schüsse und Schreie. Einfach ’ne kleine Woh­nung mit ’ner Tür, die ich absperren kann.«

      Sie sagte nichts, stand bewegungslos im Dunkel, ich konnte nur ihre Umrisse gegen den matten Lichtschein aus dem Gang

      erkennen. Ich spürte, dass sie versuchte, mich zu bannen, war froh, ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.

      »Rutsch mal, mir ist kalt«, sagte sie dann plötzlich und war auch schon neben mir unter der Decke. »Aber keine unan­ständigen Sachen, sonst gehe ich gleich wieder!«

      Sie lag ausgestreckt neben mir, ich spürte die Wärmestrahlung ihres Körpers, roch ihre Haut. Aber nur eine winzige Stelle der Berührung gab es zwischen uns, ihr Knie war es, es lag ganz leicht an meinem Oberschenkel, es fühlte sich an, als zeichne sie mich mit einem glühenden Eisen.

      »Bleib doch hier«, sagte sie dann leise, »ich hab gehört, es geht nicht mehr lange.«

      »Was meinst du?«

      »Mit dem Opa. Es geht wohl nicht mehr sehr lange. Ich habe die Friedhofsglocke gehört, sie läutete noch vor den Weih­nachtsglocken.«

      Ihre Stimme klang fremd, ich hatte mich längst an ihre rau­chige Stimme gewöhnt, an diese Worte aus Kehle und Bauch, aber dieser letzte Satz kam noch von viel weiter weg, aus einer fremden Welt. Ich sagte nichts, und es dauerte, bis sie weiter­sprach.

      »Sei einfach nett mit ihm, sprich mit ihm, lob ihn, iß mit ihm, erzähl ihm was. Er wird nie bitte und danke sagen, er hat’s nie gemacht und wird’s nicht mehr lernen, aber manchmal lacht er. Und er schläft dann besser und hat weniger Angst, ver­stehst du?«

      »Vielleicht schießt er dann auch nicht mehr auf mich«, sagte ich, »das würde mir schon genügen.«

      »Ich kann ihm die Patronen wegnehmen, wenn du willst. Bleibst du hier wohnen, wenn ich ihm die Patronen wegneh­me?«

      »Nimm sie ihm ab, und vergiss die eine im Lauf nicht, dann sehen wir weiter.« »Gut«, sagte sie und schlüpfte so schnell, wie sie gekommen war, wieder aus dem Bett. Sie blieb im Dunkeln vor mir ste­hen.

      »Ich habe gehört, du begehrst mich?« sagte sie nach einer langen Pause und fragte, nachdem ich darauf keine Antwort gab: »Willst du mich anfassen?«

      »Nein«, sagte ich scharf, bereute im nächsten Moment, dass und wie ich es gesagt hatte.

      »Gut, dann gehe ich jetzt, schlaf gut.«

      Natürlich hinterlässt eine solche Nacht Spuren, vor allem bei mir. Mit viel Mühe schleppte ich mich am Morgen raus zu dem alten Emaillewaschbecken.

      Schnarchen des Alten klang laut und friedlich durch die Tür. Ich besah mir mein Gesicht im Spiegel, ein kleiner roter Punkt auf der Backe und eine leichte Schwellung waren alles, was man von dem Attentat noch sehen konnte. Ich ließ den Was­serhahn laufen, bis die warme Brühe aus dem Rohr abgelaufen war, wartete, bis eisiges Wasser kam, und schaufelte es mir händeweise ins Gesicht.

      Unten im Hof herrschte schon rege Betriebsamkeit. Lui stapfte in Gummistiefeln hinüber in den Stall, hinter ihr her die beiden Hunde. Hippie hatte in der Nacht zum ersten Mal drau­ßen geschlafen, seit dem Schuss gestern Mittag weigerte er sich, das Haus noch einmal zu betreten.

      »Morgen, Lui«, rief ich in den Stall, »ich bin spät dran, bis heute Mittag!« Ich wollte nicht mit ihr reden, nicht morgens um sieben, wenn meine Welt noch in Unordnung und meine Ele­fantenhaut gegen Gutes, Schlechtes, Böses und Ergreifendes noch hauchdünn ist. Hippie, der am ersten Schultag beim Ab­schied noch hinter mir her geheult hatte, machte sich heute schon nicht mal mehr die Mühe, mir bis zum Hoftor zu fol­gen.

      Ich nahm mir auf dem Weg zwei Stöllchen bei der Bäckerei mit.

      »Das war wohl heut Nacht bei euch auf dem Hof, gell?« fragte die Bäckersfrau.

      »Was meinen Sie?« fragte ich doof und ließ sie stehen.

      Ich setzte mich in mein Klassenzimmer, wartete auf meine Schäfchen. »Morgen, Michael.« – »Ich bin aber der Matthias!« – »Morgen, Nicole.« – »Guten Morgen, Herr Weber!« So ging es achtundzwanzigmal, dann war die Klasse komplett. Ich fing gerade an mit organisatorischen Fragen, welche Hefte wofür, welche Farbe für welches Fach, da ging ein Finger hoch. Es war Linda, ein schüchternes, kleines Dorfmädchen, das den gan­zen ersten Tag kein Wort gesagt hatte. Sie stand auf, fragte leise: »Beten wir jetzt nicht mehr?«

      Laut Lohnsteuerkarte bin ich ein evangelischer Christ, noch immer.

      »Willst du morgens beten?«

      »Meine Mutti hat gesagt, wer morgens nicht betet, ist Heide, und der Tag wird eine Sünde.« Sie setzte sich wieder. Alle sahen mich erwartungsvoll an.

      »Wer von euch will denn morgens beten?«

      Fast alle Finger gingen hoch.

      »Gut«, sagte ich, »dann beten wir. Was wollen wir beten?« Schweigen. Dann stand Linda wieder auf. »Frau Bretz hat uns immer aus einem Buch was vorgebetet.«

      Kollegin Bretz, Ende Vierzig, dunkelblauer Faltenrock mit weißer Rüschenbluse, steht vor den Kindern und liest aus dem Gebetbuch vor, das konnte ich mir gut vorstellen. Ich ver­suchte den Kindern zu erklären, dass für mich ein Gebet etwas sehr Persönliches sei, das man nicht aus einem Buch vorlesen könne. Jeder habe andere Freuden und Sorgen, da solle auch jeder etwas anderes mit dem lieben Gott besprechen, fände ich.

      »Dann bete ich für mich«, rief Andre, der dicke Junge, der im Sommer bis Kenia gekommen war. Alle lachten. »Für